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Abtreibungsgegner wollen dein Baby

Der Marsch für's Leben hat immer mehr Mitglieder, die dich davon überzeugen wollen, dass Abtreiben eine Todsünde ist. Auch im Internet weitet sich ihr Einfluss.

Damals wie heute verläuft die Frontlinie zwischen den Anhängern der „Mein Bauch gehört mir“-Bewegung und den christlichen Radikal-Gegnern von Schwangerschaftsabbrüchen. Die ProLife-Bewegung feiert mit rund 4500 Teilnehmern einen Rekord. Ich schätze die Zahlen der Gegendemonstranten auf 200 bis 300. Ausgerechnet in Berlin, das sonst als so aufgeschlossen und liberal gilt, kommt eine besonders große Zahl an Demonstranten zusammen. Die Meisten davon in ihren 20ern. Sie protestieren gegen Abtreibung und das Ende straffreier Schwangerschaftsabbrüche, gegen Sterbehilfe und Gentests an Embryonen. Die steigende Anzahl der Demonstrierenden ist gerade deswegen beachtlich (im letzten Jahr waren es noch 3000—insgesamt gab es acht solcher Märsche. Der erste Marsch fand 2002 statt und seit 2008 marschieren sie jährlich), weil das auch ihren Einfluss generell—und vor allem im Internet reflektiert. Bist du aus Versehen schwanger geworden und denkst darüber nach abzutreiben, dann ist oft das erste, was du machst, über das Thema im Internet zu recherchieren. Einer deiner ersten Suchtreffer kommt von abtreibung.de:

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Dort sprechen dich die „Lebenshelfer“ in einem vertraulichen Ton an und wollen dir helfen. Hier erfährst du erstmal, dass eine Abtreibung zwischen 350 und 600 Euro kostet. (Was auf Seiten wie abtreibung.de jedoch nicht steht, ist, dass der Staat einspringt, wenn ungewollt Schwangere nicht selbst zahlen können.) Auch über den Ablauf wirst du aufgeklärt: Zuerst wären Frauen erleichtert und würden hoffen, ihr Leben einfach weiterleben zu können, aber dann: Angstzustände, Schlafstörungen, schlimme Erinnerungen an die traumatisch erlebte Abtreibung, unbewusster Rückzug aus früher geliebten Lebensbereichen, Autoaggression, Depressionen, unmotiviertes Weinen, emotionale Gleichgültigkeit, vermindertes Selbstwertgefühl, Reue und Schuldgefühle, bis hin zum Suizid. (Im Gegensatz zu abtreibung.at, wo du über alle Möglichkeiten aufgeklärt wirst) Eine Studie, die mehrere weltweit durchgeführte Untersuchungen zu den vielbehaupteten psychischen Erkrankungen „danach“ zusammenträgt, kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass das Risiko für psychische Erkrankungen bei Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch nicht höher liegt als bei denen, die nach einer ungewollten Schwangerschaft das Kind austragen. Eigentlich sollte Schwangerenkonfliktberatung laut gesetzlicher Vorschrift  „ergebnisoffen“ sein, damit Mädchen und Frauen ihre eigene Entscheidung treffen. Nur bei diesen offiziellen Stellen bekommt man auch einen „Beratungsschein“ ausgestellt, den man braucht, wenn man tatsächlich kein Kind haben will. Bei der Auftaktkundgebung des „Marschs für das Leben“ vor dem Berliner Kanzleramt traten die Abtreibungsgegner auf die Bühne und legten „Zeugnis“ ab über ihre „Sünde“. „Das war Mord, meine Lieben, ich habe den Applaus nicht verdient, ich habe gesündigt!“, bekennt eine. Auch eine andere Frau badet ausgiebig, ein bisschen gequält, aber irgendwie doch genüsslich in Schuld. Sie wird verfolgt von ihrer Sünde. Sogar ihr Kind fragt nach der großen Schwester, die sie leider abgetrieben hat.

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Sie sind sich in einer Sache einig: Gott, nicht der Mensch, hat über den Anfang und das Ende des Lebens zu entscheiden.

Das anwesende Publikum setzt sich aus allen demographischen Schichten der Gesellschaft zusammen—vornehmlich aber gesellschaftliche Mittelklasse. Vielleicht haben sie aber auch extra für heute die guten Klamotten angezogen, mit denen sie sonntags in die Kirche gehen. Zulauf erfährt diese Veranstaltung offenbar vor allem durch junge Leute. Ich frage mich andauernd, warum die keine Demo gegen die steigende Kinderarmut veranstalten oder Straßenkindern helfen, warum stürzen sie sich auf die Kinder, die gar nicht da sind?

Ganz vornehm im Anzug steht auch Martin Lohmann—bekannt als gottesfürchtiger Katholik und fanatischer Abtreibungsgegner, der auf politische Korrektheit pfeift, vor der Menge. Anfang des Jahres war er bei Günther Jauch und meinte: „Die Lehre, dass man nicht töten darf, gilt immer.“ Auch die Pille danach ginge nicht, nichtmal nach einer Vergewaltigung, die würde er selbst seiner eigenen Tochter nicht erlauben. Diese Haltung bekräftigte er nochmal bei [Lanz im ZDF](http://www.youtube.com/watch?v=IiaT1IsVsMk und ). Es gäbe kein Frauenrecht auf Verhütungsmittel und Abtreibung, erzählt Lohmann heute.

Dann gibt er den Startschuss. Alle mögen sich ein Kreuz aufladen, schweigend losziehen und sich von den Feinden und Verfolgern nicht irritieren lassen, „denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Ein Vers aus dem Lukasevangelium, sowas weiß ich, als alte Messdienerin.

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Die ProChoice-Fraktion will hier nicht schweigen. Sie mischten sich unter die Gläubigen und ergattern ein paar Kreuze.

Einer setzt sich ganz keck mit einem umgedrehten Kreuz vor den Demonstrationszug, andere recken das Holz erst nach einer Weile falsch rum aus der Menge. Die Polizei gab sich ein bisschen Mühe, das zu unterbinden. Die ProLife-Demonstranten versuchen dem Spott ein Ende zu machen. ProLife gelang es ProChoice das Kreuz in einem Moment der Unachtsamkeit wieder abzunehmen.

Mit lauten Beats nahm das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung die Demo am Brandenburger Tor in Empfang. Auf dem Lautsprecherwagen steht Sybill Schulz, sie ist Geschäftsführerin des staatlich anerkannten Familienplanungszentrums Balance. Das übergroßen Diaphragma auf ihrem Kopf sieht ein bisschen albern aus. Blutrünstig kommt sie aber auf gar keinen Fall rüber, auch wenn sie für Radikal-Gläubige eine Kriminelle ist, die ein „Tötungszentrum“ leitet. Deshalb wurde sie auch schon unter „Abtreibern“ auf der Seite babycaust.de mit Name und Foto gelistet, weil sie „Schwangerschaftskonfliktberatung“ macht und Frauen vor und nach einem Abbruch begleitet. Erst am Samstag hatte sie wieder eine polizeiliche Anzeige wegen „Werbung für Schwangerschaftsabbrüche“ im Briefkasten. Diese „gezielten Diffamierungskampagnen“ gehören seit Beginn der Nullerjahre dazu, sagt sie, „ich will aber, dass unsere Klientinnen, die zu einer Beratung kommen, nicht eingeschüchtert werden und frei entscheiden können, ob sie ein Kind haben wollen oder nicht.“ Deshalb ist sie hier. Auf der ProLife-Seite spreche ich mit zwei 17-jährigen Jungs, die mir weismachen wollten, dass Abtreibung laut Grundgesetz verboten ist. Verwechselt er da nicht vielleicht etwas, denke ich mir. Warum trägt er als Gesetzestreuer dieses Kreuz und nicht das Grundgesetz? Dazu sagt er nichts mehr.

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Ein sehr kleiner Mann mit einer Ordnerbinde drängt sich dazwischen und behauptet, die Jungs würden nicht mit mir reden wollen. Viele junge Leute auf der ProLife-Seite reagieren tatsächlich so. Sie wollen keine Frage gestellt bekommen. Sollen Frauen wirklich nicht über ihren Körper entscheiden dürfen? Keine Antwort, es gehört wohl doch einiges dazu, genau das auszusprechen.

„Es ist doch paradox, dass alle die hier gegen Abtreibung sind, leben!“ und zwar nicht erst seit ihrer Geburt, sondern seit der Befruchtung, erzählt mir Julian, endlich mal ein gesprächsbereiter katholischer Abtreibungsgegner aus Hamburg. Er ist das erstes Mal hier beim Marsch. Auf Umwegen ist er hierher gekommen. Eigentlich ist er mit 18 aus der Kirche ausgetreten, ist abgerutscht und hat zu viele Drogen genommen, erzählt er mir. Bis er seine Christenfreundin getroffen hat. Jetzt hat ihn die Kirche wieder und er ist froh, dass der Marsch nicht so eine „Alte-Leute-Veranstaltung“ ist, sondern überraschend viele junge Christen dabei sind. Er will hier Bewusstsein schaffen, dafür werben, auf sein Gewissen zu hören, aber niemandem was vorschreiben.

Laura gehört zur ProChoice-Seite, sie läuft neben der Demo und hält eine Schild, auf dem steht: „Nie/wie/der“, daneben ein Kleiderbügel. Dort, wo Schwangerschaftsabbrüche illegal sind und der Weg zu medizinischer Hilfe deshalb offiziell versperrt ist, nehmen Frauen auch den Metallhaken von Kleiderbügeln zur Hilfe. Früher auch in Deutschland, erzählt Laura. Das kann ziemlich böse ausgehen und es gibt noch andere gefährliche DIY-Abtreibungsmethoden. „Irgendwie kaltherzig“, wirkte dieser Gegenprotest auf Julian. Ich frage Anja, sie läuft zwischen durch mit einem der Symbole der Frauenbewegung durch die Demo oder am Rand: Bist du kaltherzig? „So ein Quatsch, ich bin doch nicht hier, um Abtreibung abzufeiern, die wollen nicht verstehen und nicht akzeptieren, dass Frauen in Situationen sein können, wo sie kein Kind haben wollen. Wo sie die Pille nehmen wollen, wenn's schief geht, abtreiben wollen. Frauen dazu zwingen zu wollen, Kinder zu kriegen, das ist kaltherzig.“

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