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Der Nachmittag im Juli war schwül, ein perfekter Tag für den Strand. Johnathan Namauleg verließ das Haus seiner Eltern in der South Lehua Street und lief – Richtung Wasser. Der schmächtige Junge war 1,65 Meter groß, trug ein blaues T-Shirt, weite Shorts und fast immer ein Lächeln auf den Lippen. Er wurde auf der Insel Saipan geboren, doch seit einigen Monaten lebte er mit seiner Familie in Hawaii. Im Herbst wollte er sein letztes Schuljahr auf der Maui High machen. Bis dahin vertrieb er sich die Zeit mit den üblichen Teenager-Beschäftigungen: Er kiffte, dachte an Mädchen, postete dummes Zeug auf Facebook – und hing natürlich am Strand ab, wie alle auf Maui.
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Bis zum Hoaloha Park, einem kleinen Sandstreifen im Hafen von Kahului, waren es 25 Minuten. Dort stand Hawaiis größtes traditionelles Hale (“Haus”), eine Hütte aus Ästen und Schilf. Es gehörte dem Kanuklub und an jenem Tag lagen dort die Schuhe der Teilnehmer eines Paddelkurses. Ein Klubmitarbeiter beschuldigte Johnathan, er habe versucht, ein Paar zu stehlen, und nach einem Wortgefecht warf er ihn raus. Johnathan stapfte wütend davon, kehrte aber nach Sonnenuntergang zurück. Er setzte sich rauchend unter das Schilfdach und blickte aufs Wasser. Es hatte nur noch abendliche 20 Grad, eine leichte Brise wehte und die Kanufahrer waren gegangen. Es war circa 20:30 Uhr am 26. Juli 2012, als Johnathan aufstand, sein rotes Bic-Feuerzeug hob und das Schilfdach des Hale in Brand setzte.
Mitglieder des Kanuklubs, die nach dem Training auf einem nahegelegenen Parkplatz zusammenstanden, dachten zunächst, in der Hütte sei jemand mit einer Taschenlampe. Dann ein Schrei: “Feuer!” Zusammen konnten sie schnell die Flammen löschen, sodass nur ein kleiner Teil des Dachs verbrannte. Der Schaden wurde später auf 3.000 Dollar geschätzt, niemand wurde verletzt. Johnathan war in der Dunkelheit abgetaucht.
Doch anscheinend war ihm nicht klar, dass er etwas Verbotenes getan hatte. Am nächsten Tag kehrte er zum Strand zurück und sprach über seine Tat – sonst hätte man ihn wohl nie gefasst. Noch am selben Nachmittag wurde er festgenommen und wegen Brandstiftung angeklagt. Dem 18-Jährigen drohten bis zu zehn Jahre Haft.
Johnathans Mutter Arlene und sein Stiefvater Joe machten sich schon lange Sorgen um ihren Sohn, der immer wieder in Schwierigkeiten geriet. Als Kind wurden bei ihm eine Lernschwäche und ADHS diagnostiziert. Noch mit 18 buchstabierte er häufig seinen Namen falsch und las wie ein Erstklässler. “Sein Verstand ist nicht altersgemäß”, sagte ein Psychiater einmal zu Arlene. Er meinte auch, Johnathan solle rund um die Uhr unter Beobachtung stehen. Arlene widmete seit Jahren ihrem jüngeren Sohn jede Minute, die sie nicht bei ihrem Vollzeitjob im Lebensmittelladen verbrachte. Nun drohte eine einzige unbesonnene Tat, ihn für Jahre hinter Gitter zu bringen. Er hatte Lernschwierigkeiten und war schmächtig; unschwer sich vorzustellen, welche seelischen Narben das Gefängnis ihm wohl zufügen würde.
Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich schnell. In den nächsten drei Jahren wanderte Johnathan vom Gefängnis auf Maui in zwei weitere Vollzugsanstalten. Die Wärter stuften ihn als “leichte Beute” ein, weil er die geistige Reife eines Kindes habe und seine geringe Körpergröße ihn angreifbar mache. Johnathan gab an, Angst um sein Leben zu haben, und bat um Schutzhaft. Er täuschte Selbstmordabsichten vor, um von den anderen Insassen getrennt zu werden. Er wurde tätlich angegriffen, möglicherweise sogar vergewaltigt.
Was seine Eltern zunächst nicht wussten: 1995, als Johnathan zwei Jahre alt war, verlegte Hawaii erstmals Häftlinge aufs Festland. Angeblich eine vorübergehende Maßnahme, um überfüllte Gefängnisse zu entlasten. Über 20 Jahre später befinden sich aber noch immer 1.300 Häftlinge – 43 Prozent der hawaiischen Gefangenen – auf dem US-amerikanischen Festland. Sie sitzen etwa 4.500 Kilometer entfernt in einer berüchtigten Privateinrichtung in der Wüste Arizonas. Und dort, auf halber Strecke zwischen Phoenix und Tucson, sollte auch Johnathans Gefängnisodyssee mit seinem rätselhaften Tod enden.
Was hinter den Mauern des Gefängnisses geschah, lässt sich schwer mit Sicherheit sagen. Das im kleinen Ort Eloy ansässige Saguaro Correctional Center – benannt nach einer Kaktusart der Sonora-Wüste – gehört dem größten privaten Gefängnisbetreiber der USA, der Corrections Corporation of America (CCA; seit Kurzem CoreCivic). Rein rechtlich muss das Unternehmen keine Informationen an die Öffentlichkeit geben, und auch die hawaiischen Behörden machen schon bei den einfachsten Fragen dicht. Von offizieller Seite ist nur bekannt: Am Abend des 6. August 2016 wurde Johnathan bewusstlos mit dem Gesicht nach unten in seiner Zelle gefunden und im weiteren Verlauf der Nacht für tot erklärt.
Es gibt ein Video von Johnathan mit 14 Jahren, als die Familie noch auf Guam lebte. Sein großer Bruder Vincent wollte sich beim Schattenboxen im gemeinsamen Zimmer filmen. Kurz nach Beginn des Videos betritt Johnathan breit grinsend den Raum und sieht vom Stockbett aus zu. Vincent vollführt mit nacktem Oberkörper eine Reihe wilder Fauststöße: Jab, Jab, Cross, Hook, Jab. Nach einer Weile steht Johnathan auf und beginnt, im Hintergrund zu tanzen. Er zieht sich bis auf die Unterhose aus, klemmt sich diese zwischen die Pobacken und wackelt vor der Kamera mit dem Hintern. Vincent kämpft weiter gegen einen unsichtbaren Gegner, ohne zu merken, dass jemand sein Video bombt.
“So war Johnathan”, sagt seine Mutter Arlene. “Er hat immer rumgealbert und nichts richtig ernst genommen.” Sie lächelt sanft und schaut aus dem Küchenfenster in die helle Wintersonne. Wir befinden uns in ihrem gemütlichen Reihenhaus in Antioch, einem Vorort in der kalifornischen Bay Area. Joe ist Bodenschutzbeauftragter und wurde 2014 vom US-Landwirtschaftsministerium hierher versetzt. Arlene und Joe lernten sich bereits in der Highschool kennen, trafen sich später wieder und heirateten 2007 auf Saipan. Joes Job brachte die Familie schon von Saipan nach Guam und später nach Maui.
Arlene hat bronzene Haut und dieselben hohen Wangenknochen und großen Augen, die ihr Sohn hatte. Langsam verarbeite sie seinen Verlust, sagt sie. Lange Zeit habe sie überhaupt nichts fühlen können, doch das sei kein haltbarer Zustand. Jetzt fühle sie mehr, aber auch das sei nur schwer zu ertragen. Auf ihrem Schoß zappelt ihre fünf Monate alte Tochter Maisa. “Wenn wir mit ihm in Arizona telefonierten, hat Johnathan immer als Erstes gesagt, wie sehr er sich auf seine Schwester freut”, erzählt sie. Maisa kam 15 Tage nach Johnathans Tod zur Welt.
Auf dem Wohnzimmertisch steht eine Urne mit seiner Asche. Die Familie will Johnathan auf Saipan neben Arlenes Großmutter beerdigen. An der Wand hängt ein gerahmtes Bild von ihm beim Grundschulabschluss. Er hat einen Stoppelhaarschnitt und trägt ein schwarz-oranges Baseballtrikot. “Er hat sich in der Schule immer schwer getan”, sagt Arlene. Als man bei ihrem Sohn schon früh beträchtliche Lernschwierigkeiten diagnostizierte, bekam er zur Unterstützung im Klassenzimmer eine Vollzeitbetreuung. Er konnte kaum fünf Minuten lang still sitzen. In der neunten Klasse verschrieb ein Arzt Johnathan das ADHS-Mittel Concerta. Das half ihm, sich zu konzentrieren. “Er war wie ausgewechselt”, sagt Arlene. Doch das Medikament verursachte bei ihm schwere Übelkeit, also setzte er es nach weniger als einem Jahr ab. Zu diesem Zeitpunkt hatte er entdeckt, dass Marihuana ihn effektiver beruhigte. “Er rauchte so gern Gras“, erinnert sich Arlene. “Es hatte dieselbe Wirkung auf ihn wie die Medizin. Sein Geist kam ein bisschen zur Ruhe, er konnte sich konzentrieren.”
Johnathan Namauleg wanderte vom Gefängnis auf Maui in zwei weitere Vollzugsanstalten. Die Wärter stuften ihn als “leichte Beute” ein, weil er die geistige Reife eines Kindes habe und seine geringe Körpergröße ihn angreifbar mache.
In der Schule erwischten sie ihn mehrmals mit Gras. Einmal wurde er für zwei Wochen suspendiert, ein anderes Mal kurz in eine guamische Jugendstrafanstalt geschickt. Joe war nicht begeistert, dass sein Stiefsohn kiffte, zumal noch zwei jüngere Kinder im Haus waren: Leonard, Arlenes Sohn aus einer früheren Beziehung, und Matua, Joes und Arlenes 2008 geborener Sohn. “Wir versuchten es mit Auszeiten”, sagt Joe. “Er bekam Hausarrest, Verbote, kein Taschengeld mehr. Nichts funktionierte.” Joe, ein stämmiger Mann mit rasiertem Kopf, führt Johnathans mangelnde Disziplin vor allem darauf zurück, dass er ohne Vater aufwuchs. Doch könnte dessen Abwesenheit auch ein Segen gewesen sein: Sein leiblicher Vater hat eine lange Liste von Vorstrafen, viele davon wegen Gewalttaten, und Arlene hatte wohl ihre Gründe, warum sie ihn verließ, als Johnathan sechs war.
Dann kamen der Umzug nach Maui und das Feuer. Die Kaution wurde auf 20.110 Dollar festgelegt, weit mehr, als die Familie zahlen konnte. Johnathan kam zur Untersuchungshaft ins Maui Community Correctional Center. Da sich Arlenes Dienstplan mit den Besuchsstunden im Gefängnis überschnitt, konnte sie ihn nur ein paar Mal im Monat sehen. Meist sagte er, es sei alles gut, und erzählte von Mitinsassen, die er seine “Freunde” nannte. Johnathan neigte dazu, alle Menschen als Freunde zu sehen. Einmal jedoch brach er in Tränen aus. “Er hatte Angst, wollte mir aber nicht sagen, wieso”, sagt Arlene.
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Einige Anhaltspunkte liefert der Erstbericht einer Bewährungshelferin, die Mitarbeiter des Gefängnisses befragte. Ihr zufolge wurde Johnathan Borderline-Intelligenz diagnostiziert. Diese milde Form der Intelligenzminderung kann die Gewöhnung an neue Umgebungen erschweren. Sowohl Johnathans Lehrer im Gefängnis als auch ein Pädagoge äußerten “große Besorgnis”; der Pädagoge schätzte Johnathans nie offiziell getesteten IQ auf höchstens 70. Beide empfahlen einen Umzug in eine betreute Wohngemeinschaft für Erwachsene mit Entwicklungsstörungen.
Andere Gefängnismitarbeiter erzählten der Beamtin, Johnathan sei wegen seiner “begrenzten kognitiven Fähigkeiten und fehlenden emotionalen Reife” für andere Häftlinge “leichte Beute”. Wie sie notierte, wurde er “vermutlich von anderen Insassen schikaniert, seiner Lebensmittelrationen beraubt, etc.” Viermal wurde er wegen Selbstmordgefahr unter Beobachtung gestellt. Wie er später den Wachen sagte, behauptete er nur, er wolle sich schneiden, weil er aus Angst vor seinen Mitinsassen in eine Einzelzelle wollte. Bei seiner Entlassung war er sichtlich traumatisiert. Als die Beamtin sich ihm näherte, um ihm ein Dokument zum Unterzeichnen zu geben, “schreckte er zurück, als rechne er damit, geschlagen zu werden”.
“Eine Inhaftierung des Angeklagten könnte eine unzumutbare Härte darstellen”, schloss sie in ihrem Bericht. Sie empfahl, die Anklage auf die leichteste Form von Brandstiftung zu reduzieren und Johnathan fünf Jahre Bewährung zu geben. Das Gericht stimmte zu. Am 18. Januar 2013 kam Johnathan nach 183 Tagen frei, zu den Entlassungsbedingungen gehörten regelmäßige Alkohol- und Drogentests.
“Wenn wir mit ihm in Arizona telefonierten, hat Johnathan immer als Erstes gesagt, wie sehr er sich auf seine Schwester freut”, erzählt Arlene. Maisa kam 15 Tage nach Johnathans Tod zur Welt.
Arlene schickte ihren Sohn umgehend wieder auf die Maui High. Im Verlauf der nächsten Monate bemühte er sich in der Schule trotz seiner Konzentrationsprobleme so sehr wie nie zuvor. Im Frühjahr begegnete Arlene beim Einkaufen einer Sonderpädagogin ihres Sohns. Diese lobte Johnathan als wunderbaren Jungen, der im Unterricht sehr hilfsbereit sei. Arlene strahlte eine Woche lang. Im Mai war es so weit: Jonathans Abschluss. Zusammen mit ihrer Mutter fuhr Arlene zur Zeremonie auf dem Footballfeld der Maui High. Joe kümmerte sich zu Hause um das abendliche Festmahl: Reis, Grillhühnchen, Spareribs und Kuchen. Johnathan bekam ein Zeugnis für “Community Based Instruction”, ein Programm, das Schüler mit Behinderungen auf ein eigenständiges Leben vorbereiten soll. In seinem schicken blauen Talar und dem Barett war er ein einziges aufgedrehtes Energiebündel.
“Ich bin so glücklich und nervös”, sagte er im Auto. “Ich kann nicht fassen, dass ich es geschafft habe.”
Auch für Arlene war sein Abschluss eine große Sache. Daheim hatte sie sich Aufgaben und gemeinsame Projekte ausgedacht, um ihn im Auge zu behalten. Sie hatte seine Hausaufgaben kontrolliert, mit seinen Lehrern gesprochen, ihn Dutzende Male an wichtige Termine erinnert. Sie sagte ihm nie zwei Dinge hintereinander – er vergaß sonst beide. Als ihr Sohn endlich sein Zeugnis in die Hand bekam, fiel ihr ein Stein vom Herzen.
Nach der Highschool registrierte sich Johnathan bei LearnUp, einer Plattform, die kleine Onlinekurse für Berufseinsteiger anbietet. Insgesamt absolvierte er sieben davon und fand auch bald eine Stelle als Hilfskoch und Tellerwäscher bei der hawaiischen Grillrestaurantkette L&L. Er war 19 und hatte seinen ersten Job, ein wichtiger Schritt zur Unabhängigkeit. Johnathan sprach mit Arlene darüber, sich beim Community College einzuschreiben und überlegte, in den Bundesstaat Washington zu ziehen. Dort wollte er bei seinem Bruder Vincent wohnen,der Flugbegleiter war.
“Eine Zeit lang lief alles gut für ihn”, sagt Arlene.
Zwei Wochen nach Johnathans Abschlussfeier wurde George Rowan, ein Häftling im größten Gefängnis von Oahu, davon wach, dass ihn sein Mithäftling Jason McCormick in den Würgegriff nahm. Die Wärter konnten McCormick gerade noch wegziehen – kein leichtes Unterfangen, denn er war 1,82 Meter groß, muskulös und hatte 20 Jahre Jiu-Jitsu-Erfahrung. Der 38-Jährige hatte zwei seiner drei Mixed-Martial-Arts-Kämpfe mithilfe des sogenannten “Rear Naked Choke” gewonnen. Dieser Würgegriff unterbricht die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn und führt schnell zur Bewusstlosigkeit. Wird der Griff gehalten, kann er zu Hirnschäden oder zum Tod führen. Rowan hatte Glück: Nur seine Schulter war ausgerenkt.
Rowan und McCormick teilten sich die Zelle noch nicht einmal einen Tag. Rowan wartete auf seinen Prozess wegen eines Drogendelikts; McCormic standwegen eines Mordes vor Gericht, der in der Gegend Schlagzeilen gemacht hatte. Es war ein grausiges Verbrechen: Robert Henderson, ein Gastprofessor von der Universität Pittsburgh, war erdrosselt in einer Wohnung in Honolulu gefunden worden; auf seinem Körper stand der Schriftzug ICH VERGEWALTIGE KLEINE JUNGS UND MUSS STERBEN, der Stift steckte in seinem Bein.
McCormick gehörte damals gar nicht zu den Verdächtigen, konnte aber mit seiner Schuld anscheinend nicht leben. In den folgenden Jahren trank er täglich bis zu 40 Bier und landete immer wieder in der Psychiatrie. Die meiste Zeit wies er sich selbst ein; laut seiner Häftlingsakte hatte er Angst, nicht widerstehen zu können und weitere Menschen zu erdrosseln. Er litt unter Halluzinationen, unternahm mehrere Suizidversuche und hörte einmal “die Stimme Gottes, die ihm auftrug, in die Berge zu gehen und sich umzubringen”. Schließlich wurde bei ihm eine schizoaffektive Störung diagnostiziert. Diese Krankheit teilt sich Symptome mit Schizophrenie und bipolaren Störungen. Im Laufe der Jahre verschrieb man ihm mindestens 13 verschiedene Medikamente.
2008, während eines Psychiatrieaufenthalts, rief McCormack die Polizei an und gestand den Mord an Henderson. Nach seiner Entlassung ging er direkt zur Polizei, um erneut zu gestehen. Er erzählte, Henderson habe ihn beim gemeinsamen Trinken angebaggert, woraufhin er ausgerastet sei. Später erklärte er noch, er sei als Junge von seinem Stiefvater sexuell missbraucht worden.
McCormick wartete in der U-Haft auf seinen Prozess, als er Rowan angriff. Drei Wochen später, am 26. Juni 2013, erging das Urteil: schuldig des Mordes mit bedingtem Vorsatz. Er bekam lebenslange Haft mit Aussicht auf vorzeitige Entlassung. Man würde ihn nach Arizona verlegen.
Irgendwann im Sommer 2013 begann Johnathan wieder mit dem Kiffen. “Er kam high nach Hause und fing an zu kochen”, erinnert sich Arlene. “Fürs Kochen hatte er schon immer eine Leidenschaft.” Mit der Zeit war Arlene klar geworden, dass Marihuana die ADHS-Symptome ihres Sohns linderte. Sie wusste aber auch, dass ein positiver Drogentest ihn wieder für Jahre hinter Gitter bringen konnte.
“Ich stellte ihn zur Rede, um ihm klar zu machen, welche schlimmen Folgen ein Verstoß gegen seine Bewährung hätte. Er sagte nichts, nur ‚OK, ja’. Trotzdem kam er weiter bekifft nach Hause.” Arlene hatte ihn zu den wöchentlichen Terminen bei der Bewährungshelferin gebracht, aber nun kam er nicht mehr pünktlich nach Hause. “Ich war ratlos”, sagt sie. “Ich habe alles versucht, aber ich konnte ihn nicht aufhalten oder einsperren. Er war erwachsen.”
Jason McCormick litt unter Halluzination und unternahm mehrere Selbstmordversuche. Schließlich wurde bei ihm eine schizoaffektive Störung diagnostiziert.
Im September musste Johnathan wegen Verstoßes gegen seine Bewährungsauflagen für 30 Tage ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung postete er ein Foto auf Facebook, mit umgedrehter Basecap und breitem Grinsen. Seine Freiheit währte nur kurz. Knapp einen Monat darauf landete er wieder hinter Gittern, weil er einen Drogentest versäumt hatte. Er blieb für sechs Monate inhaftiert, bis der Richter Joseph E. Cardoza im Juni 2014 seine Bewährung aufhob. “Sie scheinen ihr Drogenproblem nicht mehr im Griff zu haben”, sagte er Johnathan. “Wenn das passiert, gerät alles aus dem Ruder. Sie haben ernste Probleme, an denen Sie arbeiten müssen.” Cardoza verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft.
Johnathan kam zunächst in ein Gefängnis auf Maui, wurde aber im Juli in die Halawa Correctional Facility auf Oahu verlegt. Halawa ist das größte Gefängnis in Hawaii, aber bei weitem nicht groß genug. Es wurde für 586 Insassen entworfen, doch im Monat vor Johnathans Eintreffen lebten dort 1.124. Aber Halawa war nur eine Zwischenstation. Zwei Monate später begann er einen Brief an Arlene mit seiner üblichen Einleitung: “Ich vermisse euch so sehr, wie geht’s euch, lang nicht gesehen.” Dann eine Überraschung: “Mom, stell dir vor, ich bin in Arizona.”
“Arizona?”, fragte Arlene am Telefon. “Was machst du denn da?”
Die Anfänge der Gefängnis-Pipeline von Hawaii nach Arizona reichen bis 1985 zurück, als die Überbelegung und eine Klage der American Civil Liberties Union dazu führten, dass die Bundesbehörden die Aufsicht über Hawaiis Gefängnisse übernahmen. Damals waren 2.000 Personen in Hawaii inhaftiert. Nur zehn Jahre später hatte sich die Zahl der Häftlinge nahezu verdoppelt, was teils der Crystal-Meth-Epidemie geschuldet war.
Um mit diesem Anstieg fertigzuwerden, verteilte Hawaii im Dezember 1995 die ersten 300 Häftlinge auf zwei Privatgefängnisse in Texas, betrieben von der mittlerweile aufgelösten Bobby Ross Group. Zwei Monate später entkam einer der Häftlinge, entführte eine Frau und vergewaltigte sie, bevor er nach Mexiko floh. In den nächsten drei Jahren waren die texanischen Gefängnisse Schauplatz zahlreicher Aufstände, Brände und einer Massenschlägerei, bei der ein Insasse starb. Als Hawaii 1996 Mindeststrafen bei Metamphetamin-Delikten einführte, platzten die staatlichen Gefängnisse noch mehr aus allen Nähten. Mehr Häftlinge wurden aufs Festland geschickt. Weitere 300 kamen in die Bobby-Ross-Einrichtungen in Texas, die meisten wanderten jedoch in Gefängnisse der schnell wachsenden Corrections Corporation of America: 302 nach Minnesota, 180 nach Oklahoma, 128 nach Tennessee.
Hawaiis Reaktion auf die Überbelegung brachte neue Probleme mit sich, vor allem, was die Kontrolle anging. “Wenn Häftlinge in solch extremen Situationen nicht im eigenen Bundesstaat einsitzen, gibt es keine Angehörigen, Reporter und Rechtsbeistände, die ein Auge auf die Lage haben”, sagt Michele Deitch, Dozentin an der LBJ School of Public Affairs der University of Texas. “Deshalb ist eine unabhängige Kontrolle noch wichtiger.” Die Art der Kontrolle kann unterschiedlich sein. In Kalifornien wird der Strafvollzug von einer externen Stelle überwacht. In Ohio führt ein Kontrollausschuss unangekündigt Gefängnisinspektionen durch. In Hawaii gibt es keinerlei derartige Überwachung. Darüber hinaus zeigt sich das hawaiische Department of Public Safety (DPS) stets sehr reserviert, wenn Beweise für die gefährlichen Bedingungen vorgelegt werden, unter denen die Häftlinge des Bundesstaats in Festlandgefängnissen leben.
Nach Monaten der Aufstände und Brände drohte Texas 1998 mit der Schließung der Bobby-Ross-Gefängnisse, in denen Häftlinge aus Oklahoma und Hawaii saßen. Oklahoma holte seine Häftlinge daraufhin nach Hause. Keith Kaneshiro, damaliger Leiter des DPS von Hawaii, sagte jedoch, er sei mit der Firma zufrieden und ihre Leitung reagiere bei Problemen schnell. In einer weiteren texanischen Bobby-Ross-Einrichtung mit Häftlingen aus Montana und Hawaii stellten Ermittler aus Montana fest, dass Häftlinge hungerten. Montana kündigte der Firma daraufhin den Vertrag. Doch selbst als das US-Justizministerium 1998 in einem Bericht die Bedingungen dort als “grausame und unübliche Strafe” bezeichnete, schickte Hawaii weiter Häftlinge.
Eines der zahlreichen Probleme in den CCA-Gefängnissen mit Häftlingen aus Hawaii sind Türen, die sich unerwartet öffnen. 2005 gingen mitten in der Nacht 20 Türen in einem Gefängnis in Mississippi auf. Einige Häftlinge griffen einen Mitinsassen an und fügten ihm schwere Hirnschäden zu. (Wie der Honolulu Advertiser berichtete, sagte hawaiisches Gefängnispersonal, ein Wärter habe unter dem Einfluss einer Gang gestanden.) Zwei Jahre später öffneten sich zu vier verschiedenen Gelegenheiten Türen im CCA-Gefängnis Red Rock in Arizona. Ein Häftling erlitt schwere Stichverletzungen. Besorgte Gefangene wendeten sich an den Honolulu Advertiser und klagten, die seltsamen Türöffnungen würden es Gefängnisgangs ermöglichen, Schutzhäftlinge anzugreifen. Clayton Frank, der damalige Interimsdirektor des DPS, zeigte sich zwar “besorgt” angesichts des Zeitungsberichts, attestierte der CCA jedoch “großartige Arbeit”.
Zwischen 2000 und 2008 stieg die Gefängnisbevölkerung in Hawaii um rund ein Fünftel auf fast 6.000 an. Hawaii intensivierte seine Zusammenarbeit mit der CCA 2007 mit der Eröffnung des Saguaro Correctional Center, dessen 1.926 Plätze ausschließlich für den hawaiischen Überschuss gedacht waren. Männliche Häftlinge, die zuvor auf drei Einrichtungen in ebenso vielen Bundesstaaten verteilt waren, wurden in einem Gefängnis zusammengelegt, was die Überwachung der Verhältnisse hätte vereinfachen sollen. Doch es kam weiter zu Vorfällen. Im Februar 2010 ermordeten zwei Saguaro-Insassen den Häftling Bronson Nunuha mit 140 Messerstichen. Vier Monate später gab es in diesem Bereich, der “Isolationsabteilung November” genannt wird, einen weiteren Mord. Clifford Medina, ein Häftling mit Lernschwierigkeiten, wurde von seinem Zellengenossen erwürgt. Die Familien der beiden Opfer reichten Klage ein; die CCA regelte die Fälle außergerichtlich und vertraulich.
Angesichts dieser Morde und einer weiteren Klage, in der mehrere Häftlinge Wärtern Missbrauch vorwarfen, versprach der damalige Gouverneur von Hawaii, Neil Abercrombie, 2010 die Rückführung der Häftlinge. “Es kostet Geld”, sagte er. “Es kostet Leben. Es zerstört Gemeinschaften und Familien. Es funktioniert nicht, weder sozial, noch ökonomisch, politisch oder moralisch.”
Doch nichts tat sich. 2011 schloss Hawaii angesichts der fortdauernden Kapazitätsprobleme einen neuen Vertrag mit der CCA für Saguaro, der seither zweimal verlängert worden ist. Letzten Juli erteilte Hawaii der CCA einen neuen Dreijahresvertrag über geschätzte 45 Millionen Dollar jährlich.
“Die Gründe sind politische Feigheit und die Kosten für den Bau eines neuen Gefängnisses”, sagt Meda Chesney-Lind, Professorin mit dem Forschungsgebiet Inhaftierung an der University of Hawaii. “Eine abscheuliche Politik, die vom Staat aber mehr oder weniger salonfähig gemacht wurde.”
Johnathan wurde am 4. September 2014 um 21:59 Uhr in Saguaro eingewiesen. Am nächsten Tag erhielt er drei Paar Khakihosen und –hemden in XL, in denen seine zierliche Gestalt ertrank, und einen Häftlingsausweis. Er war nun Insasse 2159249. In seinem ersten Monat in Saguaro schloss Johnathan einen Kindererziehungskurs ab und durchlief das “Life Principles Community Program”. Das christliche Programm soll Häftlingen helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Er durfte auf Antrag in den 120 Betten umfassenden “Glaubenstrakt”, wo Häftlinge ihren Glauben vertiefen konnten. Er verzierte seine Briefe nach Hause mit Kreuzen. Am 30. November schrieb er Arlene: “Du glaubst es nicht, aber ich wurde gerade von Jesus Christus getauft. Ich bin jetzt Christ.”
Arlene und ihr Sohn telefonierten zwei- bis dreimal die Woche. “Er hat auf einmal viel von Gott gesprochen”, sagt sie. “Er liebte den Glaubenstrakt.” Zum Abschluss jedes Gesprächs sprach Johnathan ein langes Gebet für die Familie.
Er verzierte seine Briefe nach Hause mit Kreuzen und schrieb Arlene: “Du glaubst es nicht, aber ich wurde gerade von Jesus Christus getauft. Ich bin jetzt Christ.”
In Johnathans Häftlingsakte findet sich ein Hinweis darauf, dass es ihm vielleicht doch nicht so gut ging. Mitte November erhielt die CCA die Mitteilung, er sei an sexuellen Aktivitäten unter der Dusche beteiligt gewesen. Man brachte Johnathan auf die Krankenstation, doch er behauptete, sich keine Sorgen um seine Sicherheit zu machen, und kehrte in seine Zelle zurück. Als Häftlinge einige Monate später Formulare zur Kontrolle sexuellen Missbrauchs ausfüllen mussten, stuften CCA-Mitabeiter ihn als mögliches Opfer ein – er sei jung, naiv und habe keinerlei Hafterfahrung. Bei dieser Kontrolle gab Johnathan auch an, er fühle sich nicht fähig, sich zu verteidigen.
Insgesamt waren seine ersten sieben Monate in Arizona dennoch anscheinend eher ruhig. Johnathan blieb in Zelle MC-66 und widmete sich sechs Stunden täglich dem Glaubensprogramm. Seine Lehrer beschrieben als umsichtig und kooperativ, er zeige Initiative und fehle nie im Unterricht. Am 21. April 2015 erhielt er ein Zeugnis über den Abschluss eines Fortgeschrittenenseminars zu den “sieben biblischen Lebensprinzipien”. Weitere Zeugnisse erhielt er für Finanzplanungs- und Aggressionsbewältigungskurse. Stolz schickte er alle Arlene.
Im Juni wurde Johnathan aus dem Glaubenstrakt geworfen. Seiner Akte nach habe er “die Gruppe gestört”. Der Trakt gilt als einer der sichersten Bereiche des Gefängnisses, die Insassen lernen laut Pastor Roy Yamamoto “rund um die Uhr”. Yamamoto hat selbst in Saguaro gesessen und besucht das Gefängnis nun als Seelsorger. Johnathan wollte unbedingt wieder zurück in den Glaubenstrakt. Am 22. Juni bat er seinen Sachbearbeiter: “Ich möchte mein Leben ändern, bitte geben Sie mir eine Chance.”
Man hatte Johnathan gesagt, er müsse sechs Monate warten, um die Wiederaufnahme zu beantragen. Nun erhielt er einen Verweis, weil er die Regel nicht befolgt und “Mitarbeiter in der Ausübung ihrer Pflichten gehindert” habe. Dies galt als “schwerer Verstoß” mit einer Höchststrafe von 30 Tagen Isolationshaft. Am 4. Juli erhielt er einen weiteren Verweis: Er weigerte sich, in seine Zelle zurückzukehren – aus Angst um sein Leben, wie er dem Personal erklärte. Auch das war ein schwerer Verstoß. Insgesamt erhielt Johnathan 60 Tage Isolationshaft. Er würde den letzten Monat seines Lebens in der November-Abteilung verbringen.
Jason McCormick kam fünf Monate zuvor, am 30. Januar 2015, nach Saguaro. Während seiner psychiatrischen Untersuchung Anfang Februar erzählte er CCA-Mitarbeitern, er sei wegen Mordes inhaftiert und erwähnte weitere “Mordversuche”, womit er offensichtlich auf den Versuch anspielte, seinen Zellengenossen George Rowan in Hawaii zu erdrosseln. Im März wurde er aus einer Zweimannzelle auf die Krankenstation verlegt. Er hatte einem Schichtleiter erzählt, er leide an Überreizung, Klaustrophobie und Mordgedanken.
Am 10. Juli, als er bereits wieder einen Zellengenossen hatte, sagte er CCA-Personal, er werde “andere verletzen”, wenn man ihn nicht allein unterbringe. Er kam zur Überwachung in eine Einzelzelle. Sobald der Wärter seine Fesseln löste, rammte McCormick mit dem Kopf gegen die Zellentür. Nach vier Verwarnungen machte er an der hinteren Zellwand weiter, erst Pfefferspray konnte ihn aufhalten. Wie Johnathan erhielt auch er 60 Tage Isolation wegen Missachtung der Regeln, plus 30 Tage wegen Gewaltandrohung.
McCormicks Verhalten wurde unbeständiger und laut Patty Sells, Krankenpflegerin in Saguaro, hörte er auf, seine Medikamente zu nehmen. Um welche es sich handelte, ist zwar vertraulich, doch seiner Häftlingsakte nach hatte er in der Vergangenheit Mittel wie Seroquel, Abilify und Risperdal erhalten, außerdem Lithium und Depakote für seine bipolare Störung. Am 28. Juli, sechs Tage nach der Entlassung aus der Dauerüberwachung, wurde er – noch immer medikamentenfrei – mit einem Insassen namens Alison Matsuda zusammengelegt. Zwei Wochen darauf erzählte McCormick dem Polizeiermittler Roy Garrison aus Eloy, bei Matsudas Anblick sei die Wut in ihm hochgestiegen. Er habe das Gefängnispersonal jedoch nicht verständigen wollen, weil er befürchtet habe, erneut wegen Bedrohung bestraft zu werden. Stattdessen betete er und machte Atemübungen. Als Wärter Matsuda elf Stunden später aus der Zelle holten, sah McCormick darin ein Zeichen, dass sein Gebet erhört worden war. Wie Garrison vom Gefängnispersonal erfuhr, wurde Matsuda vermutlich abgeholt, weil McCormick keine Medikamente mehr nahm und Matsuda gefährlich werden könnte.
Eine Woche nach Matsudas Verlegung erzählte McCormick CCA-Mitarbeitern, er wolle neben dem Mord, für den er lebenslang einsaß, einen weiteren Mord gestehen. Der Polizei von Eloy zufolge wurde diese Information “an CCA-Ermittler übergeben, die wiederum die hawaiischen Behörden informierten”.
Unklar ist, wie detailliert sein Geständnis gegenüber der CCA war. Auf meine Anfrage erhalte ich von dem Unternehmen lediglich die Antwort: “Zum laufenden Verfahren können wir nichts Näheres sagen, doch CoreCivic hat sich der Sicherheit und dem Schutz der Personen in unserer Obhut verpflichtet.” Einige Monate später schilderte McCormick jedoch Einzelheiten in einem Brief an den Anwalt von George Rowan, der das hawaiische Department of Public Safety wegen der Zusammenlegung mit McCormick verklagte. Im August 2013 fand man den 48-jährigen Brian Kim tot in seiner Zelle im Oahu Community Correction Center. Um seinen Hals war ein Laken geschlungen, dessen Ende am Etagenbett befestigt war. Der Gerichtsmediziner hatte daraus auf Selbstmord geschlossen. McCormick schrieb, er habe seinen “Nachbarn Brian Kim erwürgt und es mit einem der ältesten Gefängnistricks überhaupt vertuscht” – nur zwei Monate nach seinem Mordversuch an Rowan im selben Gefängnis.
Obwohl McCormick weiter medikamentenfrei blieb und gerade den Mord an einem Zellennachbarn gestanden hatte, entschied am folgenden Tag Misty Olsen, Leiterin der Abteilung November und seit 17 Jahren bei der CCA, McCormick mit Johnathan zusammenzulegen.
Saguaro hat sechs Zellenblöcke. Die November-Abteilung mit 171 Häftlingen ist einer von 2 Blöcken für sogenannte “Sonderinsassen”. Innerhalb der Abteilung gibt es die Trakte Delta und Echo, deren Insassen 23 Stunden am Tag in ihren Zellen eingesperrt sind. Hier landen beispielsweise Bandenmitglieder sowie Häftlinge mit psychischen Problemen oder mit Disziplinarverstößen. Die Wärter sollen diese Blöcke alle 30 Minuten kontrollieren. Außerdem gibt es in jeder Zelle einen Notfallknopf, über den Insassen mit dem Personal im Kontrollraum sprechen können.
Als keine Anrufe mehr von Johnathan kamen, machte Arlene sich Sorgen. Sie hatten mindestens einmal wöchentlich miteinander gesprochen. Zunächst befürchtete sie, ihr Guthaben sei aufgebraucht, denn Johnathan rief stets per R-Gespräch an und dafür musste sie Geld auf eine Telefonkarte laden. Doch die Karte war voll. Sie überlegte, im Gefängnis anzurufen, aber bei wem? Auch einen persönlichen Besuch zog sie in Erwägung, doch sie war im achten Monat schwanger und musste auf den neunjährigen Leonard und den sechsjährigen Matua aufpassen.
Johnathans erster Monat in der Isolationshaft war nicht einfach. Zehn Tage lang stand er unter konstanter Beobachtung, weil er davon gesprochen hatte, sich selbst zu verletzen. Später erzählte er dem Wärter Carlos Mares, er habe so aus der Isolationszelle auf die Krankenstation verlegt werden wollen. (Stattdessen fand die Beobachtung in seiner Zelle statt.) Nach dem Ende der Beobachtung am 3. August kam es fast sofort zu einer körperlichen Auseinandersetzung mit seinem Zellennachbarn. Als der Wärter Jerime Cude eintraf, bearbeitete der Häftling Johnathan mit den Fäusten und ließ erst von ihm ab, als Cude Pfefferspray einsetzte. Johnathan verbrachte den Dienstag und Mittwoch allein in der Zelle.
Am Donnerstag, den 6. August 2015, wurden Johnathan und McCormick um 11:51 Uhr zusammen in Zelle 6 des Delta-Trakts untergebracht.
Im ersten Monat seiner Isolationshaft stand Johnathan 10 Tage unter Beobachtung, weil er davon gesprochen hatte, sich selbst zu verletzen.
Zuletzt lebend gesehen wurde Johnathan von dem Wärter K.C. Hathaway. Der 38-Jährige arbeitete seit drei Jahren in Saguaro. Er wunderte sich, dass Johnathan und McCormick in eine Zelle kamen, da Johnathan “aufgedreht” wirkte und McCormick sehr still war. Er wusste weder, dass man McCormick bereits von einem Zellengenossen getrennt hatte, noch dass er seine Medikamente abgesetzt hatte. Als Hathaway um 17:37 Uhr in die Zelle schaute, lag Johnathan auf dem oberen Bett und wirkte, wie Hathaway später der Polizei sagte, “fröhlich”. Er habe “scherzhaft nach einem Bestellformular für den Gefängnisladen gefragt”. McCormick stand still in der Zellenmitte. Hathaway fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, McCormick nickte und Hathaway ging weiter. Um 18:02 Uhr betätigte McCormick internen CCA-Berichten zufolge den Notfallknopf der Zelle, außerdem um 18:08 Uhr und ein drittes Mal um 18:11 Uhr. Der erste Ruf dauerte 5 Sekunden, der zweite 13 und der dritte 6. Die Wärterin Aisha Hobson, die eigentlich Dienst im Kontrollraum hatte, sagte der Polizei später, sie habe an jenem Abend keinen Notruf aus der Zelle erhalten. Dies könnte darauf hinweisen, dass sie entgegen ihrer Behauptung gar nicht im Kontrollraum war. 2014 räumte die CCA ein, Akten in einem Gefängnis in Idaho gefälscht zu haben, um nicht besetzte Sicherheitsposten besetzt erscheinen zu lassen. Letztes Jahr schrieb Shane Bauer für Mother Jones einen Bericht über seine viermonatige Tätigkeit als Wärter in einem CCA-Gefängnis in Louisiana. Dort wurde er Zeuge, wie Beamte “regelmäßig Sicherheitskontrollen eintrugen, die gar nicht stattgefunden hatten”.
Um 18:13 Uhr drückte McCormick den Notfallknopf ein viertes Mal. Er erreichte Hugo Guerrero, der gerade den Kontrollraum betreten hatte. McCormick sagte, sein Zellennachbar benötige ärztliche Hilfe. Mehr als 12 Minuten nach McCormicks erstem Notruf schickte Guerrero mehrere Wärter los, darunter Hathaway. Als das medizinische Personal eintraf, war Johnathans Gesicht blau angelaufen. Sie begannen mit den Wiederbelebungsmaßnahmen, während Wärter McCormick Handschellen anlegten. Auf die Frage, warum er nicht früher um Hilfe gerufen habe, sagte er: “Ich habe es versucht.”
Die Polizei in Eloy brauchte für ihre Ermittlungen in Johnathans Todesfall sechs Wochen. In Hawaii sind die Ermittlungen auch ein Jahr später noch immer nicht abgeschlossen. Derzeit erfolge “eine Prüfung durch die zuständigen Behörden”, ein Termin für eine Bekanntgabe der Ergebnisse steht nicht fest. Shelly Nobriga ist beim hawaiischen Department of Public Safety für öffentliche Informationsanfragen zuständig; offiziell ist sie “Koordinatorin für Rechtsstreitigkeiten”. Einen Monat nach Johnathans Tod forderte ich von der Behörde interne Untersuchungsberichte zu vier früheren Vorfällen in CCA-Gefängnissen mit Häftlingen aus Hawaii. In zwei Fällen ging es um plötzlich aufgehende Türen; bei den anderen um die Morde an Clifford Medina und Bronson Nunuha. Einige der Dokumente zu den Zellentüren seien möglicherweise vernichtet worden, sagte Nobriga. Andere wiederum seien vielleicht in einem Aktenschrank in einem Raum eingeschlossen, der einzige Schlüsselbesitzer sei im Urlaub, das Datum seiner Rückkehr ihr nicht bekannt. Die Akte zu Medina könne sie nicht freigeben, aus “Regierungsinteresse und zum Schutz der Privatsphäre von Zeugen”. Auch im Fall Nunuha könne sie nichts tun, weil in Arizona noch das Strafverfahren gegen seine mutmaßlichen Mörder ausstehe.
Also änderte ich meine Anfrage. Nach jedem Mord hatte Hawaii ein Ermittlungsteam nach Arizona geschickt. Ich forderte dessen Berichte an. Was hatte es zum Geschehen ermittelt? Wer war verantwortlich? Wie ließen sich derartige Todesfälle zukünftig verhindern? Nobriga rief einen Monat später an: Das Team habe keine Berichte erstellt. “Sie haben bestimmt mündlich berichtet”, sagte sie mir. “Aber schriftlich haben sie nichts festgehalten.”
Blieb nur noch die CCA. Laut ihrem Vertrag mit Hawaii müssen “interne Ermittlungsberichte” nach einem Vorfall an den Bundesstaat freigegeben werden. Ich forderte alle CCA-Berichte zu den Morden an Nunuha, Medina und Johnathan an. Nobriga erwiderte, Hawaii habe keine CCA-Berichte. Ich fragte nach einer Liste der abgeschlossenen CCA-Fälle zu Häftlingen in Saguaro. Laut Vertrag muss die CCA alle sechs Monate eine solche Liste an Hawaii übergeben. In Hawaii gibt es keine solche Liste. Ich fragte nach Dienstplänen, aber die werden Nobriga zufolge nicht aufbewahrt.
“Es ist erstaunlich, wie wenig man in Hawaii weiß”, sagt Ernest Galvan, ein Anwalt aus San Francisco, der die Familien von Nunuha und Medina vertreten hat. “Genauso erstaunlich ist, wie wenig man wissen will. Sie beauftragen Kontrolleure, die vor Ort eine Inspektion durchführen und ihre Häkchen im Formular setzen. Fließend heißes und kaltes Wasser, die Lichter brennen. Alles sehr oberflächlich. Man kriegt eine ganze Akte, aber da steht nichts drin.”
Und selbst die Häkchen sind fragwürdig. 2010 begleiteten Mitarbeiter der staatlichen Rechnungsprüferin Hawaiis die vom Bundesstaat beauftragten Inspektoren bei ihrer Quartalsinspektion in Saguaro. Sie sahen zu, wie die Inspektoren die Aussagen der CCA-Mitarbeiter entgegennahmen, “ohne die Aussagen anhand von Belegen zu überprüfen”. Ihr ausführlicher Bericht erklärte, in Hawaii herrsche bei der Überwachung der CCA “ein Mangel an Objektivität”.
Hawaii unterhält enge Verbindungen zur CCA, oder CoreCivic, wie die Firma seit 2016 heißt. In den letzten 4 Jahren hat sie mehr als 450.000 Dollar in die Lobbyarbeit bei hawaiischen Politikern investiert. Zu den mit 100.000 Dollar am höchsten dotierten Lobbyisten gehörte Douglas Chin. Im Januar 2015 ernannte ihn der hawaiische Gouverneur David Y. Ige zum Generalstaatsanwalt von Hawaii.
Arlene will wissen, was mit ihrem Sohn passiert ist: “Ich werde ihm zeigen, dass ich das nicht hinnehme.”
An einem kühlen Oktobermorgen packt Arlene vor dem Fernseher Kleidung für ihre bevorstehende Reise. Ihre Tochter Maisa, mittlerweile 14 Monate alt, wackelt durch das Wohnzimmer. “Sie läuft erst seit drei Wochen und hält sich schon für eine Expertin”, sagt Arlene. Wie aufs Stichwort fällt ihre Tochter hin und fängt mit dem Gesicht im Teppich an zu kichern.
Der Himmel ist grau, es soll noch regnen. Morgen früh werden Arlene und ihre Tochter zu ihrer 14-stündigen, aus drei Etappen bestehenden Flugreise nach Saipan aufbrechen. Arlene will zu Allerheiligen am 1. November dort sein. Sie war schon sechs Jahre nicht mehr auf der Insel, nun wird sie zum ersten Mal Johnathans Grab auf dem katholischen Friedhof von Saipan besuchen. Ihr ältester Sohn Vincent ist bereits früher mit Johnathans Asche nach Saipan geflogen, aber Arlene fühlte sich noch nicht bereit.
Die vergangenen sechs Monate hat sie damit verbracht, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Nach einigen Monaten zu Hause mit Maisa, in denen sie trauerte, wurde ihr klar, dass sie aus dem Haus musste, um nicht noch tiefer in die Depression zu rutschen. Im April fand sie einen Teilzeitjob als Kassiererin in einer Drogerie, inzwischen ist sie Schichtleiterin. Unter den Kollegen hat sie neue Freunde gefunden. “Ich versuche, immer beschäftigt zu sein”, sagt sie. Letzten Sommer hat sie einen großen Bilderrahmen gekauft und zu Johnathans Todestag eine Collage aus Bildern von ihm angefertigt. Groß, in der Mitte: das Foto von Johnathan bei der Abschlussfeier auf Maui. An einer Hand spreizt er den Daumen und den kleinen Finger zur Shaka-Geste, in der anderen hält er das Zeugnis. So möchte Arlene ihren Sohn in Erinnerung behalten: zufrieden und zuversichtlich.
In Pinal County, Arizona, sieht sich McCormick für Johnathans Tod einer Mordanklage gegenüber. Er bleibt im Gewahrsam von CoreCivic in Saguaro. Der Staatsanwalt hat Arlene kürzlich gefragt, ob sie sich vor Gericht dafür einsetzen wolle, dass der Mörder ihres Sohns die Todesstrafe bekommt. Arlene lehnte ab. “Ich möchte ihn nicht noch mehr bestrafen”, sagt sie. “Er ist krank und braucht Hilfe.”
Derlei Nachsicht hat Arlene für CoreCivic nicht. Sie hat sich einen Anwalt genommen, der vor Kurzem in Arizona Klage wegen widerrechtlicher Tötung gegen die Firma eingereicht hat. Sie wirft CoreCivic grobe Fahrlässigkeit, Rücksichtslosigkeit und bewusste Gleichgültigkeit in Bezug auf Johnathans Sicherheit vor. Da CoreCivic solche Klagen gewöhnlich außergerichtlich regelt, machte die Firma umgehend ein Angebot, das Arlene ohne Zögern ablehnte. Sie will wissen, was mit ihrem Sohn passiert ist.
“Ich weiß, dass Johnathan mir von da oben zuschaut”, sagt sie. “Eigentlich bin ich eher schüchtern. Aber ich werde ihm zeigen, dass ich das hier nicht einfach hinnehme.”
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Investigative Fund des Nation Institute entstanden.