Immer wieder liest man in den österreichischen Medien von Jugend-Gangs und ethnische Spannungen zwischen Tschetschenen und Afghanen in Wien. Die Rede ist von Messerstechereien, von jugendlichem Tschetschenen-Terror, Bandenkriegen, sogar von verängstigten Polizisten und von Jugendlichen, die vor laufender Kamera damit drohen, ihre Schwester umzubringen, wenn sie ihr Kopftuch ablegen würde.
Deshalb machte ich mich Anfang des Jahres daran, Leute zu suchen die etwas damit zu tun haben könnten. Über die Facebook-Suche “living in Vienna, born in Herat” oder “born in Grozny” erhielt ich schnell diverse Treffer: Darunter alles von jungen Typen mit einem Bund Rosen vor einer Fototapete bis zu jungen Burschen mit Flaumbart vor der Fahne der tschetschenischen Exilregierung.
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Osama hatte als Avatar ein Bild mit einer Pistole neben ein paar 500-Euro-Scheinen hochgeladen und mit #klp versehen. Ich schickte ihm eine Facebook-Anfrage und zwei Stunden später saß ich mit den Jungs vom KLP—darunter ein paar Tschetschenen—im Klieberpark im 5. Wiener Gemeindebezirk. An einem ziemlich abgefuckten Gemeindebau zeigten sie mir, in welchem Stock sie “früher”, also letztes Jahr, immer gechillt haben. Die Wohnung sei aber vom Sonderkommando Wega gestürmt worden, sagen sie.
Wie eine Art fehlgeschlagener Rorschach-Test flankieren die Spuren der Rauchgranate immer noch das Fenster im 2. Stock. Die WEGA—”oder irgendsoein Kommando halt”—hatte laut einem KLP-Mitglied mit Leitern und einer Rauchgranate versucht, die Wohnung zu stürmen. Davor seien die Burschen noch schnell über einen Nachbarsbalkon geflüchtet. Mehr ist nicht zu erfahren, außer dass jemand von ihnen am besagten Tag eine Gaspistole dabei hatte und ein Anrainer deshalb die Polizei rief, was schließlich zum Einsatz der Spezialeinheit führte.
Tatsächlich lassen sich auch unabhängig mehrere Polizei- und WEGA-Einsätze bestätigen. Nur das Ausmaß und der Skandalgrad variiert je nach Quelle. Laut Krone.tv sollen im Jahr 2014 ganze 5030 Polizei-Einsätze im Klieberpark erfolgt sein. Das wären statistisch gesehen fast 14 Polizei-Einsätze pro Tag. Das ist nicht nur unrealistisch, sondern es zeigt auch, wie es um die Sachlichkeit beim Thema Jugendkriminalität und Migranten in Österreich bestellt ist.
Trotzdem gibt es sie. Das zeigen wissenschaftliche Studien, aber auch Erfahrungen von Polizisten, Gefängniswärtern, Familienmitgliedern oder Lehrern. Oft werden aber auch sie von den Medien vor sich hergetrieben. Robert Klug, bei der Polizei Wien im Sonderkommando für Bandenkriminalität und ein Kenner der Szene, räumt ein, selbst von den “Bandenkriegen” zwischen Afghanen und Tschetschenen erst aus den Zeitungen erfahren zu haben. Er relativiert auch das Wort Bande und spricht davon, dass zum Beispiel die KLP zwar durchaus auf ein Gebiet beschränkt ist, aber nicht über die Struktur einer “Gang” verfügt, wie zum Beispiel Tätergruppen aus dem Maghreb.
Viel von dem, was der Oberstleutnant über Jugendliche erzählt, passt auf die Burschen, die ich in den Wiener Parks kennengelernt habe. Für Klug sind die Perspektivenlosigkeit und das ewige Hin und Her zwischen Haft und Nichtstun viel eher als Problem als die ethnische Herkunft.
“Ich kann nicht auf Hawara machen und am nächsten Tag mit den Handschellen kommen.”
Sobald die Burschen eine Familie gründen und ein Auskommen finden, sinke auch ihre Bereitschaft zu kriminellen Handlungen, weiß er aus seiner Erfahrung zu berichten. Ich kann nicht anders, als mir vorzustellen, dass Robert Klug der Typ von Polizist ist, mit dem sich auch die KLP-Jungs gerne unterhalten würden. Oberstleutnant Klug winkt jedoch ab: “Ich kann nicht auf Hawara machen und am nächsten Tag mit den Handschellen kommen.”
Ein paar Tage später sitze ich mit dem Ali in einem anderen Park auf der anderen Seite der Stadt. Er erzählt vom Plan eines bewaffneten Raubüberfalls und Lehrern, die es gut mit ihm gemeint haben und von verbockten Chancen in der Lehre.
Über eine tief sitzende Feindschaft zwischen Tschetschenen und Afghanen kann er nichts außer der Massen-Schlägerei am Handelskai berichten, bei der ein paar Bekannte von ihm involviert waren. Er selbst habe sehr viele Tschetschenen als Freunde. Die meisten afghanischen Jugendlichen in Wien zählen sich zur Volksgruppe der Hazara aus dem Westen Afghanistan. Ali gehört nicht dazu, kommt aber auch aus einer schiitishen Familie. Religion sei aber noch nie ein Thema in seinem Freundeskreis gewesen.
Egal, welcher Nationalität sich die Burschen zugehörig fühlen, sie alle haben die Schule verbockt und hängen mit ihren Altersgenossen in den Wiener Parkanlagen ab. Das Zuhause ist oft beengt—auch wegen einer hohen Anzahl von Familienmitgliedern oder Verwandten, die man so gut es geht unterstützt.
Ali, der inzwischen Mindestsicherung bekommt, gibt zudem einen Teil seiner staatlichen Hilfe an seine Familie weiter, die wiederum auch Verwandte in einem Flüchtlingsheim unterstützen, die auf einen Asylbescheid warten. Dort müssen Erwachsene mit 35 Euro pro Woche auskommen. Während Alis Bruder für Österreich im UNO-Einsatz im Kosovo ist, hat Ali die Schule nicht gemeistert. Zu oft hat er gefehlt, zu oft hat er auch Lehrern gedroht, obwohl er weiß, dass sie es nur gut mit ihm meinten.
Bei den Burschen in der Reportage geht es also durchaus um Jugendliche, die zumindest behördlich gesehen Teil der österreichischen Gesellschaft sind—sei es als Eingebürgerte oder Fremde mit einem Aufenthaltsstatus. Es geht nicht um Asylwerber ohne Arbeitserlaubnis, sondern um jene, die ein Recht auf eine gleichberechtigte Unterstützung vom Staat haben, was Schule, Bildung oder auch Bewährungshilfe angeht.
Tschetschenen in Wien: Zwischen Bandenkriminalität und Vorverurteilung
Die staatliche Seite ist aber völlig zweitrangig im Vergleich zu den Chancen am Arbeitsmarkt, weshalb sich manche ihren Lebensunterhalt doch mit Dealen finanzieren. Die Versuchung ist groß, auch ans “schnelle Geld” zu kommen. So traurig es für mich war zu sehen, wie viele um uns herum sich in einer Spirale von Haft und Nichtstun gefangen sehen, so glücklich war ich auch, zu erleben, dass der österreichische Staat versucht, dem entgegenzuwirken.
Oberstleutnant Binder, Stellvertreter des Anstaltsleiters in der Justizanstalt Gerasdorf, zählt im Gespräch nicht ohne Stolz die vielen Beruftlehrgänge auf, die die Jugendlichen in der Haft absolvieren können. Laut Untersuchungen werden nur 12 Prozent der Jugendlichen, die lange genug in Haft sind, um eine Lehre fertig abzuschliessen, innerhalb von 10 Jahren wieder rückfällig.
Jugendliche haben auch die Möglichkeit, eine begonnene Lehre nach Haftende woanders fortzuführen—unter ihnen liege die Rückfallquote laut Oberstleutnant Binders Informationen aber höher, bei 40 Prozent (was immer noch niedriger als die von Erwachsenen ist). Das Problem scheinen also nicht nur die Lehre oder andere Ausbildungsmöglichkeiten zu sein, sondern das Umfeld der kriminell gewordenen Burschen.