Die Schatten einer Frau und eines Mannes bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung vor einem Kinderbett
Foto: IMAGO / Addictive Stock, photothek Collage: VICE
Menschen

Gewalt in der Schwangerschaft: "Ich dachte, mein Leben ist vorbei"

Er schlägt, würgt, vergewaltigt, tritt gegen ihren Bauch. Sie will fliehen. Doch das ist schwer. Dann versucht er, sie zu töten.

Man sagt, die Schwangerschaft sei die schönste Phase im Leben einer Frau. Eine Zeit voller Vorfreude und Geborgenheit. Aber was, wenn Geborgenheit zu Angst wird? Was, wenn partnerschaftliche Gewalt vor einer Schwangerschaft keinen Halt macht? Als Helena schwanger wird, beginnt nicht die schönste, sondern die wohl schlimmste Phase ihres Lebens. Erst wird ihr Partner aggressiv, dann gewalttätig.

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Er schreit sie an und wirft Teller gegen die Wand. Später vergewaltigt er sie und schlägt gegen ihren wachsenden Bauch. Sie leben im gleichen Haus. Helena hat erst zwei, später vier Kinder. Mit ihnen einen Platz in einem Frauenhaus zu finden, ist nahezu unmöglich in Deutschland. Sie bleibt in dem Haus, gerät in einen Strudel der Gewalt und versucht immer wieder auszubrechen. 


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Wie Helena geht es etwa 10 Prozent der Frauen in Deutschland: In der Schwangerschaft erfahren sie zum ersten Mal Gewalt von ihrem Partner.  Wer schwanger wird, erhöht – statistisch – diese Gefahr. 

Helena heißt eigentlich anders. Weil ihre Geschichte sehr persönlich ist, hat sie darum gebeten, in diesem Text anonym bleiben zu dürfen. Wenn man einen Blick in ihre Vergangenheit wirft, würde man nicht vermuten, dass ihr Leben eine solche Wendung nehmen wird. Behütete Kindheit, gutbürgerlicher Haushalt, großer Garten vor der Tür. Sie studiert Pädagogik, spezialisiert sich auf Sonderpädagogik und macht eine Erzieherausbildung. "Ich sah immer das Gute im Menschen”, sagt Helena. Vielleicht war das auch naiv. Denn sie gab jedem Menschen eine Chance, auch ihrem Ex. 

Bei manchen Männern löst die Schwangerschaft Gewalt regelrecht aus. Denn in dieser Phase ist eine Frau verletzlicher. Es ist leichter, Kontrolle über sie auszuüben. Und dann ist da dieses neue Lebewesen, das in ihr heranwächst, und Eifersucht erzeugen kann, das zeigt eine Studie der Münchner Geburtsklinik.

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Für Helena fing alles nett und harmlos an. Sie lernt ihren Partner 2014 durch eine Hausbesichtigung kennen. Kurz davor hatte sie sich von ihrem Mann getrennt und suchte nach einem neuen Zuhause für sich und ihre beiden Kinder aus erster Ehe. Sie arbeitet als Lehrerin und spielt in ihrer Freizeit Klavier. "Er war ein netter, hilfsbereiter Mann, der Verständnis für meine Trennungssituation hatte", erinnert sie sich an den Anfang ihrer Beziehung zurück. Er schien einfühlsam, zugewandt und gab ihr zunächst die Sicherheit, die sie mitten in ihrer Scheidung brauchte. Eine Freundin warnte sie damals und zweifelte an seinen Absichten. "Das glaube ich nicht. Ein Mensch kann sich nicht so verstellen", erwiderte Helena damals. Da ahnte sie noch nicht, dass es der Beginn einer Odyssee der Gewalt sein wird.

 "Er war eine tickende Zeitbombe"

Ihr neuer Freund zieht nach wenigen Monaten in die Wohnung von Helena. Dort leben sie zu viert: Helena, ihr neuer Freund und ihre zwei Kinder aus erster Ehe. Helena wird von ihm schwanger. 

Als sie in der achten Woche ihrer Schwangerschaft ist, diskutiert sie mit den Kindern über das Fernsehprogramm. Plötzlich schmeißt ihr Partner die Teller gegen die Wand und schreit sie an. In ihr steigt Angst auf, sie fragt sich, warum sie das Gewaltpotenzial vorher nicht bemerkt hat. Daraufhin nimmt sie ihre Kinder und verlässt das Haus. "In diesem Moment dachte ich: Ich muss das Kind in meinem Bauch abtreiben. Ich kann das nicht." Doch sie ignoriert den Vorfall zunächst und konzentriert sich lieber auf das Baby in ihrem Bauch. 

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Dass Männer ihre Partnerin erniedrigen, etwa indem sie schreien, ist ein erster Schritt hinein in eine Spirale der Gewalt. Helenas Alltag ist damals meist einsam. Ihr Partner arbeitet viel und ist oft unzuverlässig. Die Erziehung der Kinder und der Haushalt liegen bei ihr. Zu Beginn ihrer Beziehung steckt Helena mitten in einem Sorgerechtsstreit mit ihrem Ex-Mann, dazu kommen die finanziellen Sorgen. Eine missliche Situation, die zu einer Abhängigkeit in ihrer neuen Partnerschaft führt. 

Helenas Partner sagt zu ihr Sätze wie: "Wenn das Kind stirbt, bist du Schuld." Eine Weile lang bleiben es Worte. Doch auf psychische Verletzungen folgen physische. "Man gerät leichter in diese Spirale, als man rauskommt", sagt Helena. "Er war eine tickende Zeitbombe."

"Das Badezimmer konnte man abschließen, so bekam keiner etwas mit"

Der erste Gewaltakt passiert im Krankenhaus. Die Ärztinnen wollen Helena ein Medikament verabreichen, das Wehen auslöst. Ihr Partner will das nicht. Statt die Geburt durch ein Medikament einleiten zu lassen, zieht er Helena ins Badezimmer und vergewaltigt sie.

"Du brauchst mein Prostaglandin", sagt er zu ihr. Das Hormon Prostaglandin ist in Sperma enthalten und dafür bekannt, Wehen auszulösen. "Das Badezimmer konnte man abschließen, so bekam keiner etwas mit", erzählt Helena mit belegter Stimme. All diese Erinnerungen fügen ihr Schmerzen zu. Wenn sie davon erzählt, weint sie manchmal, braucht einen Moment, um sich zu sammeln, und spricht weiter. 

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"Wenn du meiner Mama weh tun willst, musst du erst an mir vorbei"

Kurz nach der Geburt wird Helena zum zweiten Mal von ihm schwanger, obwohl sie die Anti-Baby-Pille nimmt. Als sie gemeinsam mit ihrem Säugling unter der Dusche steht, entreißt ihr Partner ihr das Kind. Sie greift nach ihrem Kind, verliert die Balance und stürzt mit der Hand in die Glaswand der Dusche. Das Glas zerspringt. Helena schlitzt ihre Hand auf. Sie verliert an diesem Tag zwei Liter Blut und muss den Krankenwagen selbst rufen. Ihre Sehnen, Nerven und Arterien der Hand werden an diesem Tag durchschnitten. Eine 8,5 stündige Notoperation rettet sie, jedoch fehlt bis heute eine Sehne ihres kleinen Fingers. Ihre Beweglichkeit ist stark eingeschränkt. Klavierspielen ist mühsam geworden. An die Worte ihres Partners erinnert sie sich genau: "Das ist alles deine Schuld. Ist mir scheißegal, was mit dir passiert." 

In der zweiten Schwangerschaft wird es laut Helena schlimmer. "Vielleicht, weil er gespürt hat, dass ich weg wollte. Er fragte ständig: "Ist es wirklich mein Kind?"

Im siebten Monat ihrer Schwangerschaft, im Februar 2017, befindet sich ihr Arm noch in einer Schlinge. Sie fasst all ihren Mut zusammen und widerspricht ihm – ihr erster Befreiungsschritt. Ein Schritt, der brutal endet. Was genau sie sagte, weiß sie heute nicht mehr. "Es war irgendwas, das seine Männlichkeit verletzte", erinnert sich Helena. Er drückt sie mit der Hand an der Kehle gegen einen Schrank. "Ich töte dich jetzt", sagt er. Er hebt sein Bein und tritt in ihren Bauch. Es ist Glück, dass ihrem Kind nichts geschieht. Ihre damals 15-jährige Tochter unterbricht die Situation. "Wenn du meiner Mama weh tun willst, musst du erst an mir vorbei", sagt sie. Er hört auf.

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Aber nur für kurze Zeit. Gewalt ist ein Teufelskreis. Untersuchungen zeigen, dass eine Schwangerschaft Gewalt nicht nur triggern kann, sondern auch im Nachhinein zu weiteren Stressoren führt. Situationen, die früher vielleicht zu einem Streit führten, können jetzt zu Ausbrüchen von physischer Gewalt führen. Dabei spielen Rollenerwartungen an Partner und die finanzielle Situation eine große Rolle. Im neunten Monat der Schwangerschaft vergewaltigt er Helena erneut. Er wirft sie aufs Bett, drückt ihren Bauch auf die Matratze und hält ihre Arme fest. "Das gefällt dir doch. Du brauchst das." Eine Woche starker Schmerzen am ganzen Körper folgen. Sie hat Angst vor einer Totgeburt. "Wer weiß, was er hätte kaputt machen können."

Sie wollte sterben vor Angst, Scham und Schmerzen, sagt sie heute. Helenas Selbstwertgefühl leidet in dieser Zeit stark.  Bis heute bleiben die Erinnerungen wie Phantomschmerzen aus Helenas Vergangenheit bestehen. Lange Zeit leidet Helena unter Suizidgedanken. Noch heute kehren sie manchmal zurück. Inzwischen hat sie gelernt, mit diesen Gedanken umzugehen.

"Es ist wie bei einem Frosch im kalten Wasser eines Kochtopfs: Er bleibt sitzen, obwohl es irgendwann zu heiß wird"

Dass Helena nicht von ihrem gewalttätigen Partner weg kann, liegt vor allem an ihrer Wohnsituation. Helena geht mit einer Privatinsolvenz aus ihrer Ehe. Darum kann sie keine neue Wohnung mieten, als ihre alte Wohnung gekündigt wird. Gemeinsam entscheiden sie und ihr Partner 2015, ein günstiges Haus zu kaufen, da Helena im achten Monat schwanger ist. Der Kauf läuft über seinen Namen. Denn wer insolvent ist, bekommt keinen Kredit von der Bank. Helena stottert aber die Schulden für das Haus ab. Schließlich verdient sie gut als Lehrerin.  Sie überweist Geld von ihrem Konto auf seins. Er überweist das Geld an die Bank. Beide vereinbaren mündlich: Sie zahlt das Haus ab, zahlt auch für Nebenkosten und Renovierungen, er überschreibt es ihr später. Darum weiß sie nicht wohin: Mit einer Privatinsolvenz eine Wohnung zu finden, ist nahezu unmöglich in Deutschland. Als Frau mit vier Kindern in einem Frauenhaus aufgenommen zu werden, ist ebenso unwahrscheinlich. 

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Helena fühlt sich allein. Ihre Situation scheint ausweglos. Viele Betroffene haben Angst, dass ihnen das Baby weggenommen wird. Gleichzeitig treten verschiedene, einander widersprechender Gefühle auf:  Scham, Schuld, Wut, Angst, Kränkung einerseits, aber die Hoffnung, auf eine mögliche Besserung der Beziehung zum Täter andererseits.

Helenas Partner schlägt sie immer wieder. Das geht mehrere Jahre so. "Irgendwann wird’s die Faust und nicht nur die Ohrfeige. Es ist wie bei einem Frosch im kalten Wasser eines Kochtopfs: Er bleibt sitzen, obwohl es irgendwann zu heiß wird. In heißem Wasser würde er sofort rausspringen", erklärt Martina Kruse, Traumaberaterin und Hebamme. Den Absprung aus dem heißen Topf zu schaffen, ist schwer, insbesondere in einer verzwickten Wohnungssituation.

"Ich bleibe, bis du tot bist"

Nach einer Familienfeier 2018 gibt ihr Partner Helena eine Kopfnuss. So bricht er ihre Nase und schlägt ihr einen Zahn aus. Helena zeigt ihn an. Bei der Festnahme hatte er zwei Promille Alkohol im Blut. Sie beantragt eine Gewaltschutzanordnung beim Familiengericht. Ein Richter verweist ihn aus dem Haus, um Helena vor weiterer Gewalt zu schützen. Doch er schafft es, die Hauszuweisung vor Gericht auf 6 Wochen zu verkürzen. 

Er erpresst sie:  Er sagt, er würde ihr das Haus übertragen, wenn sie vor dem Gericht aussagt, es sei eine Affekthandlung gewesen, ein Ausrutscher. Sie lässt sich auf den Deal ein. Doch die Hausübertragung findet nicht statt. 

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Er schläft ab sofort im Schlafzimmer, sie schläft jede Nacht bei den Kindern. Ständig schwankt er zwischen "Ich gehe" und "Ich bleibe, bis du tot bist". Helenas Problem bleibt: Ohne neue Unterkunft kann sie nicht ausziehen. Ihren Eltern will sie nicht zur Last fallen, denn ihr Vater ist krank und sie will nicht riskieren, dass sich sein Zustand durch ihre Situation verschlechtert. 

Das Familiengericht verurteilt ihn zu einer Geldstrafe und setzt die Strafe auf Bewährung aus. Danach schlägt Helenas Partner sie nicht mehr. Er erniedrigt sie mit Worten. Psychische Gewalt ist vor Gericht nicht haltbar. Ohne blaue Flecken kein Beweis. Oft kommt es in einer toxischen Partnerschaft zu einer Art psychologischer Schuldumkehr. Viele denken, dass es einen Auslöser für Gewalt geben muss, aber das ist nicht so – Gewalt ist willkürlich. Sie kann in einer scheinbar glücklichen Ehe, in jedem sozialen Status sowie kulturellem Hintergrund stattfinden. "Gewalt ist nicht eindimensional", erklärt die Traumatherapeutin Martina Kruse. Nicht jeder kann aussteigen. Gewaltbetroffene Frauen begleitet die Angst vor einer Bestrafung durch den Täter, falls sie sich trennen. Andere fürchten den finanziellen Ruin oder einen Sorgerechtsverlust.

Helena hat lange Todesängste. Eine Zeit lang läuft sie von einem Hilfsangebot zum nächsten. Manchmal droht er, sie zu ermorden. "Du kommst hier nicht mehr lebend raus", sagt er dann. Über Monate quält er sie – trotz der Trennung. Er stiehlt ihr Geld, sodass Helena kein Heizöl nachbestellen kann und das Haus über Wochen kalt bleibt. Obwohl ihr das Haus nun endlich gehört, geht er nicht und sie hat keine Wahl, als zu bleiben.

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Mitte 2020 attackiert er sie wieder: Er schlägt sie, würgt sie und versucht, sie zu töten. "Ich bin nüchtern und weiß was ich tue", sagt er. Helena gelingt es nach anderthalb Stunden, zu ihren Nachbarn zu fliehen. Sie blutet stark. Die Nachbarn rufen die Polizei und den Krankenwagen. Bei seiner polizeilichen Aussage versucht er, sich rauszureden. Helena hätte ihn wütend geschlagen und sei gegen den Ring an seinem Finger gestoßen.

Helena zeigt ihn zum zweiten Mal wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung an. Bis dieser Tötungsversuch verhandelt wird, vergehen zwei Jahre. Das Urteil: eine Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung. Erst nachdem er versucht hat, Helena zu töten, kann sie erneut eine Wegweisung und Gewaltschutz beantragen. Durch diese muss er am Tag der Tat 2020 das Haus endgültig verlassen. Doch er bleibt am selben Ort. Noch heute droht er ihr und verfolgt sie. 

"Ich hätte mir meine Geschichte vor Jahren nicht geglaubt"

Helena ist seit Jahren in Therapie, insgesamt über 100 Stunden hat sie  hinter sich. Doch irgendwann zahlt die Krankenkasse nicht mehr. Noch immer leidet sie unter dem, was geschah. Eine Beraterin von der Frauenberatungsstelle "Frauen-helfen-Frauen” steht ihr zur Seite. Helena hat zwar gelernt, mit ihren Traumata umzugehen, aber die Erinnerungen verfolgen sie. Ihrer größten Tochter geht es genauso. 

Helena engagiert sich heute in Vereinen und Facebook-Gruppen, will aufklären und anderen Frauen aus dem Strudel der Gewalt helfen. Das Singen in der Kirche und die Gespräche mit ihrem Pfarrer helfen ihr, die Traumata nach und nach zu verarbeiten. Denn sie selbst hat es geschafft, zu entkommen und möchte, dass auch andere Betroffenen ihre Hoffnung nicht verlieren. Heute vertraut sie nicht mehr so schnell, ist eher skeptisch. Ihr fällt es schwer, sich zu öffnen. "Ich hätte mir meine Geschichte vor Jahren nicht geglaubt", sagt Helena. Ihre Perspektive hat sich geändert und das für immer. 

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