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Ich war in einer katholischen Verbindung – es war die aufregendste Zeit meines Lebens

Vice-Autor Lorenz Jeric in Anzug im Aufenthaltsraum einer Studentenverbindung

Ich werde nie vergessen, wie ich sonntagmorgens in der Kirche saß. Ich konnte das Liederbuch kaum lesen und meine Ohren dröhnten. Zwei Stunden vorher hatte ich den Technoclub hinter dem Hamburger Hauptbahnhof verlassen. Das war zu meiner Zeit in der Studentenverbindung. Drei Jahre habe ich da gewohnt, während meines Bachelors. Gut, es war keine richtige Studentenverbindung. “Wir sind ein studentischer Verein”, haben wir immer gesagt. Damit wollten wir uns von rechten Studentenverbindungen abgrenzen und Klischees aus dem Weg gehen.

Als ich einzog, war ich 19. Ich hatte wenig Ansprüche und nur ein paar Tage Zeit, um ein Zimmer in Hamburg zu finden. Für die hippen WGs mit den Künstlerinnen und Marketing-Menschen fehlten mir Geld, Kontakte und die nötige Coolness. Die vielversprechende Anzeige auf WG-Gesucht hatte ich schnell gefunden: “Großes Zimmer in Studenten-WG neben der Uni.” Die Wohnung gehöre einem katholischen Studentenverein.

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Ich war nervös und überwältigt, als ich zum ersten Mal in die Wohnung kam. Gut, an der Wand hing eine versiffte Fahne mit den offiziellen Farben des Vereins und auf der Klingel stand der lateinische Name. Aber es gab ein Klavier, sieben Zimmer, drei Balkone und einen Bierkühlschrank. Die beiden Jungs, die mir die Wohnung zeigten, waren sympathisch. Sie saßen mittags beim Frühstück und trugen weder Bootsschuhe noch Seitenscheitel. Die beiden antworteten geduldig auf meine Fragen – das mussten sie auch. Denn Studentenverbindungen haben einen schlechten Ruf. Sie singen Volkslieder und hissen Deutschlandfahnen. Alles, was ihre Mitglieder wollen, ist saufen und fechten. Heute weiß ich, dass manches davon stimmt.


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Manche Verbindungen fechten, viele nicht. Einige sind farbentragend, also mit Mütze und Schärpe unterwegs. Andere sind das nicht. Es gibt vergleichsweise harmlose Verbindungen, die sich vor allem durch Turnen, Jagen, Beten oder Musik auszeichnen. Und es gibt rechtsextreme Burschenschaften, die mit der Identitären Bewegung kooperieren. Aber zwei Sachen haben alle gemeinsam: Durst und starre Hierarchien. Wer neu anfängt, wird Fuchs genannt und muss sich erst beweisen. Später wird man Bursche oder Dame und kann verschiedene Ämter belegen. Wer sein Studium beendet, bleibt im Idealfall für immer dabei. So finanzieren die Älteren das Leben der Jüngeren. Klingt eigentlich solidarisch, hat aber einige Haken: Viele Verbindungen akzeptieren nur Männer. Manche sortieren nach Konfession oder Nationalität. Selbst die liberaleren Vereine sind konservativer als alle anderen Menschen, die ich kenne. Dass ich mich daran stoßen würde, ich hätte es ahnen können. Trotzdem bin ich eingezogen.

Die Altbauwohnung zwischen Uni und Alster habe ich mir mit sechs anderen Männern geteilt. Typen in meinem Alter, irgendwo zwischen Abi, Bachelor und Staatsexamen. Rund 200 Quadratmeter grenzenloses Testosteron. Lautes Gebrüll und literweise Bier waren Standard. Nachts aus dem Schlaf gerissen werden, weil jemand ein Bier exen will? Normalität. Heute verstehe ich, wieso meine Mutter sich manchmal Sorgen gemacht hat. Damals habe ich zwei Augen zugedrückt und laut drüber gelacht.

Ständig habe ich meine Wohnsituation verteidigt – gegenüber anderen und gegenüber mir selbst: “Wir sind nicht rechts, wir fechten nicht und wir tragen keine Schärpen oder Uniformen.” Das stimmt. Wir hatten weniger Traditionen und Regeln als die Verbindungen, über die Antifa-Magazine oder öffentlich-rechtliche Reportagen berichten. Aber auch unser Verein hatte diskriminierende Regeln und abstruse Bräuche. Wer einziehen wollte, musste christlich sein. Und nur Katholiken konnten in der Hierarchie aufsteigen. Es gab ein offizielles Programm zum Austausch mit unseren Vorgängern und anderen Studentenverbindungen. Das offizielle Highlight jedes Semesters: die Kneipe, ein traditionelles Fest, bei dem Bier getrunken wird und Volkslieder gegrölt werden. Ein Vorsitzender entscheidet, wann gesungen und wann geext werden muss und wann man aufs Klo gehen darf. “Student sein, wenn die Veilchen blühen” habe ich immer noch im Kopf.

Bis zum Schluss hatte ich Bammel bei diesen Abenden, aber mit Selbstironie und den richtigen Leuten auch irgendwie Spaß. Bei einer Kneipe hatten wir Stress mit einer anderen Verbindung, weil wir die Nationalhymne nicht in das Programm aufnehmen wollten. Spätestens da wusste ich, wie problematisch dieses Umfeld ist. Und wo meine Mitbewohner ihre Grenzen ziehen.

Zu Hause haben wir gemeinsam über die anderen gelacht. Über die rechten Verbindungsstudenten, über die Rentner, die uns im Gegenzug für das Theater die Wohnung finanzieren. Und auch über uns, die das schräge Spiel mitspielen. Das schweißt enorm zusammen. Da waren wir uns einig, obwohl es sonst auch viel Reibung gab. Ich habe mit Typen zusammengelebt, mit denen ich mich sonst nicht unterhalten hätte. Und mit anderen, bei denen es direkt geklickt hat. In unserer WG sind Bubbles kollidiert, die sich sonst nicht begegnet wären. Aber einige der Leute sind bis heute meine engsten Freunde. Deshalb bin ich geblieben.

Vice-Autor Lorenz Jeric stapelt Bierkisten
Der muffige Geruch von Altglas bleibt hängen

Und natürlich bin ich auch wegen der Privilegien geblieben. Mein Zimmer war groß, hell und hatte einen Balkon. Die Uni war so nah, dass ich zu Hause ihr WLAN nutzen konnte, wenn unser Internet mal wieder ausfiel. Zwischen zwei Seminaren konnte ich meine Kommilitonen schnappen und kurz nach Hause gehen. Vier Leute, fünf Minuten Fußweg, Sixpack Bier. Irgendwas ging immer. In dieser Wohnung habe ich alles erlebt, was man im Studium so erleben kann: verkatert Gruppenarbeiten besprechen, breit in der Abendsonne grillen und unendlich viele Partys. Die Tür stand immer offen und meine Freundinnen und Bekannten kamen gerne. Und die Freunde meiner Mitbewohner auch. Wenn sieben Leute ihre Leute einladen, kommen einige zusammen. Manche Fotos aus der Zeit erinnern an die Kommune 1. Oder an die Saufgelage in einem drittklassigen Partyhostel.

Das fensterlose Wohnzimmer war oft ein Mosaik aus halbleeren Flaschen und Pizzakartons. In der Küche stapelten sich geklaute Mensateller und Dönerreste. Und der Geruch von klebrigen Mischen, vollgekotzten Badezimmern und bedenklichen Mengen Gras war nach den Wochenenden nur schwer aus der Wohnung zu kriegen. Aufgeräumt wurde immer dann, wenn wir Besuch hatten: von Couchsurferinnen, Bekannten, Freunden von Freundinnen. Viele wussten von der großen Wohnung, und einen freien Schlafplatz hatten wir meistens. Gastfreundschaft gehört zu den Prinzipien von Verbindungen.

Das heißt aber auch: Andere Verbindungsstudenten klingeln nachts und wollen saufen. Aufgemacht haben wir selten, gestört haben sie uns trotzdem. Einmal sollten wir deshalb sogar aus der Wohnung fliegen. Ein Alter Herr, also ein ehemaliger Student aus dem Verein, hatte mitbekommen, dass sein Bekannter an der Tür weggeschickt wurde. Also kam er angesoffen vorbei, um uns anzuschreien und zu prüfen, ob wir noch loyal gegenüber dem Verein sind. Noch nie hat mich irgendwer so angebrüllt und beleidigt, aber in Studentenverbindungen gehört Autorität nunmal dazu. Ich konnte mich damit nie anfreunden und trotzdem habe ich es hingenommen. So bequem muss man erstmal sein.

Zeitweise habe ich das gelebt, was sich – pathetisch formuliert – wie ein Doppelleben angefühlt hat: freitags Party in der roten Flora, samstags Singen mit CDU-Rentnern. Bei solchen Veranstaltungen habe ich oft Fotos gemacht, damit ich selber nicht abgebildet bin. Ich wollte nicht mit dem Verein in Verbindung gebracht werden. Und damit war ich nicht alleine. Wir haben uns immer weiter abgeschottet. Das Telefon unseres Wohnheims, wie die abgerockte Wohnung offiziell heißt, war nicht mehr angeschlossen. Unsere Website haben wir nicht aktualisiert, damit man unsere Namen nicht über Google findet. Und wenn jemand auszog, waren wir auf der Suche nach neuen Mitbewohnern, die das Wappen an der Wand eher tolerieren als abfeiern. Andere Verbindungen haben uns irgendwann ausgelacht, die Hohen Damen und Alten Herren in unserem Verein waren enttäuscht.

Damals hat sich das wie ein guter Deal angefühlt. Tausche gelegentliche Kaffeekränzchen gegen aufregende WG. Wir gegen die. Heute fühlt es sich opportunistisch an. Dass ich als 19-Jähriger eingezogen bin und den Zirkus mitgemacht habe, kann ich mir verzeihen. Aber dass ich dabei geblieben bin, obwohl ich so viel daran falsch fand, macht mir zu schaffen. Von anderen Menschen erwarte ich Rückgrat, aber ich habe meine Ideale mal eben links liegen lassen. Nach zwei Gläsern Wein diskutiere ich mit Freunden über unsere Privilegien, aber dass in meiner WG nur christliche Männer wohnen durften, habe ich drei Jahre lang hingenommen.

Ein Hals mit einem Tattoo
Mit Klebe-Tattoo waren wir die Stars auf dem Verbindungstreffen

Irgendwann wurde das Gefühl zu erdrückend. Neuen Leuten wollte ich nicht mehr erzählen, wo ich wohne. Ich konnte einfach nicht dazu stehen, dass Jesus in meinem Wohnzimmer hing. Zwar mit verkohlten Füßen und abgebrochenem Arm, neben einer Europaflagge und “FCK-NZS”-Stickern. Aber er war nun mal da. Und mit ihm mein schlechtes Gewissen gegenüber dem Verein, den alten Leuten, denen ich immer den braven Christen vorspielen musste. Und mein schlechtes Gewissen gegenüber mir selbst, weil ich bei alldem am Start war.

Das alles zu verteufeln, wäre zu einfach und nicht ehrlich. Ja, ich habe von einem fragwürdigen Verein profitiert und Rituale weggelächelt, die ich heute kritisiere. Aber ich habe in der Zeit auch meine engsten Freunde und Freundinnen kennengelernt und die aufregendste Zeit meines Lebens erlebt. Wie das zu dem passen soll, der ich heute bin, weiß ich immer noch nicht. Was ich weiß, ist, wie man einen halben Liter Bier ext. Und dass ich auf mein Gewissen hören muss. Denn sich zu irren, ist halb so wild. Auf eigene Ideale scheißen, nicht.

Mittlerweile wohne ich in einer neuen WG. Aber wenn es abends plötzlich klingelt, bin ich immer noch angespannt.

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