„The mob is man voluntarily descending to the nature of the beast.”
(Ralph Waldo Emerson, Philosoph und Schriftsteller)
Die Ultrà-Kultur hat sich in den letzten Jahren zu einer politischen und soziokulturellen Jugendbewegung in Deutschland entwickelt. Dabei geht sie über die bedingungslose Unterstützung des eigenen Vereins noch hinaus. Es ist eine Lebenseinstellung, ein Ventil, sei es politisch oder im Hinblick auf verbotene Substanzen. Und wenn man sich die omnipräsenten Northface-Jacken und New-Balance-Turnschuhe anschaut, ganz klar auch eine modische Bewegung. Dabei waren es nicht die Deutschen, die das Fantum zu einer eigenen Kultur erhoben und ein wichtiges modisches Statement gesetzt haben.
Wer Ende der 70er zu Spielen vom FC Liverpool ging, konnte erleben, wie immer mehr Hooligans in feinem Zwirn Richtung Kop marschierten. Die jungen Männer aus der Arbeiterschicht, die sich neben Fußball vor allem für knackige Faustkämpfe gegen rivalisierende Fangruppen interessierten, hatten wie aus dem Nichts ein Faible für Fashion entwickelt. Plötzlich war es verdammt wichtig, sich nicht nur einfach so für die eigene Mannschaft zu prügeln, sondern möglichst mit Adidas-Sneakers, Burberry-Schal und Stone-Island-Windbreaker. Was war passiert? Die „Casuals” waren geboren. Und sie leben bis heute fort.
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Verdammt gut gekleidete Schläger
In den 70ern war Liverpool das Maß aller Dinge im englischen Fußball. Darum war man auch Jahr für Jahr auf europäischer Ebene vertreten. Und egal, wo die Reds ein Auswärtsspiel hatten—Rom, Paris, Madrid—ihre Fans waren immer mit von der Partie. Und weil selbst englische Hooligans mal eine Pause vom Biertrinken und Prügeln brauchen, machten sie die ausländischen Einkaufsstraßen auf der Suche nach Sportklamotten unsicher. Dabei entdeckten sie Modelle und Marken, die es auf der Insel nicht gab. Wie passend, dass zu der Zeit die britische Wirtschaft unter Margaret Thatcher einen Boom erlebte, weswegen man auch vor Luxusmarken keinen Halt machte (und sich damit in vielen Fällen finanziell ordentlich übernahm).
Doch den Casuals ging es mit ihrem neuen Outfit nicht nur um ein ästhetisches Upgrade. Sie fanden in den Luxusklamotten außerdem eine Art Camouflage, dank der sie—bis auf die beliebte Club-Anstecknadel—auf den ersten Blick nicht mehr als Fußball-Anhänger zu erkennen waren und so der Polizei leichter aus dem Weg gehen konnten. Außerdem konnten sie sich so undercover in feindliche Fankneipen reinschleichen und dort ihrem zweiten großen Hobby—der Schlägerei—nachgehen.
Denn Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Fanlagern spielten sich nicht mehr nur im und ums Stadion ab, sondern überall dort, wo man sich auf „feindliches Territorium” begab (Diskotheken, Pubs usw.), wie Thomas König in „Fankultur: eine soziologische Studie am Beispiel des Fussballfans” beschreibt. Casuals agierten nicht alleine, sondern waren in Gruppierungen, sogenannten „Crews” oder „Firms”, organisiert, die ihre Freizeit auch über den Fußball hinaus miteinander verbrachten. Diese Crews bestanden laut König zumeist aus einem harten Kern von rund 150 Mitgliedern und einer Mitläuferschaft von bis zu 500 Personen. Besonders hervorzuheben sind hierbei die „Headhunters” von Chelsea und die „Inter City Firm” von West Ham. Dass beide Crews aus London kommen, ist kein Zufall. Denn vor allem in Ballungszentren mit vielen Vereinen, wie eben London, gab es König zufolge ausgedehnte Rekrutierungsbereiche mit einer besonders ausgeprägten Rivalität untereinander.
Doch zurück zum Modeaspekt innerhalb der „Casuals”-Subkultur: Einen besonders hohen Stellenwert hatten Turnschuhe, obwohl man wohl besser von „Sneakers” sprechen sollte. Was man nämlich gerade nicht am Fuß haben wollte, waren langweilige 0815-Treter. Besonders beliebt waren Adidas-Modelle (Stichwort: Samba), wobei man stets nach den neuesten und exklusivsten Modellen Ausschau hielt. Der ehemalige Frontman der Indie-Band „The Farm” Peter Hooton—der jahrelang selbst ein Casual war, sich aber stets von den Gewaltexzessen distanziert hat—hat gegenüber der schottischen Tageszeitung Herald Scotland eine nette Anekdote zum Besten gegeben:
Man schrieb das Jahr 1981 und Liverpool stand mal wieder im Finale des Europapokals der Landesmeister (das man gegen Real Madrid gewinnen sollte, der dritte Triumph in fünf Jahren). Das Endspiel sollte in Paris unter der Woche stattfinden, doch Tausende Reds-Fans waren schon am Wochenende zuvor aufgebrochen. Auf der Fähre Richtung Frankreich machte dann das Gerücht die Runde, dass es in Paris einen Laden namens „The Adidas Centre” geben solle. Dort würden Modelle verkauft werden, die man nirgendwo sonst auf der ganzen Welt bekommen könnte. Auf der Suche nach dem Heiligen Gummisohlen-Gral zogen Hunderte Liverpool-Hooligans das ganze Wochenende von Sportgeschäft zu Sportgeschäft, ohne jedoch fündig zu werden. „Es war wohl bloß ein Mythos. Ich glaube, dass der Laden niemals existiert hat”, so Hooton im Herald-Interview. „Ab Montagmorgen hatten dann alle Pariser Sportgeschäfte entweder dichtgemacht oder Security vor der Tür stehen”.
Die Ultra-Szene ist auch im US-Fußball angekommen
Neben Adidas wurde auch Stone Island immer wichtiger. Kein Wunder, war die Marke mit dem Kompass-Badge doch bekannt dafür, viel Geld in die Entwicklung von besonders robusten Materialien zu stecken. Und wenn man sich schon als Arbeiterkind einen feinen Zwirn zusammengespart hat, will man keinen, der nach der ersten Prügelei Löcher und offene Nähte hat. Wie beliebt die Marke unter Casuals war, wurde im Spielfilm The Football Factory deutlich.
Übrigens sollte es nicht überraschen, dass sich Casuals über Mode definierten. Denn erstens ist das Streben nach „Dandy-tum” ein wiederkehrendes Motiv der britischen Jugendkultur. Was laut Phil Thornton—einem Ex-Casual, der über die Bewegung ein Buch geschrieben hat—auch für die Arbeiterschicht gilt. „Die britische Arbeiterklasse hat sich schon immer für das Thema Mode begeistert und sich so gekleidet, dass sie auffallen. Auch um zu signalisieren: Wir lassen uns nicht unterkriegen.” Zweitens ist es absolut typisch für Jugendbewegungen, dass man sich über seine Kleidung vom Rest der Gesellschaft abzuheben versucht.
Wenig beachtet, viel verachtet
Wohl aufgrund ihrer regelmäßigen Gewaltexzesse—denn auch wenn es stylishe Hooligans waren, waren es trotzdem Hooligans—ist von den Casuals in Modebüchern und -magazinen bis auf wenige Randnotizen nichts zu lesen. Und das, obwohl sie unter britischen Jugendlichen ein bleibendes Mode- und Markenbewusstsein geprägt haben. Denn wer heute in Großbritannien zu Fußballspielen geht, sieht viele junge Männer, die noch immer dieselben Marken tragen wie einst die Casuals. Was übrigens auch damit zu tun hat, dass sich Casuals nicht bloß auf Jogging-Jacken und Sneakers reduzieren lassen. Nein, im Laufe der Jahre haben sie ordentlich diversifiziert und neue Modetrends in ihre Kleiderwahl einfließen lassen. Zeitweise kloppte man sich sogar in Tweedjacken oder Tenniskleidung. Die Tatsache, dass immer mehr Hooligans teure Klamotten für sich entdeckten, stieß bei den Modelabels verständlicherweise auf nur wenig Gegenliebe. So meinte mal die frühere Vorstandsvorsitzende von Burberry, Rose Marie Bravo, in einem Interview, dass die vielen „chavs” (Proleten), die sich Kleidungsstücke des seit 1856 bestehenden Traditionsunternehmens zugelegt hatten, der Marke in Großbritannien sehr geschadet hätten. Ouch.
Dan Rivers—Autor des Buchs You have just met the casuals und ehemaliges Mittglied der berüchtigten „Aberdeen Soccer Casuals”—beschreibt die Situation der gesellschaftlichen Geringschätzung wie folgt: „Im Gegensatz zu Mods oder Punks gab es über die Casuals keinerlei Theoriebildung. So wurden sie von Soziologen weitestgehend ignoriert.” Das galt selbst für damalige „In-Magazine” wie The Face. Hooton erinnert sich: „Kevin Sampson schrieb damals The Face an und schlug ihnen ein Piece über Casuals vor. Sie lehnten aber dankend ab, weil sie der Auffassung waren, dass das Thema niemanden interessieren würde.”
Casuals als Exportschla(e)ger
Was in Liverpool—und kurz darauf in London—begann, erreichte innerhalb kürzester Zeit auch andere Teile Großbritanniens. Die erste schottische Stadt, die mit Casuals in Berührung kam, war Aberdeen. Auslöser hierfür—sowie für die Gründung der „Aberdeen Soccer Casuals”—war laut Rivers ein Europapokalspiel zwischen Aberdeen und Liverpool im Oktober 1980, wie er in der Herald beschreibt: „An jenem Tag sahen wir, dass ein Teil der Auswärtsfans schicke Sportklamotten trug: Jogging-Jacken von Designermarken und flippige Turnschuhe.” Als Reaktion darauf machten sich kurz danach auch die ersten Aberdeen-Fans überall in Schottland auf die Suche nach coolen und ausgefallenen Kleidungsstücken.
Passenderweise feierte Aberdeen in den Jahren danach auch in Europa große Erfolge und konnte so seinen Fans besonders viele Auswärtsfahrten—und damit Shoppingtouren in den Modehochburgen des Kontinents—ermöglichen (1983 gewann man unter Trainer Alex Ferguson sogar den Europapokal der Pokalsieger). In der Folge entstanden auch in anderen Teilen Schottlands Casuals-Firms (etwa bei Hibernian und Motherwell). Dank des Öls hatten viele Schotten übrigens besonders tiefe Taschen und konnten beim Sneaker-Einkaufen aus dem Vollen schöpfen.
Von den Stadien in die Clubs
Ende der 80er bewegten sich immer mehr Casuals weg von den Fußballstadien. Ein wichtiger Grund dafür waren zwei verheerende Stadiontragödien: die Heysel– und die Hillsborough-Katastrophe. Im Zuge des Heysel-Dramas—ausgelöst von ausschreitenden Liverpool-Fans—entschied die britische Regierung, knallhart gegen Hooliganismus vorzugehen und erließ eine Reihe von verschärften Gesetzen, die mit jahrelangen Gefängnisstrafen drohten. Außerdem wurde beschlossen, Stehplätze in den Stadien abzuschaffen. Die Casuals hatten ihr natürliches Habitat verloren.
Da passte es perfekt, dass Anfang der 90er-Jahre elektronische Musik so richtig durchstartete—und mit ihr auch die neue Designerdroge Ecstasy. Immer mehr Casuals zog es in die Clubs—und das auch als Protagonisten. Denn wenn man nach einem Vermächtnis der „Casuals”-Subkultur sucht, dann nicht nur in den Fußballstadien der Insel. Erfolgreiche Bands wie Happy Mondays—die sich komplett aus Ex-Casuals zusammensetzte—brachten den typischen Casual-Look von den Stehplätzen in die Clubszene. Den Casual-Einfluss auf die Mode in der Musikszene kann man übrigens auch bei Mike Skinner sehen.
Genau das sollte auch das Schlusswort sein. Natürlich sind die ursprünglichen Casuals-Haudegen längst in die Jahre gekommen und haben mit Stadiongewalt fast nichts mehr am Hut. Doch auch ohne die „echten” Casuals lebt die Subkultur in den modischen Entscheidungen vieler junger britischer Hooligans und Diskogänger fort—ob das nun der Modebranche passt oder nicht.