“In New York leben über acht Millionen Menschen. Mit uns können sie allen aus dem Weg gehen.”
Solche und ähnliche Slogans hat man in den letzten Monaten überall in den U-Bahnen von New York gesehen. Der Online-Lieferdienst Seamless verspricht den Pendlern eine Welt, in der sie “ohne nervige andere Gäste in Ruhe brunchen können”, denn “Kochen kann man immer noch, wenn man tot ist.” Seitdem ich 2013 nach Brooklyn gezogen bin, habe ich Hunderte Male über Seamless bestellt und deshalb weiß ich, dass an ihrer Werbung was Wahres dran ist.
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Ich habe mich genauso vor dem Kochen gedrückt wie auch vor den Menschenansammlungen auf dem Times Square. Außerdem komme ich mit dem Lieferanten besser klar als mit den meisten anderen Menschen. Auf Dating-Plattformen gebe ich auch gern an, dass mich Lieferessen antörnt (hätte ich so ein Profil).
Da ist es kein Wunder, dass ich an Depressionen und Sozialphobie leide. Jahrelang bin ich von Therapeut zu Therapeut gerannt, habe die ganze Zeit die Pros und Contras von Antidepressiva abgewägt und fühlte jeden Morgen diese quälende Leere und die Existenzangst. Obwohl ich nicht glaube, dass meine Essgewohnheiten direkt was mit meinem Zustand und meinen Depressionsanfällen zu tun hatten, hat die Tatsache, dass ich drei Mal am Tag online Essen bestellt und wenig mehr als ein paar Worte mit einem anderen Menschen gewechselt habe, doch zu einem ziemlichen unausgeglichenem Lebenswandel und einem Gefühl der Einsamkeit und der Isolation geführt.
Aber seit ein paar Monaten habe ich endlich angefangen, für mich selbst zu kochen. Schon allein die körperliche Betätigung lässt Stress und Angst sofort verschwinden. Essen und Nahrungsmittel gehören einfach zum Menschsein dazu. So sehr, dass es mich irgendwie auch auf emotionaler Ebene berührt, wenn ich Fleisch und Gemüse in einer Pfanne anbrate. Selbst die sonst eher lästige Vorbereitung, das Schnippeln, das Einkaufen und danach das Abwaschen, gibt meinem Alltag wieder eine Struktur, sodass sich mein Tagesablauf Schritt für Schritt normalisiert hat.
“Jemand, der depressiv ist, sollte mit dem Kochen anfangen. Während man damit beschäftigt ist, können andere Symptome nicht auftreten: die Antriebslosigkeit, die Müdigkeit, die Konzentrationsschwierigkeiten, das Desinteresse”, erklärt Norman Sussman, Leiter des Treatment Resistant Depression Program an der NYU School of Medicine. “Kochen ist stresslösend und befriedigt einen innerlich. Dabei muss man an nichts anderes denken.”
Kochen gehört zu den zahlreichen Methoden der Verhaltensaktivierung. Diese Art der Therapie wurde in den 70ern an der University of Oregon entwickelt, um Depressionsanzeichen bei den Patienten abzuschwächen, indem im Umfeld geschaut wird, welche Dinge den Patienten emotional zusetzen. Die Therapeuten helfen ihren Patienten, gegen die Antriebslosigkeit und Passivität zu kämpfen, indem sie ganz normale, alltägliche Dinge tun. Wer in einer Depression feststeckt, zieht sich oft mehr und mehr aus dem Leben zurück und steckt gefangen in einem Strudel aus Einsamkeit und Verzweiflung. Jede positive Beschäftigung, egal ob Sport, ein neues Hobby oder eben die Arbeit in der Küche, kann einen herausziehen.
“Viele Patienten mit klinischer relevanter Depression fühlen sich kurzzeitig besser, wenn sie zum Beispiel viel Sport treiben. Ihnen geht es besser, sobald sie joggen oder auf dem Laufband rennen. Allerdings hält das nur kurz an. Eine vorübergehende Besserung”, erklärt Sussman. “Jede Tätigkeit, bei der man am Ende etwas Greifbares erschafft, etwas Gutes für andere oder für sich selbst, eignet sich als Therapie.”
Sussman ist Psychologe und Psychopharmakologe. Er meint, dass Antidepressiva nur in einem Drittel der Fälle wirklich wirken. Allerdings glaubt er, dass eine Kombination aus Medikamenten und kognitiver Therapie am effektivsten gegen Depression hilft. Am Ende unseres Gespräches empfiehlt er mir den Wirkstoff Bupropion, der bei starken Depressionen und saisonal-affektiven Störungen eingesetzt wird.
Kochen hat aber wahrscheinlich auch etwas genuin Urzeitliches und Primitives an sich und trifft damit einen versteckten Nerv, den Joggen und das Gespräch mit dem Therapeuten nicht immer treffen. Wenn man sein Essen selbst kocht, lenkt man sich nicht nur von der Traurigkeit und seinem Leiden ab, sondern bringt einem auch Dinge bei, die man für ein eigenständiges Leben braucht. Wir haben mittlerweile keine richtige Beziehung mehr zu unserem Essen, alles läuft nur noch mechanisch. Aber beim Kochen können wir wieder Mensch sein, selbst wenn wir mit den einfachsten Zutaten arbeiten.
Patricia D’Allessio ist Caterer und Mietköchin. Noch bis zum letzten Jahr hat sie ein Kochprogramm für die Patienten in der Newport Academy geleitet, einem Behandlungszentrum für drogensüchtige und psychisch kranke Teenager. “Wir können ihr Kind retten” hieß es auf der Website. Jetzt leitet sie ein ähnliches Projekt im Westport House, ein Wohnprojekt für Ex-Alkoholiker im Südwesten von Conneticut.
“Nicht nur bei Depression und Angstzuständen kann Kochen helfen, sondern auch bei Essstörungen, ADHS, einem mangelnden Selbstwertgefühl, Stress oder Problemen, mit anderen in Kontakt zu kommen”, erklärt mir Patricia D’Allessio. “Es geht um die Sinneserfahrung: das Schmecken, Fühlen, Riechen, Hören und Sehen. Man muss auf alle Sinne achten. Das haben auch meine Patienten bestätigt.”
Bei den Kochsessions hatten die Patienten auch — entgegen zur sonst gefühlten Machtlosigkeit — wieder ein bisschen Kontrolle über einen Teil ihres Lebens. “Man kann so kochen, wie es einem schmeckt. Und das ist schon bedeutend”, meint D’Allessio. “Dadurch haben sie das Gefühl, dass die Zügel in der Hand haben. Sie denken sich: ‘Vielleicht kann mich meine Sucht oder meine Essstörung nicht unter Kontrolle bekommen, aber was in mein Essen kommt, entscheide ich ganz allein.’”
Natürlich ist Kochen kein Wundermittel für Depressionen, Angstzustände und Sucht. Es ist auch kein Ersatz für Medikamente oder kognitive Therapie. Sussman weist darufhin, dass es bei einer Depression immer eine Art Tageskurve gibt. Bei den meisten Patienten verschwinden die starken Symptome im Laufe des Tages. Ein Abendessen nach der Arbeit zu kochen ist also kein so großer Schritt; wer es schafft, nach dem Aufstehen Frühstück zu machen, der hat sich wirklich überwinden müssen. Aber ein neues striktes Verhaltensmuster überhaupt ersteinmal in den Alltag zu übernehmen ist für viele Menschen mit Depressionen schon der erste Schritt.
“Als Psychiater ist es für mich am schlimmsten, wenn ich meinen Patienten sage, dass sie etwas Neues machen sollen, damit es ihnen besser geht, wenn auch nur zeitweise. Beim nächsten Termin sagen mir dann, dass sie es nicht gemacht haben”, erzählt Sussman. “Wie jemand, der sich beim Sport ein Bein gebrochen hat. Egal wie oft man ihm sagt, er soll laufen, er kann es einfach nicht.”
Je mehr ich mit den Jahren in die Depression hinabgerutscht bin, desto schwieriger wurden selbst die einfachsten Aufgaben: den Termin mit dem Therapeuten vereinbaren oder sich anziehen. Viele kleine Sisyphusaufgaben. Aus irgendeinem Grund hat nur das Kochen funktioniert; nur dabei kann ich mir eine kurze Auszeit von mir selbst nehmen. Daran sollte ich besser festhalten, so lange wie es geht.
“Menschen mit Depressionen blicken nur pessimistisch in die Zukunft. Sie sind verzweifelt”, meint Sussman. “Beim Kochen denken sie nicht einmal an die Zukunft. Ein Moment, in dem sie in der Gegenwart leben können.”