Kunst im Knast – das Projekt „4661m2“

Nein, solche Sicherheitsvorkehrungen gibt es nicht einmal im Louvre oder im MoMA. Keine Mona Lisa und kein Picasso sind besser geschützt. Abgetastet werde ich zwar nicht, aber meine Identitätskarte muss ich am Schalter hinterlegen, mein Handy einschliessen und schon im Vorfeld hatte ich meine Personalien angeben müssen. Nein, das hatte ich noch nie machen müssen, um Kunst anzuschauen. Aber dafür war ich vorher auch noch nie in ein Gefängnis gegangen.

Als ich zum Eingang des Zentralgefängnis Lenzburg komme, stehen die beiden Urheber der exklusiven Ausstellung schon davor. Im Frühjahr seien sie das letzte Mal dort gewesen und deshalb selber etwas gespannt, erklären mir Marc Furer und Claude Luethi. Man merkt den beiden Street Artists, in der Szene besser bekannt als Malik und Note, an, wie sehr ihnen dieses Projekt am Herzen liegt.

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Drei Jahre haben sie mal mehr, mal weniger intensiv an „4661m2″ gearbeitet, von der ersten E-Mail im Sommer 2012, über Konzeption, Auswahl der 15 weiteren, mindestens national bekannten Künstlerinnen und Künstler—zwei Frauen, 13 Männer, davon einer aus Polen—und dem eigentlichen Bemalen und Besprayen der 4661 Quadratmeter Wand, bis hin zum umfangreichen Buch übers Projekt, welches am Donnerstag, dem 24. September, erscheinen wird.

Nicht wirklich verwunderlich also, dass Marcel Ruf, Direktor der Justizvollzugsanstalt Lenzburg, die beiden Künstler begrüsst wie alte Freunde. Oder doch, irgendwie schon. Zumindest für mich. Ich war noch nie in einem Gefängnis, kenne Haftanstalten bisher einzig aus Film, Fernsehen und Zeitungen.

Keine Ahnung, wie ich mir einen Knast-Boss vorgestellt habe, aber auf jeden Fall nicht so. Ruf ist freundlich, gut gelaunt, wirkt integer. Ja, er hat sogar etwas Väterliches und spricht fürsorglich über die Mitarbeitenden, denen man schon lange nicht mehr Wärter sagen solle, sondern Vollzugsangestellte—„sogar im Zoo sind das mittlerweile Tierpfleger”.

Es sind diese Vollzugsangestellten, die zusammen mit den Häftlingen des BZ die Hauptbetrachter der Kunstwerke darstellen. Die tagtäglich mit ihnen konfrontiert sind. „Viele Insassen bleiben nur ein paar Tage. Die nehmen die Bilder dann gar nicht wahr, die haben dann meistens anderes im Kopf”, erklärt Ruf und zeigt aus dem Fenster. „Ausserdem gibt es Bilder wie diese, die die meisten Insassen gar nicht sehen können.” Hände lassen Vögel in die Luft steigen, eine skurrile Pilotenfigur hebt den Hintergrund, als wäre er ein Vorhang und macht den Blick frei für eine geheimnisvolle Welt dahinter.

Ob man sich Gedanken mache, für wen man da male, frage ich Malik und Note. „Natürlich bist du dir dessen bewusst. Hier haben wir für ein Langzeitpublikum gemalt”, sagt Letzterer, relativiert aber auch: „Künstlern muss man freie Hand lassen. Wir haben zwar, um eine Linie in das Ganze zu bringen, farbliche Vorgaben gemacht—eher ruhig und nicht zu knallig—, die Hintergrundflächen gemalt. Und die Motive mussten die Artists uns vorher vorlegen. In Absprache mit der Gefängnisleitung haben wir dann über die Verträglichkeit entschieden. Ein Frauengesicht zum Beispiel, das einen direkt anstarrt, kann bei den Insassen erfahrungsgemäss auch negative Gefühle auslösen.”

Herr H. ist so ein Mensch, der nicht gerne von anderen betrachtet wird. Deswegen habe er auch keine Fotos in seiner Zelle, erzählt er. Was er sieht, wenn er aus dem vergitterten Fenster schaut: eine Zahl, vier Ziffern und eine Massangabe, genauer den Titel des Projekts: 4661m2. Man könne viel reininterpretieren, überhaupt sei das das Gute an den Bildern, sagt er und lacht: „Dann haben wir etwas, worüber wir uns täglich aufregen können.” Ein älterer, schwerer Mann mit schwerem Atem, auf dem Tisch liegt ein Asthma-Spray. Ich kann mir nicht richtig vorstellen, dass mir gerade ein Mörder gegenüber sitzt.

„Das ist künstlerische Freiheit“, sagt er, als ich ihn danach frage, wie ihm die Motive gefallen würden, „ich habe früher selber Manga-Bilder gezeichnet, als ich noch in Regensdorf sass. Wegen den Pädophilen hab ich aber damit aufgehört.” Ob er die Bilder vielleicht irgendwann vermissen werde, wenn er entlassen werde? „Ich werde nicht entlassen”, sagt er, „Ich hab lebenslänglich und danach Verwahrung. Ich werde hier drin sterben.”

Zwangsweise stellt sich die Frage: Warum Kunst für Häftlinge? Für Verbrecher? Für Mörder und Pädophile gar? Wenn Direktor Ruf ein Reizwort kennt, dann ist es „Kuscheljustiz”. Bei unserem Rundgang weist er auf die dünnen Schaumstoff-Matratzen hin, das Metallgitter darunter und auf die Haftbedingungen.

„In Untersuchungshaft, und darin befinden sich die meisten hier, gibt es eine Stunde auf dem Hof”, erklärt Ruf, „ansonsten bist du in deiner Zelle, 23 Stunden täglich. Wer da von Kuscheljustiz redet, hat keine Ahnung. Überall grau, vor allem, als auch noch keine Pflanzen gewachsen waren zwischen dem Gebäude und der Aussenmauer. Nicht nur für die Inhaftierten, sondern auch für unsere Mitarbeitenden.” Und beteuert, dass man sich freuen würde, wenn die Künstler auch beim geplanten Erweiterungsbau wieder Farbe in die Sache bringen würden.

Als wir nach über zwei Stunden aus dem Bezirksgefängnis treten, bin ich nicht ganz sicher, was mehr in meinem Kopf nachhallt. Überdimensionale Vögel, Papageien, Figuren und Landschaften auf massiven Betonwänden? Sympathische, ja fast kumpelhafte Vollzugsangestellte? Ein zu „lebenslänglich” und Verwahrung verurteilter Mann, der früher mal Mangas gezeichnet hat? Und der jetzt wahrscheinlich für den Rest seines Lebens auf vier Ziffern und ein Flächenmass blicken wird?

Netterweise nehmen mich Malik und Note an den Bahnhof Lenzburg mit. Eine gewisse Prise Ironie hafte dem Projekt ja schon an, sage ich, als wir uns verabschieden. Entstanden als Antwort auf institutionalisierte, offizielle Kunst, von der Öffentlichkeit zu Beginn vor allem als Vandalismus, also Verbrechen angesehen, ziert jetzt die Wände eines Gefängnisses. Malik antwortet: „Street Art hat das Ziel, Räume zu verändern. Mit unseren Bildern wollen wir etwas auslösen. Ich glaube, das haben wir geschafft.”

Du willst noch mehr davon sehen? Den Film zum Projekt, gemacht von Polimorph Pictures, gibt es hier zu sehen.

Und am Donnerstag, dem 24. September, laden Malik und Note aka Marc Furer und Claude Luethi zur Vernissage des Buchs zum Projekts „4661m2″ ins Sphères in Zürich.

Gefängnisgeschichten tauscht Daniel auf Twitter aus: @kissi_dk

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