Als ich aufwache, höre ich sie wieder: die Ratten. Wie sie um mein Indianerzelt huschen, kratzend, scharrend, fiepend. Nur eine dünne Plane trennt mich von ihnen, und ich fühle sie schon förmlich mit ihren Barthaaren in meinem Nacken herumwuseln. Ich liege auf einer Matratze, die vielleicht irgendwann mal weiß war, ziehe den Schlafsack enger um mich und würde gern so verharren, bis es hell und der Nager-Horror vorbei ist.
Es hämmern die Bässe, die vom Club Kater Blau auf der anderen Seite der Spree hier drüben anbranden, und mischen sich mit dem Rauschen der S-Bahn und vereinzelten verzerrten Stimmen zum Soundtrack der Hauptstadt. Urbane Unruhe in der archaischen Hütte. Mit jeder Minute werde ich wacher, lausche in die Dunkelheit hinein und weiß: Ich halte es nicht mehr aus. Ich muss raus zu den Ratten.
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Ich muss mal. Mit der Taschenlampe in der Hand drücke ich die kleine Holztür auf. Etwas verschwindet quiekend im Gebüsch. Der Mond und die Großstadtlichter liegen auf den Tipis, die ein Flickenwerk aus Werbebannern, Plastikplanen und Matten über groben Pfählen sind. Dazwischen stehen Sofas, Sessel, Stühle, Couchtische, Europaletten, Einkaufswagen, Wasserkanister. Ein Frauen-Torso aus Plastik thront auf einem Ziegelhaufen. Vielleicht ist es auch ein Pizzaofen. So genau kann ich das nicht erkennen. Mein Lampenlicht fällt auf einen gegrillten Schweinskopf direkt vor meiner Tür, der von der Hitze am Tag und den Viechern der Nacht reichlich geschunden aussieht. Das Schwein glotzt mich an wie eine Schicksalsgefährtin.
Ich bin ins Teepeeland eingezogen, ein kleines Zeltdorf mit acht Tipis und fünf Jurten, ein paar Igluzelten, Bäumen, Beeten, Schrotthaufen, einer Bühne, einem Lagerfeuer und allerlei Gerummel. Jeder, dem Arbeit und Struktur und ein Wasserklosett nicht zum Glück fehlen, kann hier zeitweise einziehen. Es ist das letzte besetzte Grundstück am Kreuzberger Spreeufer, wo früher die lebensfeindliche Grenze zwischen Ost- und Westberlin verlief, auf deren Trümmern dann das wilde Subkulturleben der Nachwendejahre wucherte. In der Nachbarschaft sind mittlerweile viele einstige Institutionen der Realitätsverweigerung abgerissen worden.
Allen voran die legendäre Bar25, ein eskapistisches Kleinod mit Bauwagen, Paletten-Buden und Nebelmaschinen, das zum weltweiten Prototyp für Technoclubs wurde. In einem Dokumentarfilm hielt man die Magie des Ortes filmisch fest und erklärte, was die Bar so unverwechselbar gemacht hat. Er trägt den Untertitel Tage außerhalb der Zeit. Viele andere Brachen an der Spree sind derweil weggentrifiziert—an den neuen Ufern vom neuen Berlin entstehen Orte innerhalb der Zeit: Wohnhäuser, Bürowürfel, Kommerzkultur. Es kommt einem unweigerlich die Vermutung, dass freies, wildes, unstrukturiertes Land auch freie, wilde, unstrukturierte Zeit mit sich bringt—und umgekehrt.
Ich habe mich ein Jahr lang auf die Suche gemacht, ob es so etwas wie “Zeitwohlstand” gibt, also: ob es eine andere Art von Reichtum gibt als blanke Münzen. Ich hab mir ein Grundeinkommen besorgt, alle Aufträge abgesagt und besuche seitdem Zeitmillionäre, die mir zeigen sollen, wie es sich lebt jenseits des Kapitalismus. Wenn es so etwas wie Zeitmillionäre gibt, dann ist Teepeeland vermutlich ihr Saint-Tropez. Ist das hier die gelebte Utopie einer Gesellschaft, für die Geld und Sicherheit nichts, Zeit und Freiheit aber alles sind? Und: Wie fühlt sich das an?
Im Dunkeln schleiche ich zwischen den Zelten umher. Wie ein Protestcamp kommt es mir nun vor, aber ohne Ideologie. Oder wie ein Festival-Campingplatz, aber ohne Musikprogramm. Wie eine Anarchistenkommune, aber ohne Haus. Es gibt hier von allem sehr wenig—Regeln, Geld, Schlüssel, Trinkwasser, Essen, Sanitäreinrichtungen, Mülleimer—, nur von einem eben sehr viel: freie Zeit. Bevor ich die ganz große Freiheit jenseits von allem Müssen kennenlerne, muss ich jetzt aber wirklich dringend. In der Dunkelheit kann ich nicht erkennen, wo zwischen den Behausungen und Gerümpelhaufen genau gelebt und wo gelassen wird. Als der Druck zu groß wird, setze ich mich einfach irgendwo hin und hoffe, das kitzelnde Ding unter mir ist ein Grasbüschel und keine Ratte.
Ich singe laut “Kreuzberger Nächte“, um das Quieken nicht zu hören, während ich am Schweinskopf vorbei zurückmarschiere. Da fällt mir die angelehnte Tür auf. Die hatte ich doch zugemacht! Ich trete ins völlige Dunkel, taste nach meinem Schlafsack und leuchte mit dem schmalen Lichtkegel der Taschenlampe das Zelt aus. In der Ecke liegt etwas Massives mit filzigen Haaren und Bart. Sieht aus wie der Anarchismusbegründer Bakunin persönlich. Er starrt mich an. Ich erschrecke mich so dermaßen, dass auch er zusammenzuckt, sich dann aufrichtet und anfängt, etwas aus seinem Rucksack rauszukramen.
Ratten, Dämonen und Anarchisten—wie bin ich hier eigentlich reingeraten?
“Wo kommst du denn her?”, frage ich ihn. “Me?”, fragt er zurück, und ich überlege, ob sich in so ein gartenpavillongroßes Zeltding noch mehr von seiner Sorte unerkannt abgelegt haben könnten. “I’m from the Internet”, antwortet er, was mehr Fragen aufwirft als klärt. “But I live in this tipi for quite a while now.” Er sagt, dass heute Nacht vielleicht noch mehr Menschen kommen könnten. Ein Paar, das gerade barfuß durch Berlin läuft, und ein Mann, der seinen gesamten Besitz auf 100 Dinge reduziert habe. Während ich überlege, wie hier fünf Leute mit hundert Dingen reinpassen und ob ich meine Matratze gegen fremde Ansprüche verteidigen kann beziehungsweise darf, stellt sich der Internet-Bakunin als Geolibertärer vor—er befürworte, dass Böden und natürliche Ressourcen nicht privatisiert werden dürfen.
Die Erde gehöre allen; wer an ihr zu verdienen gedenke, müsse dafür Steuern zahlen. Er murmelt etwas von John Locke und Facebook und dass er etwas sehr, sehr Großes vorhabe. “Landrebels”, flüstert er, aber ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung, den Systemkollaps zu diskutieren, wo ich doch gerade selbst fast kollabiert bin. Er zündet eine kleine Holzwurzel an, die süßlich duftend in der Dunkelheit glimmt. “Against demons”, sagt er, und ich hoffe, er meint damit die Ratten, beschließe aber lieber, nicht mehr weiter nachzufragen, und ziehe die Decke über den Kopf. Ratten, Dämonen und Anarchisten—wie bin ich hier eigentlich reingeraten?
Das Küchenzelt ist mit allen möglichen Lebensmitteln ausgestattet. Das Wasser wird bei Nachbarn abgefüllt und in Kanistern herangeschleppt
Es war an einem heißen Sonntag im August. Ich driftete gerade das Spreeufer entlang, da tauchte vor mir das wilde Land auf, ich stolperte staunend durch die Sperrmüllzelte, die Spreeindianer winkten mich auf ihre Couch. Sie erzählten davon, wie sie überall auf der Welt danach gesucht haben, frei leben zu können. Und hier, unter den Zeltdächern der urbanen Anarchie hatten sie das erste Mal das Gefühl, diese Freiheit zu finden. Ich sah mich um und dachte: Digger!
Die Digger waren eine kleine Gemeinschaft von protestantischen Radikalen im England des 17. Jahrhunderts. Sie verkündeten über eine Kampfschrift: “Wahre Freiheit gibt es dort, wo sich der Mensch selbst ernährt und erhält. Und das kann er nur mithilfe von fruchtbarer Erde.” Die Anhänger waren der Überzeugung, dass jeder Mensch das gleiche Recht auf Leben und deswegen auf Farmland habe und dieses egalitär aufgeteilt werden müsse. Sie propagierten eine Gesellschaft, die frei war von privatem Eigentum, von Geld, von Vorrechten. Tatsächlich entstanden 1649 einige Landkommunen. Die Digger besetzten und beackerten öffentliches Land und verteilten die Erträge an Bedürftige. Nach etwa einem Jahr Acker-Anarchie wurden die Digger von der Obrigkeit vertrieben, waren mundtot oder tot.
Eine Guerilla-Theatergruppe aus San Francisco griff in den 1960er Jahren den Namen der Digger wieder auf und belebte auch ihre Ideen wieder. In den Straßen von Haight-Ashbury wollten zwölf Künstler eine Minigesellschaft jenseits von Geld und Besitz gründen. Jeden Tag kochten sie mit gespendeten Lebensmitteln einen Eintopf und verteilten ihn durch einen riesigen gelben Bilderrahmen an jeden, der wollte. Sie nannten das gelbe Ding: “freier Bezugsrahmen”. Es gab Umsonstläden, freie Kliniken, temporäre Unterkünfte und jede Menge kostenfreie Konzerte und Theaterstücke. Als die Hippiewelle gegen Ende der 60er Jahre blumenumkränzte Druffis aus aller Welt in die Straßen von San Francisco spülte, wurden ihre Volxküchen und Kliniken zur notwendigen Infrastruktur für die friedensbewegten Massen. Die Digger wollten aber authentisch und frei leben—nicht mehr die Suppe kochen, die andere auslöffelten. Sie überließen die Strukturen der Kirche und verstreuten sich als Free Family in alle Welt.
Kleiner Snack zwischendurch: “Junky-Nutella”. Man nehme eine Tafel Schokolade, lege sie auf ein altes Brötchen legen und haue das Ganze in die Mikrowelle
Ich überlegte: Hier an diesem merkwürdigen Ort verdichtete sich die radikale These der Digger zu einer neuen Lebensrealität: Ohne frei verfügbaren Boden unter den Füßen kann es keine freien Menschen geben. Gibt es also ohne freien Raum auch keine freie Zeit? Ich fragte, wann ich einziehen könnte, und sie sagten: Du musst dich nur bei Couchsurfing anmelden, dann kannst du jederzeit kommen.
Am nächsten Morgen raucht vor meinem Tipi bereits das Lagerfeuer in der Mitte der abgewetzten Sofas. Die Luft ist voll von Qualm und Schweiß. Einige Indianer mit freien Oberkörpern dösen kiffend in der Sonne, ein Franzose verbindet sich den Arm, in den nachts ein Tier gebissen hat, ein Typ mit Fitnessband und fehlendem Brillenbügel hält einen Vortrag über den Säuregehalt einer Banane. Zwei Punks rühren rotes und blaues Haarfärbemittel an und verteilen es auf ihren Iros. Ich setze mich auf eine Couchlehne. Neben mir ein junger Mann mit Cordjackett, Lederarmbändern, unfreiwilligen Rastas, Kinnbart, stechend blauen Augen. Er heißt Jojo und wechselt in der Unterhaltung problemlos zwischen Französisch, Englisch, Tschechisch und Deutsch. “Ich lebe auf der Straße”, sagt er, als wäre es ein Prädikat. “Nur so kann ich wirklich frei sein.” Keine feste Wohnung, keine erfasste Adresse, keine staatliche Stütze. “Ich will von diesem Verbrecherstaat nichts”, sagt er. Offenbar gehöre ich nicht dazu, er fragt mich nach einer Zigarette und raucht am Ende drei. “OK, ich bin vielleicht ein Schnorrer, aber wenn ich Geld habe und Tabak kaufe, dann kann da auch jeder mitrauchen.”
“Wie kommst du an Geld?”, frage ich.
“Ich frage auf der Straße.”
“Was ist dein Spruch?”
“Hast du vielleicht 50 Cent übrig? Manchmal auch einen Euro. Aber höchstens zwei.”
“Muss schwierig sein in Berlin. Hier wird man so lange gefragt, ob man was übrig hat, bis man wirklich nichts mehr übrig hat. Ich hasse es, mich dadurch von den Menschen da draußen so abschirmen zu müssen.”
“Das machst du komplett falsch. Dieses Nicht-in-die-Augen-Gucken ist scheiße. Sag mir, warum du nichts geben kannst, und ich versteh das, Alter.”
“Ist Betteln nicht eine krasse Art, sich abhängig zu machen?”
“Abhängigkeit ist ein inneres Gefühl. Und das habe ich nicht. Ich stelle ja nur eine Frage.”
Als die Punks anfangen, auch die Kopf- und Barthaare der anderen Couchsurfer einzufärben, mache ich mich lieber auf die Suche nach den Häuptlingen vom Teepeeland. In der direkten Nachbarschaft steht die Ruine einer alten Eisfabrik, die jetzt von der Treuhand verwaltet wird. Dahinter grenzen die Grundstücke einer Genossenschaft mit Wohnungen, Ateliers und einer Kita an. Ich laufe den Uferstreifen entlang, der nach den ursprünglichen Plänen der Stadt Berlin längst eine planierte Flaniermeile hätte sein sollen. Allerdings entdeckte ein Historiker, dass die Tipis und Jurten auf einem alten Stück DDR-Grenzufermauer stehen, und alarmierte den Denkmalschutz. Nun sind die Spreeindianer mit ihren schrägen Behausungen und noch schrägeren Lebensentwürfen erst mal so halbwegs von der Stadt Berlin geduldet. Die letzten Mohikaner.
Der erste Mohikaner: Flieger hat das erste Tipi auf die Brache neben der Eisfabrik am Spreeufer gebaut. Mittlerweile gibt es zwischen 10 und 30 feste “Teepeelander”
Ich entdecke Flieger vor seinem Tipi, ein riesiger blonder Wikinger mit Lederklamotten, Amuletten und Zähnen an seinen Halsketten und einer Reibeisenstimme. Vor drei Jahren hat er das erste Tipi hier aufgestellt, eine mit Fellen ausgekleidete Höhle mit zwei Betten, Feuerstelle und Bieröffner. “Warum wolltest du in einem Indianerzelt leben?”, frage ich. “Freiheit natürlich! Freiheit war der Antrieb. Ich wollte keine geraden Wände mehr.” Anscheinend auch keine Geradlinigkeit. “Das hier ist doch mal was anderes”, sagt er und macht sich sein morgendliches Konterbier auf.
Er war Sozialarbeiter, reist jetzt aber in der Welt herum, manchmal macht er Musik. Wenn er wieder in Berlin landet, dann hat er zwar auch eine Stadtwohnung, aber dort liegen die offiziellen Briefe und Rechnungen. Da kommt er lieber hierher. Hier regiert der Moment. Wenn Gäste kommen, hat Flieger immer ein Bett frei. “Alle sind sehr willkommen.” Im vergangenen Sommer waren insgesamt 500 Leute auf dem kleinen Gelände, aber nur 15 sind dauerhafte Teepeelander mit eigenen Tipis oder Jurten. “Wird euch das nicht manchmal zu viel?” Er guckt etwas müde. “Die Candykids achten nicht so auf Sauberkeit”, sagt Flieger. “Die Candykids?”, frage ich.—”Na diese jungen Drogennomaden, die hier landen und dann nur ihren eigenen Trip schieben. Die nutzen unser freiheitliches Denken aus.” Beim Teepeeland ginge es aber darum, mitzugestalten, sich einzubringen. Sauberkeit sei ein großes Thema. “Ich hab schon so manche verjagt. Und nächste Woche schmeißen wir alle raus.”
Bevor es so weit ist, mäandere ich durch die Zelte und durch die Zeit. Mit dem Indianer Hussein, der die Gemüsebeete angelegt hat und pflegt, gehe ich angeln. Wir lassen die Ruten vom Bootshaus in die Spree hängen. Ab und zu ziehen wir winzige Plötzen aus dem Wasser, die wir abends über dem Feuer grillen werden. Manchmal koche ich etwas aus dem Zeug, das die Franzosen in Supermärkten gezockt oder aus Müllcontainern gerettet haben. Ich werde in die Kulturtechnik des Bierflaschen-Sammelns eingeweiht und lerne, wie man die klirrende Kapitalanlage effizient in Einkaufswagen stapelt. Wenn irgendwo getrommelt wird, setze ich mich dazu und singe oder klatsche. Und wenn im Bootshaus eine Tango-Milonga stattfindet, tanze ich mit nackten, schmutzigen Füßen über das Parkett, das direkt zur Wasserkante führt.
Im Bootshaus finden oft Kulturveranstaltungen statt. Man kann es sogar mieten. Für Lesungen, Konzerte oder eben zum Tanzen. Die Lehrer sind adrette und freundliche Menschen. Ich merke, wie peinlich mir das ist, so verqualmt und verschmiert und verwahrlost zwischen diesen sauberen Tangueros zu sein, und wähle dann lieber jemanden der anderen Schwarzfuß-Indianer als Tanzpartner. Ich bemerke zunehmend, wie mir die sonst so verhassten Strukturen, Konventionen und—ja—einfach mal ein Badezimmer mit warmer Dusche und Klo fehlen. Bislang habe ich nur den Schweinekopf in die Spree geworfen, aber jetzt muss ich wohl mal selbst ins Wasser.
An einem Ast hängt ein Seil, von dem aus ich mich in die Spree fallen und dann mit dem Kopf unter Wasser weitertreiben lasse. Am Ufer promenieren die Touristen mit Eis und Kindern. Auf den Ausflugsbooten winken Rentner oder schütteln die Köpfe. Das alles wirkt gerade sehr weit weg. An einer Ufermauer ist eine Metalluhr ohne Zeiger angebracht. Ich drifte im Raum der Ströme, ich schwimme in Zeit, ich mache Urlaub im Anarchismus. Bin ich jetzt frei? Bakunin—also nicht mein rauchwurzeltragender Zeltkollege, sondern der echte “fette Russe”, wie Marx und Engels den Berufsrevolutionär hämisch nannten—behauptete, dass Freiheit die höchste Seinsstufe des menschlichen Strebens sei. Erst sie mache uns zum Menschen.
Zu Lebzeiten war Bakunin ein Schnorrer, der sich von Freunden die Reisen und das Leben bezahlen ließ. Er hinterließ kein abgeschlossenes Werk und keine konsistente Theorie. Wenn es irgendwo in Europa nach Revolution roch, reiste er dorthin. Legendär geworden ist sein Satz “Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust”. Erst müsse man alles einreißen, um zur Freiheit zu finden. Eine neue Ordnung würde dann schon von allein entstehen. Bakunin würde sich im Teepeeland sicher wohl fühlen: Hier ist alle Ordnung eingerissen. Hier wird geschnorrt. Hier wird gedriftet. Aber—was dann?
Über der Feuerstelle kocht eine tschechische Wurstsuppe. Die Punks schnippeln mit bunten Fingern Gemüse. Der Ernährungsfreak studiert die Nährstofftabelle der Wurst. Ein Engländer zeigt hinterm Feuer Kampfgriffe, die er gegen die Polizei angewendet hat und derentwegen er angeblich auf der Insel strafrechtlich gesucht wird. Eine 14-Jährige sinniert darüber, wohin sie denn jetzt gehen soll, wo sie doch erst von zu Hause und dann aus dem Heim ausgebrochen sei. Ich setze mich neben ein blondes Mädchen, dessen Körper mit Leuchtfarben bemalt ist.
Sie sei letztens im Adidas-Laden gewesen, erzählt sie, und da habe die “Nutte” (vermutlich die Verkäuferin) gefragt, was sie für die Schuhe wolle, und die “Nutte” habe gesagt, dass sie hier gar nichts zu wollen habe, weil sie eine kleine Crack-Bitch sei, und dann seien die Bullen gekommen und hätten ihr das Gesicht auf den Boden gedrückt, und dann habe sie sich losgerissen und sei geschwommen und dann Harley gefahren, und dann sei sie damit umgefallen und jetzt eben hier gelandet, und die Arschlöcher würden sie jetzt auch rausschmeißen wollen, “weil sie mal Ruhe wollen, ich meine, Ruhe, was für ‘ne verfickte Scheiße soll das denn jetzt wieder sein?” Und sie laiert ihren Trip runter, und es prallt so an mir ab.
Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, dass die Hälfte aller Unterhaltungen aus schrägen Anekdoten und Schnorreranfragen besteht. Ich habe die Hemmungen des öffentlichen Pinkelns überwunden. Ich frage nicht mehr nach, woher Lebensmittel, Fahrräder oder Klamotten kommen. Ich übe mich in Gelassenheit, wenn mitten in der Nacht fremde Menschen nach Quartier fragen. Aber es tut mir zunehmend weh zu sehen, wie dieser freie Ort mit seiner freien Zeit so wenig wirkliche Verbindung kennt. Man kann mit diesen Diggerdrifterdruffis zwar gemütlich zusammenhängen.
Man kann mit ihnen auch manchmal intensiv diskutieren. Manchmal auch wunderschöne Momente erleben. Aber wenn du danach wie ein Schweinskopf in der Spree ertrinkst, schert es niemanden. Vielleicht wäre das nach ein paar Monaten hier anders. Wenn ich ganz in der Gruppe angekommen wäre und wüsste, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Aber innerhalb einer Woche trage ich meine wertvollen Sachen meistens in einem Beutelchen bei mir und lasse mein Smartphone beim Laden an der einzigen Steckdose von Teepeeland—auf der Bühne—nicht unbeobachtet. Ich traue den Candykids nicht, für die Freizeit und Freiheit das Gleiche meint.
Die letzte Nacht in Teepeeland bricht an. Der Film, der gerade auf der Kinoleinwand gezeigt wurde, ist vorbei. Die Weinflaschen sind leer, der Boden ist voller Kippenstummel. Jojo streckt noch einmal seine Hand nach meiner glimmenden Zigarette aus und verschwindet damit—in die große Dunkelheit der Zelte, der Nacht, der Zukunft. Ich sitze allein in der Mitte des Platzes und höre wieder das Quieken und Rascheln der Ratten. “Die Freiheit fühlt sich beschissener an als erwartet”, denke ich. So oft war ich genervt von den spießigen Sicherheitsfreaks mit ihren Lebensversicherungen und Aktien und To-do-Listen und Stundenplänen und Zielvorgaben und Gewinnerwartungen, ihrem Effizienzstreben und den Aftershave-Dunstglocken. Bürotürme pfui, Palettenbars hui. Und jetzt, am anderen Ende der Skala bei den spontanen Freiheitsfreaks, bin ich mir nicht mehr sicher, wo ich hingehöre. Ob ich die Ratten des Kapitals oder die Ratten des Kanals schlimmer finde.
Die Reportage ist ein gekürzter Auszug aus Greta Tauberts Buch“Im Club der Zeitmillionäre“. Während ihrer Recherchelernte sie Aktivisten, Unternehmer, Wissenschaftler und Andersmacher kennen und stieß dabei an Grenzen, mit denen sie nicht gerechnet hat.
Was Greta sonst noch treibt, sehr ihr auf Facebook.
Und noch ein paar Fotos von Christophe Gateau aus demTeepeeland findet ihr hier: