Wie es sich anfühlt, wenn sich der eigene Sohn das Leben nimmt

Wir haben diesen Text nicht auf einmal geschrieben. Es hat mehrere Anläufe gebraucht. An vielen Stellen konnten wir nicht weiter schreiben. Das Schlimmste, das in unserem Leben passieren konnte, war, das eigene Kind zu verlieren. Wir können uns sehr gut vorstellen, dass man sich in so einem Fall, egal, woran das Kind stirbt, auf ewig Vorwürfe macht. Noch mehr Vorwürfe macht man sich nur dann, wenn das Kind selbst entscheidet, aus dem Leben zu scheiden. Wenn es sich selbst dazu entschließt, nicht mehr leben zu wollen und man weiß, man hätte es verhindern können. Oder man zumindest denkt, man hätte es verhindern können, hätte man doch nur ein bisschen besser aufgepasst, hätte man anders reagiert, als dein Kind dir gesagt hat, dass es ihm nicht so gut geht.

Wir schreiben diesen Text aus zwei Gründen:
Das Schreiben ist mehr als nur anstrengend, es nimmt uns mehr mit, als alles andere, aber es wirkt auch heilend. Heilend bei etwas, bei dem es eigentlich keine Heilung gibt.
Der zweite Grund ist, dass unser Sohn an Depressionen litt. Wir sind manchmal wütend auf uns selbst, dass wir die wenigen Andeutungen, die Axel gemacht hat, nicht wahrgenommen haben. Im Nachhinein weiß man immer, was man hätte tun können und dieses Wissen möchten wir weitergeben. Weil über Depression immer noch nicht ausreichend gesprochen wird. Weil Depression von vielen nicht als Krankheit anerkannt wird, sondern als Schwäche. Aber es ist eine Krankheit und sie nimmt so viele Leben. Und uns unseren Sohn.

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Als wir eines Tages mit ihm bei einem Spaziergang über eine Brücke gingen, sagte er: ,Am liebsten würde ich mich hier runterstürzen.’


Der Tod unseres Sohnes liegt nun drei Jahre zurück und auf eine Weise können wir einfach nicht loslassen. Axel hat sich oft sehr einsam gefühlt, das haben wir gespürt, aber er hat nie offen über seine Krankheit gesprochen, obwohl er ganz genau von ihr wusste. Er war ein glückliches Kind, er spielte und tobte, manchmal wurden wir von den Lehrern in die Schule zitiert, aber da seine Noten stimmten, war es nie weiter tragisch. Als Axel 10 Jahre alt war, sind wir von seinem Geburtsort in den Schwarzwald umgezogen. Das war für ihn sehr schwer, weil er seine vielen Freunde verlor und er bestimmt entwurzelt war. In der neuen Heimat vermisste er seine früheren Freunde. Außerdem wünschte er sich ein Geschwisterchen—leider konnten wir ihm diesen Wunsch aus gesundheitlichen Gründen nicht erfüllen. Das war dann allerdings immer wieder ein Thema für ihn, denn er fühlte sich anscheinend öfters sehr allein.

Am neuen Wohnort kam Axel dann auf das Gymnasium, auf dem er sich nicht wohlfühlte, weil er sich mit den Lehrern nicht verstand und noch keine Freunde hatte. Damals sprach er zum ersten Mal von Selbstmord. Als wir eines Tages mit ihm bei einem Spaziergang über eine Brücke gingen, sagte er: „Am liebsten würde ich mich hier runterstürzen.” Wir reagierten sofort und gingen zum Kinderarzt, der riet, Axel auf eine andere Schule zu schicken, was wir taten. Axel war wieder glücklich, hatte Freunde und gab sich in der Schule Mühe.

Obwohl Axel nach außen einen fröhlichen und offenen Eindruck machte, fanden wir aus dieser Zeit—er war damals circa 12 Jahre alt—nach seinem Tod einen Brief, in dem er von Selbsttötung schrieb. Er schrieb von Depression, dass er das Leben nicht für lebenswert hielt und große Zukunftsängste hatte. Wir konnten es nicht fassen, als wir diese Sätze lasen. Wir hatten geglaubt, dass Axel die Schule, den Sport, die Freunde, die Umgebung voll angenommen hatte und es ihm gut ging. Auch wenn er in der beginnenden Pubertät oft Liebeskummer hatte, den wir bemerkten, so war das doch normal. Aber in seinen Tagebüchern konnten wir nach seinem Tod lesen, dass er sehr unter diesen Trennungen litt und alles sehr ernst nahm. Vor allem hatte er auch sehr große Angst vor Versagen, weiteren Trennungen, hat sich immer hinterfragt und wünschte sich Harmonie und Wertschätzung. Aber wie gesagt, nach außen hin war er meist ein ganz normales, fröhliches Kind und Jugendlicher, trieb Sport, fuhr Ski, war ein guter Schwimmer und spielte im Verein aktiv Wasserball.

Nach dem Abitur zog Axel nach einem Praktikum in Hong Kong nach Berlin, um Städteplanung zu studieren. Noch während des Studiums wurde ihm bewusst, dass er nicht der Typ sein würde, der sein Leben lang in einem Büro arbeiten kann. Für sein Studium musste Axel ein Praktikum in einer Zimmerei machen. Ihm gefiel die Arbeit so, dass er kurz vor Ende seines Studiums beschloss, es zu schmeißen und eine Lehre als Zimmerer zu beginnen. Mit dem Geld, das er verdiente, wollte er mit seiner damaligen Freundin zusammenziehen.

Er schloss die Berufsausbildung ab und machte sich mit zwei Kollegen selbständig. Dies ging nur kurze Zeit gut. Der eine Kollege zog mit Architekten durch die Kneipen, weil er dachte, auf diese Weise Aufträge zu erhalten, der andere kiffte und Axel stand morgens alleine auf den Baustellen. Nach sieben Jahren Beziehung verließ ihn seine Freundin, um einen ihrer Kollegen zu heiraten—Axel war wieder alleine. Ein Ausschnitt aus seinem Tagebuch zwei Jahre nach der Trennung:

„Das lag oft an mangelndem Selbstvertrauen, oder eigentlich fast immer. Sicherlich hatte das seine Ursachen in der Kindheit. Selbstvertrauen müssen einem die Eltern vermitteln indem sie so ihre Kinder loben, fördern, Ernst nehmen und ihnen Liebe vermitteln. Immer dachte ich oder hatte das Gefühl, die Leute mögen oder respektieren mich nur durch das, was ich tue und nicht durch das, was ich bin. Daher wohl auch letztes Jahr die große Überraschung, als Chris mir sagte, sie mag mich weil ich so bin wie ich bin!!! Und daher mag ich wohl auch Uta so, weil sie jede Spinnerei meinerseits hingenommen hat und es die Sympathie zu mir nicht geschmälert hat. Und darin liegt sicherlich auch der Schlüssel zu meiner Liebe Ines gegenüber. Zumindest als wir uns kennengelernt hatten. Es war unvorstellbar für mich, dass mich eine so äußerlich (Aussehen, Studium usw.) perfekte Frau lieben könnte. Das wertete mein Selbstwertgefühl völlig auf. Die konnte man vorzeigen und sich dahinter verstecken. Dadurch habe ich natürlich viel an persönlicher Entwicklung verpasst und musste es unter schwersten Umständen nachholen.”

Nach 11 Jahren in Berlin zog Axel nach Stuttgart, dort lernte er eine neue Frau kennen, die ein Kind hatte und Axel glaubte, so endlich eine eigene Familie haben zu können. Seine Freundin aber wollte unabhängig sein. Wir rieten ihm öfters, er solle diese Beziehung beenden, sie tue ihm nicht gut. Aber er konnte nicht. In seinem Tagebuch schrieb Axel: „Ich möchte endlich eine Heimat haben.”

Axel war ein überaus hilfsbereiter Mensch, er war immer für andere da. Von seinen guten Bekannten erfuhren wir, auf welch humorvolle und kreative Art er sich ihnen vorgestellt hat. Als wir davon nach seinem Tod von lieben Menschen, mit denen er in Stuttgart zusammen war, erfuhren, erkannten wir unseren Axel! Er wurde geliebt. Das wusste er auch und trotzdem hat er sich immer wieder in Frage gestellt.

Axel war interessiert und weltoffen und hatte ein sehr großes Wissen in Geschichte. Ferne Länder und Kulturen zogen ihn förmlich an. Eine Klassenfahrt nach Griechenland mit 14 Jahren hat ihn so sehr beeindruckt, dass er im Jahr darauf mit 15 Jahren alleine eine mehrwöchige Tour dorthin unternahm.
Später reiste er nach Frankreich, Korsika, Ägypten, Thailand, Kanada und in die Türkei. Die Türkei durchquerte er zwei mal mit dem Fahrrad, um die Kultur näher kennenzulernen.
Axel spielte immer mit dem Gedanken, in den Entwicklungsdienst zu gehen, also fuhr er mehrere Wochen nach Brasilien, um Portugiesisch zu lernen. Die Idee zum Entwicklungsdienst kam ihm bei seinen Besuchen in Uganda, wo eine Cousine von ihm Ärztin war und er bei seinem Besuch dort gleich ehrenamtlich beim Krankenhausbau half. Bei seinem zweiten Besuch in Uganda hat er sich mit Malaria infiziert und kam sehr krank zurück.

In den letzten Jahren vor seinem Tod wollte Axel unbedingt ein Buch oder Drehbuch schreiben. „Ich habe in meinem Leben so viel erlebt, das muss ich einfach aufschreiben” hat er damals gesagt. Er schickte es an uns und mehre Freunde—unter anderem auch an eine Freundin, die mittlerweile Filmregisseurin ist. Sie arbeitete aber für andere Formate und konnte sich des Drehbuchs nicht annehmen, was ihm sehr wehtat und natürlich war es auf eine gewisse Art eine Niederlage.

Axel konnte das Leben nicht mehr ertragen. Wir wissen nicht, wie lange er sich mit dem Gedanken getragen hat, sein Leben zu beenden. Doch er hat in den Jahren davor ab und zu Bemerkungen gemacht.


Ab diesem Zeitpunkt kam uns Axel wie gehetzt vor. Er arbeitete unglaublich viel, obwohl er mit seiner Arbeit nicht wirklich zufrieden war. Wir hatten Angst um ihn, weil wir merkten, dass er unglücklich war. Wenn wir ihn aber gefragt haben, wie wir ihm helfen können, oder was er hat, sagte er immer nur, dass alles OK sei. Weiteren Fragen wich er aus. Leider haben wir aus Rücksichtnahme nicht weiter „gebohrt”. Das war mit Sicherheit ein Fehler. Wir wollten ihn einfach nicht bedrängen.

In den Sommermonaten vor seinem Tod im September hat er eine zweite Arbeitsstelle angenommen. Wir wissen nicht genau warum. Wollte er mehr verdienen oder wollte er sich mit Arbeit betäuben oder hoffte er auf einen beruflichen Aufstieg und entsprechende Anerkennung seiner Arbeit?

Dafür haben wir keine Erklärung. Was wir aber nach seinem Tod erfuhren war, dass er genau wusste, dass er unter Depressionen beziehungsweise einer Bipolaren Störung litt. Er war zeitweise in Behandlung. Als wir das erfuhren, erklärte sich auch ein Satz, den er uns einmal gesagt hatte, als wir gefragt hatten, wie es ihm ging: „Die Tabletten, die mir der Arzt verschrieben hat, kann ich gar nicht nehmen, wenn ich hoch oben auf dem Dach stehen muss, das wäre viel zu gefährlich.” Leider haben wir auch das—um ihn nicht zu bedrängen—damals nicht hinterfragt.
Es bleiben viele Versäumnisse, die wir aus falscher Rücksichtnahme gemacht haben. Deshalb ist es aus unserer Sicht das Wichtigste, immer im Gespräch zu bleiben, wenn man bei einem Menschen etwas Ungewöhnliches bemerkt. Wir können nicht oft genug sagen, wie wichtig das ist.

Axel hat das Thema Depression leider nicht offen angesprochen. Man hat von außen betrachtet kaum etwas bemerkt. Leider kam hinzu, dass man bei einem Mann mit 1,89 Metern, einer kräftigen Figur und einer super guten Ausstrahlung nie und nimmer eine Depression vermutet hätte. Wir glauben auch, dass er das an seiner Arbeitsstelle nie hätte vermitteln können. Er war sehr ruhelos und machte oft einen gehetzten Eindruck, kaum war er mal bei uns, wollte er plötzlich wieder fort.

Nach seinem Tod ist eine unglaubliche Leere entstanden. Das Schrecklichste ist, nicht mehr mit ihm reden zu können. Wir haben den erwachsenen Axel erst durch das Lesen seiner Tagebücher richtig kennengelernt. Mit all dem Wissen hätten wir ganz anders auf ihn eingehen können. Das zu wissen, macht uns so hilflos und unendlich traurig.
Axel konnte das Leben nicht mehr ertragen. Wir wissen nicht, wie lange er sich mit dem Gedanken getragen hat, sein Leben zu beenden. Doch er hat in den Jahren davor ab und zu Bemerkungen gemacht. Das haben uns auch gute Freunde von ihm bestätigt. So sagte er zu einer Freundin, dass er bestimmt nicht alt würde, sondern zum Club 27 gehöre.

An jedem Samstag verfolgen wir die Stunden und stellen uns vor, wie verzweifelt er war, als er sich zu diesem endgültigen Schritt, sein Leben zu beenden, entschloss.

Im Dezember vor seinem Tod, Axel war 42 Jahre alt, wünschte er sich noch das Drehbuch von Billy Wilders Some like it hot. Er bekam es von uns zu Weihnachten. Gerade dieses Buch hat er in seinem Wohnzimmer vor seinem Tod so aufgestellt, dass die letzten Seiten aufgeschlagen waren. Hier stand auf einer Doppelseite wie bei einem Filmnachspann „The End”.

Wenn du oder ein Angehöriger Hilfe braucht, nimm sie in Anspruch! Auch wenn die Krankheit selbst tabuisiert wird, bieten österreichweit viele Stellen Hilfe bei Depression an.