Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem Marshall Project entstanden, einer gemeinnützigen Nachrichtenorganisation, die sich mit dem US-amerikanischen Justizsystem beschäftigt.
Ich werde ständig gefragt, wie ein Tag im Gefängnis aussieht und ob hinter Gittern viel Langeweile herrscht. Deswegen habe ich mich vor Kurzem dazu entschieden, meinen Alltag als Häftling auf einem kleinen Notizblock zu dokumentieren und 24 Stunden lang wirklich alles aufzuschreiben, was ich mache.
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Jetzt will ich das, was ich an diesem Tag erlebt habe, mit der Welt teilen – und so zeigen, dass wir Häftlinge keine Versager sind und tatsächlich etwas leisten.
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Es ist 1:30 Uhr nachts und ich liege hellwach in meinem Bett, weil ein Aufseher mit der stärksten Taschenlampe der Welt in meine Zelle leuchtet. Ich habe zehn Minuten Zeit, um mich anzuziehen. Dann bringt mich der Aufseher zu den Isolationszellen, wo ich mich für die Leibesvisitation wieder ausziehen muss und danach meinen dreistündigen Suizid-Wachdienst beginne.
Der Wachdienst ist mein Gefängnisjob. Dafür sitze ich bei Häftlingen in der Zelle, die suizidgefährdet sind, rede mit ihnen und passe auf, dass sie sich nichts antun.
Der 18-Jährige, um den ich mich heute kümmere, leidet unter schweren Depressionen. Obwohl ich 25 Jahre älter bin als er, öffnet er sich mir gegenüber überraschend schnell und erzählt von seiner schrecklichen Kindheit. Sein Leben ist nie leicht gewesen – was bei Häftlingen zwar typisch ist, aber trotzdem immer wieder neu schockiert. Mir kommen mehrfach fast die Tränen. Viel kann ich allerdings nicht machen, außer dem jungen Mann so zuzuhören, als sei er mein Sohn.
Meine Schicht ist vorbei, ich werde erneut durchsucht und dann zurück in meinen Zellenblock gebracht. Dort dusche ich schnell, dehne mich, meditiere, bete und krieche danach wieder zurück unter meine kratzige Wolldecke. Um sechs Uhr schlafe ich ein.
Vormittags um zehn werde ich aufgrund des Lärms außerhalb meiner Zelle wieder wach. Ich brauche ein paar Minuten, um einen klaren Kopf zu bekommen, klettere dann aus meinem Etagenbett und werde von Ross begrüßt, einem Assistenzhund, den ich ausbilde.
Als ich mich anziehe, wedelt Ross freudig mit seinem Schwanz und stupst mich mit seiner kalten, feuchten Nase an. Das bringt mich immer zum Lächeln.
Die Stimme klingt dabei genauso eintönig und gefühllos, wie sie es schon seit Jahren tut, wenn sie mehrmals täglich durch die Gänge und Zellen schnarrt.
Anschließend mache ich mich auf den Weg zum Gemeinschaftsbad, das ich mit 48 anderen Insassen teile. Dort putze ich meine Zähne zwischen vier jungen Männern, die rappen, erledige danach mein morgendliches Toilettengeschäft und gehe schließlich zurück in meine Zelle, wo ich Ross eine neue Schüssel Wasser hinstelle. Ich schnappe mir den Leckerli-Beutel und gehe mit meinem Hund in einen ungestörten Bereich des Zellenblocks, wo wir 40 Minuten lang verschiedene Kommandos üben.
Als Nächstes nehme ich mir mein Tablet und eine Portion Instant-Kaffee und eile zum Computer-Terminal – unsere einzige Verbindung zur Außenwelt. Dort gebe ich einem Mithäftling eine Ramen-Nudelsuppe, weil er mir einen Platz in der Schlange freigehalten hat, stöpsle mein Tablet ein und empfange und sende meine E-Mails.
Als ich fertig bin, jogge ich rüber in die Küchen des Zellenblocks, wo ich mich für eine der beiden Mikrowellen anstelle, die für 96 Insassen bereitstehen. Zum Glück schaffe ich es noch, meinen Kaffee aufzuwärmen, bevor es über die Lautsprecheranlage heißt: “Noch fünf Minuten bis zum Durchzählen.” Die Stimme klingt dabei genauso eintönig und gefühllos, wie sie es schon seit Jahren tut, wenn sie mehrmals täglich durch die Gänge und Zellen schnarrt.
“Seid deutlich sichtbar auf euren Betten! Ich wiederhole: Seid für das Durchzählen um 11:30 Uhr deutlich sichtbar auf euren Betten oder ihr bekommt eine Verwarnung.”
Während des Durchzählens schreibe ich noch ein paar Mails vor und höre die Nachrichten im Radio. Dann schlüpfe ich in meine Trainingsklamotten (eine zusammengeflickte Jogginghose), werfe meinen “dicken” Wintermantel über und warte vor meiner Zellentür darauf, dass sie aufgeht.
Das Durchzählen ist für uns Häftlinge kaum berechenbar. OK, zwar beginnt das Ganze immer zu den gleichen Zeiten, nämlich 5 Uhr, 11:30 Uhr, 16 Uhr, 21 Uhr und 0 Uhr, aber es endet immer willkürlich. Und die Zeit dazwischen ist die Hölle.
Heute habe ich Glück. Die Wachen sind um 12:10 Uhr fertig. Das bedeutet, ich bin um 12:20 Uhr draußen im Gefängnishof. Diese Zeit mag ich am liebsten, weil da quasi nichts los ist. Die meisten Insassen essen gerade zu mittag. Ich laufe ein paar Kilometer, mache Klimmzüge, Liegestütze, Sprints und beende mein Training mit Gewichten und Dehnen.
Wenn um 13:40 Uhr das massive, mit Stacheldraht besetzte Tor zum Hof aufgeht, strömen die Massen hinaus und ich als gefühlt einziger wieder hinein. Im Strom von Hunderten Häftlingen muss man unglaublich wachsam sein, denn hier drin könnte man auch schnell abgestochen werden – und die Wachen merken es erst, wenn sie nach dem Ansturm eine blutüberströmte Leiche im Gang nach draußen finden. Deshalb halte ich mich bedeckt und gehe zügig voran. Ich begrüße lediglich hier und da ein paar bekannte Mithäftlinge.
Wieder zurück in meinem Zellenblock besetze ich mit meinem Handtuch und meiner Seife einen Platz in der Warteschlange vor der einzigen Dusche. Dann richte ich mir eine Schüssel Haferbrei mit einem Löffel Erdnussbutter und einer Handvoll Cashewnüsse, Mandeln und Sonnenblumenkerne an, mische mir noch eine Tasse Wasser mit Milchpulver zusammen und hole mir ein paar auf dem Schwarzmarkt gekaufte Bananen aus meinem Spind. Mein Mittagessen verdrücke ich, während ich darauf warte, endlich duschen zu können.
Die Dusche ist im Gefängnis der einzige Ort, an dem ich garantiert alleine bin. Nach zehn Minuten muss ich leider wieder zurück in meine Zelle. Auf dem Weg hole ich mir noch einen Kaffee und setze mich dann an den Schreibtisch, den sich mein Zellenkumpane und ich teilen. Zuerst lerne ich ein wenig Spanisch und werde danach selbst kreativ. Manchmal schreibe ich fiktive Geschichten, manchmal Gedichte und manchmal Sachgeschichten. Heute sind es fiktive.
Wenn man nicht in Schwierigkeiten geraten will, sollte man sich im Speisesaal nicht länger aufhalten als nötig.
Zwischen 15 und 18 Uhr lasse ich meinen Gedanken freien Lauf. Ich tauche ein in meine Fantasiewelt und durchlebe mit meinen Protagonisten Liebe und Verlust, kämpfe mit ihnen gegen das Böse und versuche, ihre Welt zu einem besseren Ort zu machen. Zwischendurch muss ich gezwungenermaßen eine 20-minütige Pause einlegen, denn um 16:30 Uhr wird ja wieder durchgezählt.
Kurz nach 18 Uhr gehe ich zusammen mit der in Orange und Blau gekleideten Masse in Richtung Speisesaal. Dort warte ich in einer der beiden Schlangen, die zwischen den langen Esstischen entlanggehen. Zwischendurch ermahnen uns die Wachen immer wieder, unsere Shirts in die Hose zu stecken, sonst gebe es eine Verwarnung.
Irgendwann stehe ich vor der dreckigen Essenausgabe, wo mir ein Tablett mit einem grauen Schleim (angeblich Truthahn), einem steinharten Keks und zerkochten Bohnen aus der Dose vorgesetzt wird. Ich schlinge so viel runter, wie gerade so geht, und verdrücke mich danach wieder. Wenn man nicht in Schwierigkeiten geraten will, sollte man sich im Speisesaal nicht länger aufhalten als nötig.
Nach dem Abendessen unterrichte ich normalerweise eine Stunde lang, wie man gut schreibt. Heute brauchen wir etwas länger, denn meine Schüler und ich haben viel Spaß dabei, über den Unterschied zwischen Aktiv und Passiv zu diskutieren.
Gegen 20 Uhr rufe ich meine Mutter an. Ein 15-minütiger Anruf kostet hier im Gefängnis drei Dollar (fast das Doppelte meines täglichen Gehalts), deswegen können wir nur ein- oder zweimal pro Woche telefonieren. Meine Mutter berichtet mir schnell und effizient, was es bei ihr so Neues gibt. Dann erzählt sie von der anstehenden Hochzeit meines Bruders. Wie gewohnt hören wir plötzlich eine robotische Stimme: “Sie haben noch eine Minute. Viele Dank, dass Sie unseren Service in Anspruch nehmen.” Kurz darauf ist unser Gespräch vorbei und wir müssen wieder bis zur nächsten Woche warten. Meine Mutter weint am Telefon oft. Ich manchmal auch.
Um 20:30 Uhr gehe ich mit Ross zum letzten Mal schnell vor die Tür. Dann jogge ich nach oben zu den Mikrowellen, mache mir noch eine Ramen-Nudelsuppe warm und bereite mir eine Portion Popcorn zu.
Es folgt das nächste Durchzählen. Währenddessen entspanne ich mich. Ich sitze zwei Stunden lang auf meinem Bett, schlürfe meine Suppe, genieße mein Popcorn und schaue entweder irgendetwas im Fernsehen oder lese ein Buch.
Die Nachtruhe steht an, ich schalte das TV-Gerät aus, lösche das Licht, dehne mich noch mal kurz, meditiere und bete. Schließlich liege ich wieder unter der kratzigen Wolldecke und schlafe langsam ein. Ein weiterer Tag ist rum, ich habe ja nur noch 3.650 vor mir.
Der 43-jährige Jerry Metcalf sitzt seine 40- bis 60-jährige Haftstrafe in der Thumb Correctional Facility im US-Bundesstaat Michigan ab. Er wurde 1996 wegen Mordes verurteilt und bekam zudem noch weitere zwei Jahre wegen unerlaubten Waffenbesitzes.