Der Eyeliner kann mehr, als Augen definieren – er hat ganze Epochen geprägt, Stilikonen geschaffen und den gesellschaftlichen Stand seiner Trägerinnen und Träger definiert. Er ist das Symbol vieler Legenden: Kleopatra, Twiggy, Prince, Marilyn Manson, Grace Jones, Boy George und Amy Winehouse. In den letzten hundert Jahren hat sich der Eyeliner wie eine sauber geschwungene Linie durch zahlreiche Modetrends gezogen. Um zu verstehen, wie es der Eyeliner auf Gesichter in der ganzen Welt schaffte, haben wir seine Geschichte aus dem Alten Ägypten über die Goldenen Zwanziger bis in euer Kosmetiktäschchen nachverfolgt.
Der erste Eyeliner: Giftiges Statussymbol
Lange bevor YouTube-Tutorials uns beibrachten, wie man die perfekten Smokey Eyes hinbekommt, umrandeten Menschen im alten Ägypten ihre Augen mit schwarzer oder grüner Farbe. Dafür benutzten sie Kohl, ein Gemisch aus Bleiglanz und anderen Mineralien, das mit Wasser, Öl und Tierfetten gemischt wird.
Videos by VICE
Die Verwendung von Kohl lässt sich in Ägypten bis ins Jahr 3.100 vor Christus zurückverfolgen. Historiker haben Hinweise darauf gefunden, dass Kohl oder vergleichbare Substanzen auch von anderen Völkern der Antike wie den Römern, den Kanaanitern oder Alten Griechen verwendet wurde.
Im Alten Ägypten wurde Kohl gleichermaßen von Männern und Frauen getragen. Historiker glauben, dass er mehr als reine Dekoration war: Er sollte den Sonnengott Re ehren, dessen Symbol das Auge war. Außerdem sollte die schwarze Umrandung die Augen vor starker Sonneneinstrahlung schützen und antiseptische Eigenschaften haben. Kohl wurde in allen Gesellschaftsschichten getragen, doch ärmere Menschen mussten den Bleiglanz durch Ruß ersetzen. Der Glanz des Kohls verriet somit viel über Wohlstand und Klassenzugehörigkeit der Trägerin.
Auch heute noch wird eine Version des Kohls in Teilen von Indien, Pakistan, verschiedenen afrikanischen Staaten und dem Nahen Osten verwendet. Der Begriff kohl hat einen arabischen Ursprung und ist je nach Region als kaja, al-kahal, surma, tiro oder kwalli bekannt. Einige Eltern in Indien, Pakistan und Afghanistan versuchen nach wie vor ihre Kinder durch traditionellen Kohl vor dem sogenannten Bösen Blick zu schützen – diese Praxis ist heute jedoch sehr umstritten, da die Bleispuren im Gemisch zu einer gefährlichen Bleivergiftung führen können.
Ägyptomanie und Stummfilme holen den Eyeliner ins 20. Jahrhundert
Zwischen der Antike und dem 20. Jahrhundert gab es weltweit verschiedene Arten von Eyelinern: Die Frauen im Alten Rom benutzten ebenfalls Kohl, um ihre Augen zu schwärzen, japanische Geishas betonten ihre Augen Mitte des 18. Jahrhundert mit Holzkohle und amerikanische Ureinwohner wie die Pawnee oder Osage umrandeten ihre Augen mit roter Gesichtsfarbe für spirituelle Rituale.
In der westlichen Kultur hingegen wird der Eyeliner erst seit den 1920er Jahren regelmäßig benutzt. Zuvor wurde auffälliges Make-up in den USA und weiten Teilen Europas nämlich mit Prostitution in Verbindung gebracht. Grund für den Sinneswandel war ein Zufallsfund in Ägypten und die Erfindung des Bewegtbilds.
Im Jahr 1912 entdeckte der Ägyptologe Ludwig Borchardt die Büste der ägyptischen Pharaonengattin Nofretete, zehn Jahre später wurde das Grab des Pharaos Tutanchamun gefunden – beide Entdeckungen lösten eine regelrechte Ägyptomanie aus. Die Welt war fasziniert von der ägyptischen Kultur und den Pharaonen. Und auch die Schönheit Nofretetes mit ihrem langen Hals, hohen Wangenknochen und ihren mandelförmigen, mit schwarzer Farbe umrandeten Augen, lösten Begeisterung aus.
Etwa zur selben Zeit eröffneten die ersten großen Filmtheater, in denen Filme aus Hollywood gezeigt wurden. Hier sahen die Zuschauenden Schauspielerinnen mit stark geschminkten, dunklen Augen, die ihre Gesichtsausdrücke in den Schwarzweißfilmen hervorheben sollten. Aus demselben Grund trugen auch männliche Schauspieler Eyeliner, so zum Beispiel Charlie Chaplin in seiner berühmten Rolle als “Tramp”. Auch Bollywoods erster Stummfilm, Raja Harishchandra, zeigte im Jahr 1913 Schauspielerinnen und Schauspieler mit schwarz umrandeten Augen. Auch der deutsche Stummfilm “Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens” zeigt die Darstellerinnen und Darsteller mit schwarz umrandeten Augen.
Dank der Ägyptomanie und dem Trendsetting der Filmstars veränderte sich die Einstellung der Bevölkerung zum Make-up. Vorbei waren die Zeiten, in denen es nur mit Prostituierten oder Bühnenschauspielern assoziiert wurde: Die “Smokey Eyes” wurde zum bevorzugten Look vieler Frauen der 1920er-Jahre.
Auf Broadly: Zu Besuch in einer brasilianischen Schönheitsklinik
Mit Lidstrich durch die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg
Vor allem in den USA erlebte die Kosmetikindustrie zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg einen Boom. “Jede Frau, die etwas auf sich hielt, trug zu dieser Zeit Make-up”, erklärt die Kunsthistorikerin Madeleine Marsh. Das Make-up symbolisierte auch neu gewonne Freiheiten, sagt sie: “Nach dem Ersten Weltkrieg fand eine Revolution statt: Frauen erhielten in vielen Ländern erstmals das Stimmrecht, legten ihre Röcke ab und begannen, öffentlich zu trinken und zu rauchen. Sie hatten viele neue Freiheiten – und dazu gehörte auch, sich zu schminken.” Der Ansturm auf Make-up war so groß, dass die Kosmetikindustrie sogar eine der wenigen Branchen war, die während der Großen Depression in den USA weiter wuchs.
Allerdings waren viele Produkte, die damals in den Läden landeten, schädlich oder sogar giftig – wie zuvor auch der traditionelle Kohl. Im Jahr 1933 führte die Wimpernfarbe Lash Lure zu einem Todesfall, mehrere Frauen erblindeten. Sie enthielt unter anderem den giftigen Wirkstoff Phenylendiamin, der heute in der Herstellung von Pflanzenschutz- oder Haarfärbemitteln benutzt wird. Als Reaktion auf diesen und weitere Vorfälle wurden 1938 in den USA Sicherheitsstandards für Kosmetikprodukte eingeführt, die durch die Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) reguliert werden. In Europa wird die Sicherheit von Kosmetikprodukten durch die EU-Kosmetikverordnung gewährleistet.
Auch während des Zweiten Weltkriegs, als Güter wie Zucker und Reifen rationalisiert wurden, trugen Amerikanerinnen weiterhin Make-up, um den Anschein eines normalen Lebens zu wahren und die Moral zu stärken – auch wenn sie teilweise auf alte Hausmittel wie Ruß oder Holunderbeeren zurückgreifen mussten. Selbst die Propagandaplakate, die Frauen aufforderten, während des Krieges traditionelle Männerberufe zu ergreifen, zeigten Frauen mit stark geschminkten Augen.
Nach 1945 wurden die Amerikanerinnen dann ermutigt, sich wieder auf die häusliche Sphäre zu konzentrieren. Oberste Priorität: den Ehemann zufrieden zu stellen. Diese Einstellung führte zu den extrem binären Geschlechterrollen der 1950er Jahre – und zu den glamourösen Schminktrends dieser Zeit. Verspielte Katzenaugen, dünne Augenbrauen und volle rote Lippen: Wer gerade kein Bild vor Augen hat, braucht sich nur Marilyn Monroe in Blondinen bevorzugt anschauen.
Swinging Sixties, Glamrock und Guyliner
Dieser Look hielt sich bis Anfang der frühen 1960er Jahre mit prominenten Vertreterinnen wie Audrey Hepburn oder Jackie Kennedy. Dann wurde er durch das experimentelle Augen-Make-up der Swinging Sixties abgelöst. Models wie Twiggy und Brigitte Bardot machten den Lidstrich berühmt, der nicht nur die Wimpernlinie, sondern auch die Lidfalte nachzeichnete und der unter den Augen künstliche Wimpern aufmalte.
In den 1970er Jahren wurde das extravagante Augen-Make-up um bunten Lidschatten und weißen Eyeliner erweitert, der die Augen größer erscheinen lassen sollte. Gleichzeitig wurde auch der natürliche Look immer beliebter – inspiriert von der Hippie-Bewegung und als Gegenpol zum Mainstream. Während einige Frauen jetzt weniger Make-up trugen, wurde durch den Glamrock und Künstler wie David Bowie, Mick Jagger, Lou Reed und Prince der sogenannte “Guyliner” geboren. Was im alten Ägypten bereits normal war, wurde durch rebellische Vorreiter nun auch in westlichen Sphären salonfähig.
Schrille Farben und Feminismus
Zu Beginn der 1980er Jahre war es mit dem natürlichen Look wieder vorbei. Den größten Einfluss auf Mode und Make-up hatten zu dieser Zeit Pop-Sängerinnen wie Madonna, Cyndi Lauper, Whitney Houston und Boy George. Viele dieser Künstlerinnen ließen sich für ihren Look von exzentrischen Subkulturen wie Hardcore Punk, Goth und der Rave-Szene inspirieren. Das Ergebnis waren schrille Lidschatten, dicker Rouge und dunkle Lidstriche am oberen und unteren Lid.
In den 1990er Jahren gab der sogenannte “Lippenstift-Feminismus” dem Tragen von Make-up eine neue Bedeutung: Lippenstift und Kajal sollten nicht nur schön aussehen, sie konnten auch Zeichen von Macht und Selbstbestimmung sein. Diese Einstellung wurde von Stars wie Courtney Love oder den Spice Girls verkörpert. Zur selben Zeit wurde durch Bands wie Nirvana nicht nur der Grunge, sondern auch starkes, leicht verwischtes Augen-Make-up beliebt.
YouTube-Tutorials, die Kardashians und Selfies
Nichts schreit so sehr Nullerjahre wie Von-Dutch-Cappies, Jogginganzüge aus Samt und der sogenannte Tightliner – also Eyeliner, der auf der Wasserlinie aufgetragen wird. Eyeliner für Männer war in dieser Zeit hauptsächlichen der Emo-Szene vorbehalten, inspiriert von Künstlern wie Billie Joe Armstrong oder Pete Wentz.
Frauen hingegen gingen auch außerhalb dieser Szene großzügig mit Eyeliner um. Der Look, den Destiny’s Child, Paris Hilton und Avril Lavigne vormachten, wurde vorzugsweise mit Gel-Eyeliner erreicht. Eine Studie von 2015 fand allerdings heraus, dass Tightlining nicht ganz ungefährlich ist: Wenn der Lidstrich unterhalb der Wimpern gezogen wird, erhöht sich das Risiko, das Auge und die Tränendrüsen durch die winzigen Eyeliner-Partikel zu schädigen.
Im Jahr 2005 eröffnete die Videoplattform YouTube ganz neue Möglichkeiten: Nun konnte jeder von Profis lernen, wie man den perfekten Lidstrich zieht – kostenlos und ohne das Haus zu verlassen. Die ersten Schmink-Videos aus dieser Zeit, wie das von Make-up-Artist Michelle Phan, wurden millionenfach geklickt. Schnell fluteten Beauty-Tutorials die Plattform.
Als die Reality-Show Keeping Up With The Kardashians 2007 erstmals ausgestrahlt wurde, konnte wohl niemand ahnen, wie sehr die Serie den Make-up-Stil (und die Gesellschaft) verändern würde. Kim Kardashians Smokey-Eyes mit schwarzem Kajal und schwarzem Lidschatten wurde vielfach kopiert und durch Reality-Shows wie Jersey Shore weiter verbreitet. Doch es war am Ende Kim Kardashians jüngere Schwester Kylie Jenner, die mit ihrem Look für die größeren Schlagzeilen sorgte. Als Antwort auf Gerüchte, sie würde sich die Lippen aufspritzen lassen, brachte Jenner kurzerhand ihre eigene Kosmetiklinie auf den Markt. Seitdem kopieren junge Frauen auf der ganzen Welt ihren Stil, zu dem auch sorgfältig geschminkte Katzenaugen gehören. Den gewünschten Effekt erzielt Jenner übrigens mit Lidschatten statt Eyeliner, wie sie Anfang des Jahres ihren 114 Millionen Followerinnen auf Instagram verriet.
Die Historikerin Marsh meint, dass Selfies weiter zu dem großen Interesse an Make-up und professionellen Tutorials beitragen. Da wir jederzeit bereit für ein Foto sein wollen, sei uns unser Aussehen auch besonders wichtig.
Die Alten Ägypter haben der Nachwelt eine Vielzahl an kulturellen, architektonischen und künstlerischen Gütern hinterlassen, die uns bis heute fesseln. Dass aber ausgerechnet ihr geliebter Kohl ein Millionenpublikum erreichen würde, hätten sich wohl auch die Pharaonen nicht träumen lassen.
Folgt Broadly bei Facebook, Twitter und Instagram.