Diese Frau hat fünf Jahre lang Live-Sex-Shows erforscht

Die Frau Lea-Sophie Schiel sitzt auf einer Holzbank vor einem Fenster

“In Amsterdam bekommt jede Besucherin am Eingang des Sex-Theaters einen Penis-Lolli”, sagt Lea-Sophie Schiel. “Und dann sitzen im Publikum auch nur Frauen, die daran lutschen.” Fünf Jahre lang hat sich die 31-Jährige rund 50 Live-Sex-Shows in Sex-Theatern, auf Erotik-Messen oder in Chats angeschaut. Für Lea-Sophie ist das aber weder ein skurriles Hobby noch ein Indiz dafür, dass sie besonders oft mit angetrunkenen Junggesellen- oder Junggesellinnenabschieden unterwegs ist. Denn die promovierende Theaterwissenschaftlerin hat Live-Sex-Shows erforscht. Und saß nicht mit einem Phallus-Lutscher, sondern mit Stift und Papier im Publikum.

Auf rund 300 Seiten hat Lea-Sophie die Ergebnisse ihrer Forschung niedergeschrieben. Sie sagt, mit ihrer Dissertation habe sie die Inszenierung von Sex Performances analysieren wollen. “Ich wollte die verschiedenen Formen vergleichen und unter anderem herausfinden, wie Geschlecht oder Sexualität dargestellt werden”, erzählt sie.

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Besonders bei Partys sei Lea-Sophie immer wieder aufgefallen, dass ihr Forschungsthema ein Tabu ist. “Wenn ich erzählt habe, worüber ich forsche, haben viele es als Einladung gesehen, mir etwas von ihrer eigenen Sexualität zu erzählen”, sagt sie. “Es gibt also offensichtlich ein Redebedürfnis.”

Das haben wir auch. Und mit Lea-Sophie über Live-Sex, Penetrations-Rhythmen und eine rauchende Vagina gesprochen.

Schaufenster einer Peep-Show in Amsterdam
Schaufenster einer Peep-Show in Amsterdam | Foto: imago | Schöning

VICE: Du hast fünf Jahre lang Sex-Shows erforscht. Wie kommt man auf so ein Thema?
Lea-Sophie: Ich bin Theaterwissenschaftlerin. Kurz vor Ende meines Magistra-Studiums bin ich auf das Thema Live-Sex-Performances gestoßen. Eine Freundin von mir hat ihre Abschlussarbeit über Torture Porn geschrieben, das sind besonders explizite Gewaltdarstellungen in Horrorfilmen. Ich dachte mir: “Pornografie ist ein spannendes Forschungsthema, aber ich bin Theaterwissenschaftlerin und Sex auf der Bühne gibt es nicht. Oder doch?”

Und dann hast du angefangen, dir Live-Sex-Shows anzuschauen?
In Deutschland sind klassische Live-Sex-Shows nicht erlaubt. In Hamburg gab es das “Safari”, ein Sex-Theater, das eine Sondergenehmigung hatte. Ende 2014 musste es allerdings aus wirtschaftlichen Gründen schließen. Ich hatte also ein Stipendium und mein Forschungsobjekt hatte sich quasi aufgelöst. Ich bin dann nach Amsterdam gefahren, wo es die letzten Live-Sex-Theater gibt. Dort habe ich hauptsächlich geforscht, aber ich war auch in München bei Bondage-Shows, in Live-Sex-Chats oder in Berlin bei der Erotik-Messe Venus. Allerdings gibt es bei den Shows dort keine genitale Penetration zwischen Mann und Frau.

Was passiert in einem Sex-Theater?
Die Shows in Amsterdam wiederholen sich anderthalb Stunden lang, viele ähneln sich sehr. Ich dachte am Anfang, der Live-Sex sei eine Improvisation zwischen Paaren, die sich irgendwie eingegroovt haben. Dann habe ich herausgefunden, dass die Performance so genau einstudiert ist wie eine Ballett-Choreografie: Die Darstellenden der Paar-Performances zeigen meistens eine “klassische”, heterosexuelle Penetration. Ich habe nur ein Mal eine Show mit zwei Darstellerinnen gesehen. Die Show findet auf einer rotierenden, roten Samt-Matratze in einer Guckkasten-Bühne statt. Meistens ist es so, dass der Vorhang aufgeht und das Paar schon voll bei der Sache ist. Dann kommt ein Song, der irgendeinen Bezug zu Erotik hat, zum Beispiel “Das Tier in mir”. Im Rhythmus der Musik haben sie dann in verschiedenen Stellungen Sex. Die Live-Sex-Shows in Amsterdam sind eher eine Tourist*innen-Attraktion. Da sitzt niemand und befriedigt sich selbst. Zumindest habe ich das nicht gesehen.


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Warst du vor deiner Forschungsarbeit schon mal in einer Live-Sex-Show?
Das war das erste Mal. Am Anfang war das eine sehr große Hürde für mich: Ich bin allein nach Amsterdam gefahren und viele Leute aus meinem Umfeld haben gesagt, als Frau müsse ich in dem Bereich aufpassen. Im Zug nach Amsterdam habe ich dann auch gleich einen Mann getroffen, der mir Begleitschutz geben wollte. Mir ist schnell aufgefallen, dass kaum andere Frauen alleine in diesem Umfeld unterwegs sind. Und schon gar nicht mit Block und Stift. Ich war also so etwas wie der Fehler in System. Aber irgendwann habe ich mich daran gewöhnt und es als Arbeit gesehen.

Hast du anderen Zuschauenden erklärt, was du da machst?
Ich glaube, niemand hat sich getraut, mich anzusprechen. Die meisten haben sogar einen Sitz Sicherheitsabstand zu mir gehalten. Manchmal habe ich gemerkt, dass Leute versucht haben, in meine Notizen reinzuschielen. Wahrscheinlich dachten sie, dass ich Journalistin bin und eine Reportage schreibe. Ich fand es aber sehr interessant, dass sich das Publikum gemeinschaftlich mit Sexualität auseinandergesetzt hat. Man beobachtet, was auf der Bühne passiert. Aber man beobachtet sich auch gegenseitig. Ich habe Frauen gesehen, die Lachkrämpfe bekommen haben. Viele Männer waren stärker auf die Performance konzentriert. In den verschiedenen Reaktionen spiegeln sich auch die verschiedenen Auffassungen von Sexualität wieder. Sex ist eben nicht ein unveränderbares Produkt der Natur und für alle dasselbe.

Was lernt man über Sex, wenn man fünf Jahre lang in Live-Sex-Shows geht?
Ich habe gelernt und herausgefunden, dass Sex grundsätzlich eine Art Performance oder Theater ist. Auch, wenn wir ihn im Privaten haben. Es gibt Bilder oder vielmehr Szenen, die die Gesellschaft prägen und die wir beim Sex aufführen. Aber ich denke auch, dass gesellschaftliche Funktionsweisen in Sex-Performances sichtbar gemacht werden. Es gibt zum Beispiel eine sehr starke Fokussierung auf genitalen Penetrationssex, der als “das Normale” und “Natürliche” inszeniert wird. Sexualität und Pornografie beeinflussen sich gegenseitig. Aber ich glaube nicht an das Argument von Pornografie-Gegnern und -Gegnerinnen, ein Verbot verbessere unsere Sexualität im feministischen Sinne.

Findest du, dass pornografische Inhalte und Live-Sex-Shows eher für das männliche Auge inszeniert werden?
Die Performances wiederholen schon sehr oft heterosexuelle Narrative und fokussieren sich sehr stark auf eine männliche Perspektive. Das Penetrieren im Rhythmus der Musik impliziert, dass er der machtvolle Part ist. Aber ich habe auch das Gegenteil erlebt: Ich war zum Beispiel bei einer Solo-Performance einer weiblichen Person, die einen männlichen Zuschauer aus dem Publikum auf die Bühne holte. Die Show endete damit, dass sie ihm die Hose runterzog. Er hatte eine halbe Erektion – und Teile des Publikums grölten vor Lachen. Ich glaube, sie fanden es lustig, dass er eine Erektion hatte. Man könnte meinen, die Shows seien dazu da, sexuell zu erregen. Aber man sah dem Mann an, dass er sich geschämt hat. Mir ist aufgefallen, dass er es in dieser Situation nicht richtig machen konnte: Auf der anderen Seite ist es peinlich, vor dem Publikum mit einer Erektion dazustehen. Aber vielleicht wäre er ohne Erektion für alle nur der Typ gewesen, der keinen hochbekommt.

Was war das Verrückteste, das du bei deiner Forschung gesehen hast?
Eine Darstellerin hat eine Zigarre mit ihrer Vagina – oder, wie ich sie nenne, Vulvina – geraucht und Rauchringe rausgepustet. Ich fand das sehr beeindruckend und habe nicht ganz verstanden, wie es funktioniert. Manche Performances wirken skurril. Wenn man länger darüber nachdenkt, merkt man aber, dass es eigentlich eine ganz coole Art der Kunst ist.

Außerhalb der Forschung sind mir aber auch komische Dinge passiert. Ich war in Erlangen beim Zahnarzt und habe ihm vor der Behandlung über meine Arbeit erzählt. Er war total von den Socken. Dann hat er gefragt, ob er mir etwas zeigen könne. Und hat auf seinem Handy ein Video abgespielt von einer Person, die am Penis aufgehangen war und durch den Raum schwang. Mein Zahnarzt wollte von mir wissen, ob das echt sei. Und ich dachte mir mit meinem betäubten Gesicht: “Woher soll ich das denn wissen?”

Wie hat die Uni auf dein Forschungsthema reagiert?
Das war gar kein Problem. Aber es ist mir schon passiert, dass ich im wissenschaftlichen Rahmen deswegen diskreditiert wurde. Ich war auf einer Veranstaltung, wo meine Forschungen zu einem ganz anderen Thema, im Gebiet des politischen Theaters, vorgestellt wurden. Es ging eigentlich um die Vorträge. Ich wurde dann aber gefragt, ob ich auch selber Sex-Performances mache. Die Person fand das offenbar lustig. Auch im wissenschaftlichen Kontext gibt es Vorurteile. Und manche Leute denken, dass es nicht wissenschaftlich ist, dass ich zu Sexualität forsche. Ende des Jahres bekomme ich von meinen Professor*innen allerdings die Rückmeldung zu meiner Arbeit. Und wenn ich die Verteidigung bestanden und einen Verlag gefunden habe, kann ich mich, wenn ich das möchte, auch Dr. Lea-Sophie Schiel nennen.

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