Die russische Färbung Rigas fällt dem Neuankömmling schon am Flughafen auf. Hier gibt es zahlreiche Angebote—meist in russischer Sprache—, die den Kauf eines Hauses in Jurmala bewerben. Jurmala ist bei den Russen als Urlaubsort berühmt und außerdem für den russischen Schlagerwettebewerb „Neue Welle” bekannt. Auf den Straßen der lettischen Hauptstadt ist ebenso viel Russisch wie Lettisch zu hören.
Unter den drei baltischen Republiken hat Lettland die größte russischsprachige Bevölkerung. In Lettland leben zwei Millionen Menschen: Laut offiziellen Angaben sind 62 Prozent ethnische Letten, 26 Prozent Russen, drei Prozent Weißrussen und zwei Prozent Ukrainer. In der Bevölkerung gibt es 700.000 russische Muttersprachler. In Riga spricht fast jeder zweite Russisch.
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„Im Alltag kommunizieren wir sehr gut miteinander. Du kannst jemanden auf Russisch eine Frage stellen, und er antwortet auf Lettisch”, sagt die 25-jährige Liga Rudzite. „Manchmal fühlen wir uns sogar unbehaglich, wenn jemand eine der beiden Sprachen nicht gut beherrscht.” Rudzite arbeitet als politische Beraterin bei der lettischen Plattform lapas.lv, die für soziale und politische Projekte in Osteuropa verantwortlich ist. Ihr Freundschaftskreis ist ziemlich gemischt—es sind Letten, ethnische Russen und russischsprachige Freunde darunter. Für Rudzite ist es eine Selbstverständlichkeit, dass junge Menschen in Lettland bilingual aufgewachsen sind.
Anatolijs Golubovs, der Chefredakteur der lettischen russischsprachigen Webseite rus.delfi.lv, kommt aus einer russisch-ukrainischen Familie, seine Frau wiederum stammt aus einer russisch-weißrussischen Familie. Die beiden haben fast das ganze Leben in Lettland verbracht, ihr Kind wurde hier geboren. Sein Lebenslauf ist einer von Tausenden. Auf die Frage „Was bist du denn?” antwortet er: „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich russischsprachiger Lette.”
Wegen dieser gemischten Identitäten glauben viele, dass ein Krim-Szenario hier unwahrscheinlich ist. „Die Annexion der Krim könnte hier nicht stattfinden. Wir haben keinen Konflikt mit der russischsprachigen Bevölkerung”, erklärte Außenminister Edgars Rinkevics unlängst in einem Interview. Anders als die Ukraine ist Lettland in Europa integriert: Die Mitgliedschaft in der EU und NATO gibt selbst den Menschen, die an der russischen Grenze leben, Sicherheit. Hört man sich um, dann bezweifeln die meisten, dass der Kreml einen EU-Staat militärisch angreifen würde.
Und doch: Der Einfluss der russischen Propaganda ist in Lettland spürbar. „Russische Rhetorik hat einen großen Einfluß darauf, wie die Letten Erreignisse in der Ukraine interpetieren”, sagt Soziologin Inese Šūpule aus dem Baltischen Institut der Sozialwissenschaften. Etwa ein Drittel der Bevölkerung unterstütze die Annexion der Krim, erklärt Ainars Dimants, Direktor des lettischen Rats elektronischer Medien. Viele von ihnen sind russischsprachig, waren aber seit Jahren nicht mehr in Russland. Trotzdem seien sie stolz auf Russland und fühlten sich Lettland nicht zugehörig. Ein großer Teil davon gehört zur Kategorie der „Nichtbürger”, von denen es in Lettland rund 270.000 gibt.
Nach der Unabhängigkeit Lettlands haben ehemalige Bürger der Sowjetunion, die nach 1940 ins Baltikum gezogen sind, diesen Status erhalten, da sie als sowjetische „Besatzer” galten. Auch ihre Nachkommen haben diesen Status. Sie können zwar ohne Probleme durch die EU und nach Russland reisen, dürfen aber nicht in der EU arbeiten. Außerdem haben sie kein Wahlrecht und können für kein öffentliches Amt kandidieren. Die violetten Pässe dieser Bürger nennt man auch scherzhaft „Pässe der Außerirdischen”. Gerade diese benachteiligte Bevölkerungsgruppe könne leicht zum „Objekt der russischen Propaganda” werden, fürchtet Soziologin Inese Šūpule.
Die „Nichtbürger” können sich theoretisch einbürgern lassen. Dazu müssen sie einen lettischen Sprachtest und Geschichtstest bestehen. Außerdem muss man dazu während der letzten fünf Jahre in Lettland gearbeitet haben. Die Statistik sagt, dass rund 40 Prozent der „Nichtbürger” älter als 60 Jahre sind. Selbst wenn sie den Sprachtest bestehen, fällt ihnen der Geschichtstest oft aus ideologischen Gründen schwer. Viele russischsprachige Personen müssen auf ihre Überzeugung verzichten. Nur ein Beispiel: Am 9. Mai feiern die Russischsprachigen den historischen Sieg über den Faschismus, für Letten aber ist es der Anfang der „sowjetischen Okkupation”.
Die 60-jährige Elena Orlowa, eine Reinigungskraft, ist Nichtbürgerin. Sie fühlt sich diskriminiert, möchte sich aber keinem Test unterziehen. Sie hat ihr ganzes Leben hier gelebt und ist der Meinung, dass sie eine Staatsbürgerschaft automatisch bekommen müsse. Sie überlegt gar, eine russische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Ihre Tochter hat sich wiederum anders entschieden: Sie hat die Hürden bewältigt und die lettische Staatsbürgerschaft erhalten.
Während die Integrationsabteilung des lettischen Kulturministeriums positive Trends sieht—mehr als 80 Prozent der neugeborenen „Nichtbürger” nehmen die Staatsbürgerschaft Lettlands an—, kritisiert Elizabete Krivcova die Lage. Sie ist Vertreterin des „Kongresses der Nichtbürger”. Seit 2008 schaffen jährlich nur 1.000 von 270.000 Menschen den Einbürgerungsprozess. Krivcova meint, dass dies zu wenig sei. Sie fordert, älteren Menschen die Staatsbürgerschaft ohne Prüfungen zu geben. Alle anderen sollten ihrer Meinung nach für die Einbürgerung nur die Sprachprüfung bestehen müssen. Krivcova findet, dass die Ignoranz der Minderheitenfrage auf der politischen Ebene die Gesellschaft teile. Die Russischsprachigen sollten ermutigt werden, Lettisch zu lernen, anstatt Russisch aufgeben zu müssen.
Soziologin Inessa Šūpule bemängelt, dass es an Dialogangeboten für die Russischsprachigen fehle. Seit 2013 gibt es keine kostenlosen Lettisch-Kurse für die „Nichtbürger” mehr. Das Netz der Beratungsstellen, wo sich Russischsprachige oder Nichtbürger in juristischen Dingen beraten lassen können, ist noch nicht gut ausgebaut. Auch Anatolijs Golubovs denkt, dass mehr Partizipation und Teilhabe am politischen Leben die Lösung sei. „Wenn die Nichtbürger ein Recht hätten, an Kommunalwahlen teilzunehmen”, glaubt er, „wäre das ein entscheidender Schlag gegen die russische Propaganda.”