Am 4. März stimmt die Schweiz darüber ab, ob der Bund auch in Zukunft Gebühren eintreiben darf, um den öffentlichen Rundfunk zu finanzieren. Initianten, Medien und der Volksmund sprechen von der “No Billag”-Initiative, obwohl die Billag AG eigentlich nur die Inkassofirma ist, die Leute von Haustür zu Haustür schickt, um die Gebühren einzutreiben. Und weil wahrscheinlich niemand gerne mehrere Hundert Franken im Jahr für ein TV-Programm ausgibt, dass er entweder kaum konsumiert oder auch als Schwarzseher empfangen kann, eignen sich die hartnäckigen Geldeintreiber der Billag als dankbares Feindbild. So oder so, auch ohne “No Billag” würde es die Billag ab 2019 nicht mehr in dieser Form geben. Im März dieses Jahres verlor sie den Inkassoauftrag an die Serafe AG, die verspricht, die Rundfunkgebühren ab 2019 günstiger als die Billag einzutreiben.
Trotzdem bewegt die Initiative aus rechten und liberalen Kreisen die Menschen: Obwohl es noch drei Monate bis zur Abstimmung dauert, ist die Diskussion bereits in voller Fahrt. Letzten Sonntag veröffentlichte die SonntagsZeitung erstmals eine Prognose, nach der 57 Prozent die Initiative befürworten würden und nur 34 Prozent dagegen seien, der Rest sei noch unentschlossen. Die auflagenstärksten Zeitungen und Onlineportale der Schweiz wie 20 Minuten, mit fast 5 Millionen monatlichen Besuchern, übernahmen die News und berichteten, dass die No-Billag-Befürworter die Nase vorne hätten. Auf den ersten Blick sieht das für die Gegner der Initiative erschreckend aus, befürchten sie doch bei einer Annahme von No Billag das Ende des öffentlichen Rundfunks. Doch zumindest vorerst ist alles erst halb so schlimm: Die Umfrage bezeichnet sich zwar selbst als repräsentativ, trotzdem sprechen viele Hinweise dafür, dass wir sie getrost als Kaffeesatzleserei ignorieren können.
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Viele Medienhäuser geben vor wichtigen Abstimmungen regelmässig Prognosen und Umfragen in Auftrag, in den vergangenen Jahren hatten aber viele von ihnen etwas gemeinsam: Sie waren ungenau oder falsch. Gründe dazu gibt es einige, einen davon nennt die SonntagsZeitung gleich selbst: “In einem so frühen Stadium sind 57 Prozent Zustimmung bei einer Initiative oft nicht ausreichend. Sobald die Gegenkampagne einsetzt, schmilzt der Vorsprung normalerweise.” Dazu kommt, dass die Gegner von No Billag ihre Kampagne erst im Januar beginnen.
Durchgeführt wurde besagte Studie von einer Firma, die sich “Marketagent AG” nennt. Auf Twitter rätseln User über das bisher eher unbekannte Institut selbst und kritisieren die Methodik der Studie. Zwar habe Marketagent AG schon einige politische Forschungsprojekte umgesetzt, wenige hatten jedoch eine solche Resonanz, erklärt Studienleiter Jürg Gujan VICE per Telefon. Um in der Schweiz annähernd verlässliche Umfrageergebnisse zu erhalten, müssen zum Beispiel die Ergebnisse aus den verschiedenen Sprachregionen mit Erfahrungswerten aus der Vergangenheit gewichtet werden – was in der Schweiz nicht so einfach geht. Das wissen auch geübte Forscher wie Claude Longchamp, der bei der Minarett-Initiative unterschätzte, wie stark Leute wegen sozialer Erwünschtheit bei Umfragen anders antworten als auf dem Wahlzettel. Satte 20 Prozentpunkte lag die Wahlumfrage von Longchamp damals daneben.
Mit einer Auswahl von 1.010 Teilnehmern aus der Deutsch- und Westschweiz wollte Marketagent näher dran sein als Longchamp damals. Wieso das schwierig wird, zeigt aber schon ein Blick in die Stichprobe: Das Tessin wurde darin nämlich ganz vernachlässigt. Auch über 65-Jährige, die Altersgruppe, die am häufigsten abstimmen geht, wurden gar nicht erst befragt. Studienleiter Gujan erklärt VICE dazu: “Das Studiendesign sah keine Befragung von über 65-Jährigen und auch keine Teilnehmer aus dem Tessin vor. Die Studie ist also nur für die im Forschungsdesign definierten 18- bis 65-jährigen Stimmberechtigten aus der Deutsch- und Westschweiz repräsentativ.” Im Kuchendiagramm zu den befragten Altersgruppen werden zudem 14- bis 19-Jährige aufgeführt, die zum Grossteil gar nicht abstimmen dürfen. Laut Gujan basiert das auf dem “übergreifendem Studiendesign und weicht in dieser konkreten Befragung ab”. Fünf Prozent der Stimmenden seien zwischen 18 und 19 Jahre alt gewesen. Auf eine nachträgliche Gewichtung verzichtete Marketagent, dafür hätten sie bereits vorab die Teilnehmer repräsentativ quotiert und dann zufällig ausgewählt.
Nicht nur das Forschungsdesign scheint fraglich, auch die Ergebnisse der Studie sind unüblich: Demnach wäre der Röstigraben wohl zugeschüttet und die Romandie soll die Initiative sogar eher befürworten als die Deutschschweiz.
Was bleibt also übrig von einer Abstimmungsumfrage, die die wichtigsten Wählerschichten sowie ganze Landesteile komplett aussen vor lässt und deren Teilnehmer sogar bezahlt wurden? Die Antwort ist einfach: nichts. Studienleiter Gujan bezeichnet die Umfrage als “Momentaufnahme der Abstimmungspräferenz der befragten Bevölkerungsgruppen” und erwartet, dass die jeweiligen Beteiligten auch die korrekten Schlüsse daraus ziehen werden. Mit ersterem hat Gujer Recht, mit zweiterem leider nicht. Die SonntagsZeitung schreibt im ersten Satz “Stimmten wir heute über die No-Billag-Initiative ab, würde sie angenommen.” Aus der Umfrage diesen Schluss zu ziehen ist schlicht nicht korrekt. Wenn auch noch die reichweitenstärksten Zeitungen der Schweiz kritiklos Umfragen publizieren, die nicht mehr als Lärm sind, zeichnet das kein gutes Bild über die momentane Politkultur der Schweiz.