Vor Kurzem habe eine Freundin Lina von einem Flirt erzählt. Ein Typ im Club hätte sie gefragt, ob sie rauchen gehen möchte. Als sie ablehnte, habe er gesagt: “Wenn du meine Frau werden willst, dann kommst du jetzt besser mit.” Ihre Freundin habe sich da sehr drüber geärgert. “Aber ich fand das eigentlich ganz süß”, sagt Lina.
Eifersucht und besitzergreifendes Verhalten – für Lina offenbar ein Zeichen von Liebe. Wenn bei anderen Frauen bereits die Alarmglocken läuten, fühlt sie sich angezogen. “Irgendwas stimmt mit mir nicht. Das war kein cooler Anmachspruch.” Der Grund dafür ist lange her.
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Lina, wie wir sie hier nennen, weil sie ihren echten Namen lieber für sich behält, sagt, dass sie wohl etwa vier Jahre alt war, als sie das erste Mal missbraucht wurde. Ein Jahr älter als ihre kleine Tochter heute ist. Während Lina davon erzählt, sitzt sie mit angewinkelten Beinen am Küchentisch ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung im Westen Deutschlands. Vor ihr eine dampfende Tasse Ingwer-Minztee mit ordentlich Zucker.
Wenn Lina darüber spricht, wie sie in ihrem Leben wiederholt Opfer von sexuellen und körperlichen Missbrauch wurde, tut sie das mit so einer Normalität, wie es nur jemand könnte, der dieselbe Geschichte schon hundertmal einem Therapeuten erzählt hat.
Mit 13 sei es ihr bereits sehr schlecht gegangen, sagt die heute 27-Jährige. Als sie mit 17 zusätzlich Panikattacken bekam, habe ihr Hausarzt sie in eine Klinik schicken wollen. Sie weigerte sich, suchte lieber selbst nach einem Therapieplatz. Weil sich die Suche jedoch zog, besuchte sie vorerst die Mutter einer Freundin – eine Therapeutin ohne Kassensitz und mit einem Hang zu Esoterik. Innerhalb von zwei Sitzungen diagnostizierte die ihr, dass sie als Kind zweimal sexuell von ihrem Großvater missbraucht worden sein soll. “Das war erstmal etwas komisch und ich glaube auch nicht besonders professionell”, sagt Lina heute. Nach vier Jahren bei einem Kinder-und Jugendpsychologen wechselte sie zu einem Therapeuten mit Schwerpunkt Traumatherapie. “Der sagte mir ebenfalls, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit frühkindliche Missbrauchserfahrungen gemacht habe”, sagt sie.
Lina sagt, dass sie sich an den Missbrauch nicht erinnern könne. Sie sagt aber auch, dass es in ihrer Kindheit Punkte gab, an denen sie sich verändert hat. “Ich weiß noch, dass ich meiner Mutter irgendwas erzählen wollte, aber nicht wusste, was es war. Ich habe immer gesagt: Mama, ich weiß nicht was ich sagen will, aber mir geht’s nicht gut.” Auch wenn Lina nicht klar benennen kann, was damals passiert ist, zeigen diese Erzählungen, dass sie ihre eigene Kindheit kritisch hinterfragt.
In Linas Leben kam es aber nicht nur einmal zu Gewalt. Ihr Vater habe sie als Kind geschlagen. Später, als sie erwachsen war, schlug ihr jüngerer Bruder sie. Außerdem erzählt Lina von einer Situation mit ihrem Ex-Freund, die sie heute als Vergewaltigung beschreibt.
Mit Anfang 20 lernte Lina ihren heutigen Ex-Mann kennen. Am Anfang sei die Beziehung glücklich gewesen. Nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter sei es jedoch mehrfach zu verbaler und körperlicher Gewalt gekommen. “An einem Tag habe ich die Polizei gerufen”, sagt Lina. Es folgte die Trennung. Dann die Scheidung.
“Ich frage mich schon manchmal, ob es Zufall ist, dass mir diese Dinge mehrfach im Leben passiert sind, oder ob ich sie irgendwie anziehe”, sagt Lina.
Eifersucht könne anfangs als Liebe verstanden werden, würde jedoch oft in Gewalt enden.
Tatsächlich ist ihre Geschichte kein Einzelfall. Laut der Berliner Psychologin Halina Klein-Lebiush handelt es sich dabei um einen Wiederholungszwang, der viele Menschen betrifft, die in ihrer Kindheit von einer ihnen nahestehenden Person missbraucht wurden. Egal ob es sich um sexuellen Missbrauch oder Gewalt handelt, sie würden dazu neigen, sich im Erwachsenenleben unbewusst gewalttätige Partner oder Partnerinnen auszusuchen. Bei Männern käme es aber auch oft vor, dass sie in Folge eigener Gewalterfahrung selbst zum Täter werden. “Wenn jemand vom eigenen Elternteil oder einer nahestehende Person missbraucht oder sehr schlecht behandelt wird, hinterlässt das tiefe Wunden”, sagt sie. Später würde man diese Beziehungsmuster dann wiederholen, in der Hoffnung, die Wunden heilen zu können. “Das geht aber nicht”, sagt Klein-Lebiush. Stattdessen würden neue Wunden hinzukommen. Besonders stark betroffen sind Frauen.
Laut eines BKA-Berichts wurden 2018 in Deutschland 114.000 Frauen Opfer von häuslicher Gewalt, Bedrohungen oder Nötigungen durch ihre Ehemänner, Partner oder Ex-Partner. “Wenn eine Frau nach einer gewalttätigen Ehe wieder an einen schlagenden Partner gerät, fragt man sich: Wieso?”, sagt Klein-Lebiush. Dabei würden diese Frauen sich nicht bewusst einen Partner suchen, der sie schlägt. Stattdessen würden sie sich unterbewusst von dieser Art Mann angezogen fühlen. “Schlagende Partner sind oft sehr eifersüchtig und besitzergreifend”, sagt sie. Eifersucht könne anfangs als Liebe verstanden werden, würde jedoch oft in Gewalt enden.
Plötzlich erscheint es gar nicht mehr so merkwürdig, dass manche Menschen häufiger an gewalttätige Partner oder Partnerinnen geraten als andere. Eltern lieben ihre Kinder, sagt man. Was aber, wenn ein Kind von seinem Elternteil geschlagen oder missbraucht wird? “Als Kind denkt man, dieses Verhalten sei Liebe”, sagt Klein-Lebiush. Das Gefühl, bestraft oder schlecht behandelt zu werden, gehört so folglich zur ersten Erfahrung der Liebe dazu. “Deswegen wird Eifersucht später falsch interpretiert”, erklärt Klein-Lebiush. Die Symbiose von Gewalt und Liebe trägt sich also weiter bis ins Erwachsenenleben.
Ein Zusammenhang, den auch Lina sieht. Sie sagt, dass sie heute eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater habe. Er habe sich dafür entschuldigt, dass er sie als Kind geschlagen hat. Er habe aber auch gesagt, dass er sich nicht mehr gut daran erinnern könne. Lina erzählt von Momenten, die zeigen, dass die Vergangenheit noch nicht ganz aufgearbeitet ist, dass manches noch unausgesprochen ist. “Einmal war ich sehr wütend auf meinen Vater”, erzählt Lina. Nach der Scheidung von ihrem Ex-Mann habe er ihr geraten, ihre Antennen beim nächsten Mann schärfer zu stellen. “Dann habe ich gesagt: Papa, das ist deine Schuld.”
Gibt es denn eine Möglichkeit, aus diesem Kreislauf auszubrechen?
Halina Klein-Lebiush sagt: Ja. Man könne den Kreislauf durchbrechen. Wichtig dafür sei eine Therapie. Man müsse “das Unbewusste bewusst machen”, um es zu überwinden. “Viele Menschen wollen sich aber nicht mit dem Schmerz ihrer Kindheit auseinandersetzen”, sagt sie. Dabei sei das die einzige Lösung, den Drang nach Wiederholung zu stoppen.
Doch auch eine Therapie scheint kein Garant für Frieden zu sein. Wie schwer es ist, Verhaltensmuster zu ändern, zeigt Linas Fall. Sie ist seit zehn Jahren in Therapie. Wenn sie über ihre Vergangenheit spricht, wirkt sie sehr reflektiert. Das Unterbewusste, von dem Klein-Lebiush spricht, scheint ihr bewusst zu sein.
“Ich werde in Zukunft versuchen, besser auf meinen ‘Instinkt’ zu hören – wie mein Vater so schön gesagt hat”, sagt Lina. Sie könne sich schließlich nicht vor jeder Beziehung ein polizeiliches Führungszeugnis zeigen lassen.
Auf die Frage, ob Lina glaubt, den Kreislauf, in dem sie sich jahrelang befand, durchbrochen zu haben, sagt sie: “In großen Teilen schon, glaube ich.” Für sie stünde es an erster Stelle, glücklich zu sein. Und das sei sie. “Ich möchte mein Erlebtes nicht an meine Tochter weitergeben. Und ich selbst möchte es auch nicht mehr erleben.”
Bist du sexuell belästigt worden oder hast sexualisierte Gewalt erlebt? In Deutschland bekommst du Hilfe unter der Telefonnummer 0800 22 55 530. Mehr Infos findest du auf dem Hilfeportal der Bundesregierung. Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen, betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten. In jedem Fall gilt: Wende dich auch an die Polizei in deiner Nähe und zeige den Täter oder die Täterin an.
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