Die Ungerechtigkeit lag für uns immer auf der Hand, schon vor 2011. Ich bin im Süden Londons aufgewachsen. Dort war uns deutlich bewusst, was andere hatten, uns aber fehlte. Das waren materielle Dinge, aber auch Möglichkeiten.
In einer typischen Wohnsiedlung wohnten viele Gangmitglieder, Drogenabhängige, Menschen mit psychischen Problemen. Überall Mangel und Entbehrung. Ich habe etwa 16 Jahre meines Lebens in Banden verbracht. Als ich acht war, fingen sie an, mich zum Drogendealer zu erziehen. Ich wurde angeschossen, mit Flaschen beworfen, man stach mir ins Gesicht.
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Nur ein kleines Stück die Straße runter standen diese riesigen Häuser. Die Menschen darin führten völlig andere Leben. Und die Schere zwischen uns wurde immer größer. Wir spürten es immer deutlicher. Es war nicht Neid, wir fragten uns einfach: “Warum kann ich das nicht haben? Warum bin ich weniger wert?”
Auf den Straßen brodelten Wut und Verbitterung, und als Mark Duggan am 4. August 2011 von Polizisten getötet wurde, war das wie ein Funke, der übersprang. Ganz England geriet in Brand.
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Ich war damals 22. Einer meiner Jungs rief mich an und erklärte mir, was im Norden Londons passiert war: Polizisten hatten Duggan, der Schwarz war, bei einer geplanten Verhaftung erschossen. Sie hatten ihn verdächtigt, für einen Drogenring zu arbeiten. Für viele Leute, darunter auch mich, war es Zeit für Vergeltung. Man behandelte uns schon so lange wie Dreck, sodass wir uns minderwertig fühlten, wie Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse. Jetzt konnten wir die Straßen zurückerobern, nach der Macht greifen, die man uns vorenthielt. Es ging nicht nur um Mark Duggan, sondern um viel mehr. Aus einem friedlichen Protest gegen Polizeigewalt und Willkür wurden Ausschreitungen.
Die Aktionen waren geplant, auch wenn man ihnen das nicht ansah. Ja, wir nutzten mitunter SMS und verschiedene Messenger-Programme. Aber wer sich auf der Straße auskennt, weiß, dass wir hauptsächlich miteinander kommunizieren, indem wir uns vor Ort treffen. Zum Beispiel in Wettbüros, bei McDonald’s, beim Hähnchenimbiss, vor dem Bahnhof. Es waren nicht nur Gangs; die allein hätten das alles niemals durchziehen können.
Anfangs war da keine Polizei, sondern nur Menschen, die vorhatten, Sachen zu zerstören und zu plündern. Diese Leute wollten gegen die Gesellschaft und ihre Gesetze rebellieren, aber sie wollten niemandem wehtun. Es ging ihnen um die Regeln, die die Ungleichheit aufrechterhalten.Wir mussten zeigen, dass wir dazu fähig waren, die Kontrolle an uns zu reißen.
Am 6. August fuhr ich mit dem Zug in eine Gegend, von der ich noch nicht wusste, dass es dort knallen würde. Dort sah ich Leute, die plünderten und davontrugen, was sie nur konnten. Aber das war für mich nichts Besonderes. Ich raubte ja schon Läden aus, seit ich zwei Jahre alt war. Doch da war auch Feuer, und Polizisten, die auf mich zukamen, Angst in ihren Augen.
Ein Pflasterstein flog durch das Fenster eines vorbeifahrenden Streifenwagens. Der Stein traf den Fahrer, die beiden Beamten im Rücksitz sprangen raus. Während der verletzte Fahrer davonfuhr, lachte die Menge ihn aus. Die zwei anderen Polizisten zückten ihre Schlagstöcke – ihnen war erst nicht klar, dass die Jungs von der Straße auch Schlagstöcke hatten. Einige Typen rannten dem Streifenwagen hinterher. Als sie ihn einholten, sprang der Fahrer raus, die Jungs steckten den Wagen in Brand.
Das Gefühl war überwältigend. Ausnahmsweise hielten alle Menschen von der Straße zusammen. Die verschiedenen Gangs unterstützten sich gegenseitig, statt aufeinander zu schießen. Das war irgendwie surreal. Aber wir hatten dabei auch gemischte Gefühle. Du blicktest dich um und sahst, wie alles immer kaputter wurde. Das war es nicht, was wir wollten, aber wir mussten ja irgendwie rebellieren.
Soweit ich sehen konnte, planten die Leute nicht, wo sie plündern würden. Andererseits wollte niemand, dass es kleine Geschäfte aus der Nachbarschaft traf. Wir gingen einfach in die Läden, die sich anboten.
Es blieb nicht beim Sachschaden. Im Stadtteil Croydon schossen Plünderer einen jungen Mann an, er starb am Tag darauf. Drei Mitglieder einer Bürgerwehr wurden überfahren, die Polizei ging von Vorsatz aus und ermittelte wegen Mordes. Ein älterer Mann im Vorort Ealing starb an schweren Kopfverletzungen – Jugendliche hatten ein Feuer gelegt, und als der Mann versuchte, es zu löschen, griffen sie ihn an.
Nach ein paar Tagen nahmen die Unruhen ein Ende, mehr als 2.000 Beteiligte wurden letztendlich festgenommen. Im Adrenalinrausch hatten die Menschen jede Menge geklaut, aber dann holte die Wirklichkeit sie ein. Wir wussten, dass so was Konsequenzen hat. Die Freundin meines Kumpels bekam zwei Jahre – dabei war sie vorher in ihrem Leben noch nicht einmal festgenommen worden. Sie hatte irgendwas Unwichtiges gestohlen, eine Hose oder so. Ein Typ, den ich kenne, bekam fünf Jahre, einfach nur, weil er anwesend war.
Ich selbst wurde etwa eine Woche später verhaftet. Ich war drei Monate auf Kaution frei, dann bekam auch ich zwei Jahre Haft. Das war aber für mich weder neu noch überraschend. Eine Sache war diesmal allerdings anders gewesen: Wir hatten an jenem Tag ein Stück Freiheit in Händen gehalten – das kommt bei uns nicht so oft vor. Es war derart besonders, dass viele von uns fanden, dass es die Zeit im Gefängnis wert sei.
Es wird wieder passieren, da bin ich absolut sicher. Die Zahl der Gefängnisinsassen steigt, die Ungleichheit und Benachteiligung verschlimmern sich weiter. Menschen werden auf der Straße getötet. Die Dinge wenden sich nicht zum Besseren. Leute werden weiterhin zu Kriminellen, weil sie kaum eine andere Wahl haben. Aber man schiebt uns weiter die Schuld an allem in die Schuhe, statt den Fehler in den Strukturen des Systems zu sehen.
Heute verklären die Leute, was 2011 los war. Sie reden lächelnd über diese Zeit, irgendwie hoffnungsvoll. Menschen mussten hinter Gitter, aber diese Gegend, in der wir leben, fühlt sich ohnehin schon an wie ein Gefängnis. Was damals passiert ist, hat uns die Hoffnung gegeben, dass wir Veränderungen erreichen können, wenn wir alle an einem Strang ziehen.
Ich habe inzwischen gelernt, mich mitzuteilen, aber viele haben das nicht. In Zukunft brauchen die Menschen echte Mitbestimmung statt Unterdrückung und Opferrollen. Die Straßen haben ihre eigenen Systeme, eigene Anführer und Regeln. Nur werden die von den Mächtigen nicht anerkannt. Wir haben uns eine eigene Welt gebaut, weil wir das mussten, aber außerhalb dieser Welt dürfen wir nicht aufsteigen. Und wenn du nur mitspielst, weil man dich dazu zwingt, dann wartest du insgeheim immer auf eine Chance, aus dem Spiel auszubrechen.
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