Menschen

John hat in seinem LKW Geflüchtete über den Ärmelkanal geschmuggelt – drei Mal

©Markus Seibel - Projekt-EuropasHerbst-EuropesFall - Calais 2015-2017-11

John erinnert sich an den intensiven Geruch der Menschen. Im Flüchtlingslager von Calais gibt es keinen Strom, also heizen, kochen und waschen die Menschen mit Brennholz. Diesen rauchigen Geruch werden sie nicht los, sagt John. Und er bleibt noch lange an seinem LKW hängen, nachdem er darin Menschen aus dem Lager nach England geschmuggelt hat.

John sagt, er sei ein Weichei, was eigentlich alles angeht. Er liebt seinen Job als Fahrer, sein Zuhause, seine Freundin. Trotzdem entscheidet er eines Tages, alles zu riskieren, um völlig fremden Menschen zu helfen. Warum?

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Wenn herauskommt, was John getan hat, erwartet ihn ein Richter. Auf Beihilfe zur illegalen Einreise stehen nach britischem Recht bis zu 14 Jahre Gefängnis.  Selbst wenn kein Vorsatz festgestellt wird, müsste John mit bis zu 4.000 Pfund Strafe pro Migrant rechnen, etwa 4.400 Euro. LKW-Fahrer bekommen von Schleppern Tausende Pfund geboten, um das Risiko trotzdem einzugehen. John Doe hat kein Geld bekommen, sagt er.


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Viele würden ihn trotzdem für das verfluchen, was er getan hat. Wir schreiben deshalb nicht seinen richtigen Namen, sondern “John Doe”. Wir schreiben nicht, wie er aussieht, wie alt er ist oder wie seine Stimme klingt. Sie hat einen starken Dialekt, aber welchen, das schreiben wir nicht.

Von all dem erzählen wollte John Doe eigentlich nicht, er ist ein leiser Held. Nach langem Nachdenken trifft er VICE doch, auf einer LKW-Fahrt durch die deutsche Provinz. Das ging nicht anders, man hat in Johns Job nicht oft Pausen und oft weiß er am Abend zuvor noch nicht, wohin er am nächsten Morgen fahren wird. Am Lenkrad erzählt er seine Geschichte. Nicht alles konnten wir verifizieren. Aber vieles von dem, was John Doe beschreibt, deckt sich mit dem, was andere LKW-Fahrer erzählen.

John Doe

John Doe kommt aus einem westeuropäischen Land. Er war ein armes, aber findiges Kind oder wie er selbst sagt: ein kleiner Schmarotzer. Wenn es beim Bäcker kurz vor Ladenschluss noch Brötchen gab, ging er hin und behauptete, sein Taschengeld vergessen zu haben. “Zu einem Weißen, normal gekleideten Menschen sagt fast keiner Nein.”

Geflüchtete warten am Rand der Autobahn auf eine Transportmöglichkeit von Frankreich nach Großbritannien
Menschen klettern auf der Flucht über einen Zaun
Für seine Fotoserie “Europe’s Fall” folgt Markus Seibel den Spuren von Geflüchteten in ganz Europa

Nach der Schule arbeitet John in der Landwirtschaft: melken, füttern, Futterernte säen, Gülle fahren. Das macht ihm Spaß. Er reist und wechselt oft den Job. Er will keine einsame und keine öde Arbeit. LKW zu fahren macht ihn glücklich. “Tonnenschwere Paletten von Hand beladen, das ist schon hart, körperlich.” Aber die Strecken und Ladungen ändern sich jede Woche. Mal Bauschutt, Zement und Sand, mal teure Möbel oder Elektrogeräte.

In das Land, aus dem er kommt, will er nicht zurück. “Es ist schon noch ein bisschen Heimat, irgendwie”, sagt er, “aber es geht den Menschen dort schlechter. Es ist asozial, dreckig, unsicher, ich mag es nicht.” Und er muss nicht zurück, denn er ist EU-Bürger.

Alle paar Wochen soll John auch nach Großbritannien fahren, über Calais in Nordfrankreich auf die Fähre nach Dover. 10.000 LKW überqueren jeden Tag so den Ärmelkanal. Die Strecke gilt unter Brummifahrern als lästig und gefährlich, denn es gibt Berichte von Geflüchteten, die an Raststätten die Verkleidung der Ladeflächen aufritzen und sich auf den Lastern verstecken. Es sind die, die nicht so viel Glück hatten wie John.

Auf den Autohöfen beim gemeinsamen Grillen oder beim Bier im Truckstop hört John, wie die anderen Fahrer über die Ausländer schimpfen: Wegen denen werden die Parkplätze gesperrt, wegen denen gibt es nicht genug Kindergeld in Deutschland und wegen denen müssen wir Strafe bezahlen, wenn die Behörden sie im Anhänger erwischen. Manche Fahrer haben einen Holzknüppel im Fahrerhaus, sagt John.

John Doe denkt daran, wie er die französische A216 bei Calais entlangfährt,

den Rauch aufsteigen sieht und an die Berichte im Radio über Gewalt, Drogen und Infektionskrankheiten im Lager. Eine Zeit lang nannte man das Lager in Nordfrankreich “Dschungel”, weil dort Tausende Menschen unter furchtbaren Bedingungen hausten. Als John vorbeifährt, sind nur noch einige hundert Menschen dort, ohne Strom und Kanalisation.

“Ich habe mich in deren Rolle hineinversetzt”, sagt er. “Ich bin selbst Ausländer, zwar aus einem westlichen Land, aber ich bin aus wirtschaftlichen Gründen hier: Geld und Lebensstil. Und außerdem: Bei den Deutschen, Engländern und Franzosen ist auch Pack dabei, das nicht arbeiten will.”

John Doe mag die Gemeinschaft unter Fernfahrern, im LKW telefoniert er stundenlang mit Kollegen, quatscht über deren Eheprobleme und den Alltag, mahnt einen anderen Fahrer, ob die zwei Krakauer mit Senf denn sein müssen, wegen der Magenprobleme.

Nur wenn es um die Geflüchteten geht, schweigt John Doe.

Der Palettenkasten

John sagt: “Hätte ich es geplant, hätte ich nachts wach gelegen, ewig nachgedacht und es nicht gemacht.”

Aif einem Parkplatz stehen LKW, die Zäune die ihn abgrenzen sollen sind aus den Angeln gehoben
Nahe einem Berg auf einem Parkplatz liegen Hinterlassenschaffen von Geflüchteten
Notdürftige Übernachtungsplätze und eingerissene Barrikaden zeugen von Geflüchteten, die wohl unterwegs nach Großbritannien waren

Im Frühjahr 2018 steht John auf einem Parkplatz vor Calais. Bevor er sich auf den Weg zur Fähre macht, dreht er eine Runde um den LKW. Unter dem Anhänger hängt ein Kasten zur Aufbewahrung von Paletten, 3 Meter lang, 2,50 Breit, Platz für fünf Menschen.

Die beiden Riegel kann man nur von außen schließen. Sein Laster ist dreckig, wie immer nach einer langen Autobahnfahrt. Nur an den verschlossenen Riegeln ist der Dreck weggerubbelt, jemand hatte sie geöffnet und wieder geschlossen. Einer muss dafür dageblieben sein, habe er gedacht, sagt John Doe. Dann sei er einfach in seinen LKW gestiegen: “Irgendwie hat sich das richtig angefühlt.”

Johns Herz klopft, als er in den Hafen einfährt. Er weiß, dass es vier Kontrollen gibt. Bei der Einfahrt werden normal beladene Laster mit einem Hund untersucht, also fährt John auf die dritte Spur für Gefahrgüter: giftig, brennbar, explosiv. Der Grenzer winkt ihn durch. Dann wird aufgeteilt: Sechs Spuren, ganz rechts eine französische Zollstation. John fährt nach ganz links, denn er weiß, keiner der Zollbeamten hat Lust, einen Laster über alle Spuren rüber zu winken. Hundert LKW müssten dann rückwärts ausweichen.

John fährt über die LKW-Waage, zeigt Ausweis und Ticket. Jemand inspiziert mit einer Kamera die Fahrerkabine. Er muss das Bett herunterklappen, in dem ein ungelesener Roman klemmt, die Kühlkiste öffnen, in der frisches Gemüse liegt, weil seine Freundin findet, er sollte mehr auf seine Ernährung achten, erzählt John. Er versucht, nicht an seine Freundin zu denken, mit der er gemeinsam Kredite abbezahlt. Er weiß nicht, was sie davon halten würde, dass er ihre Existenz für eine Handvoll unbekannte Leben aufs Spiel setzt. Er darf weiterfahren.

In der Warteschlange zur Fähre dreht ein Suchhund seine Runden. John Doe holt einen Campingtisch, Stuhl und Kocher aus der Kabine, stellt sie mitten in den Gang. Trotz zugeschnürtem Magen setzt er sich eine 5-Minuten-Terrine auf, dabei gibt es auf der Fähre ein kostenloses Buffet. Der Beamte mit dem Hund macht einen Bogen um den versperrten Gang.

Bei der vierten Kontrolle, vor dem englischen Zollhäuschen, wird John Doe gefragt:

“Bist du alleine unterwegs?”

“Ja”, sagt John Doe.

In England fährt er nicht auf die Raststätte, wo Kameras und andere LKW warten, sondern auf einen Bahnhofsparkplatz. Er öffnet die Verschlüsse vom Palettenkasten, geht in einen kleinen Kiosk und kauft seinen liebsten Schokoriegel. Als er zurückkommt, steht die Luke am Palettenkasten offen. Er ist leer. Aber es riecht nach verbranntem Holz.

John hofft, er habe gute Menschen erwischt, sagt er. Eine Familie vielleicht: Cousins, Kumpels, Väter, Söhne. Aber er weiß das natürlich nicht und das lässt ihn nicht los. “Da ist dieser Beigeschmack, dass ich irgendwelche Leute mitgenommen habe, die kriminell sind oder so. Das wäre echt schade.” John entscheidet, seiner Freundin lieber nichts zu sagen. “Sie ist total tolerant, aber wenn man Gesetz bricht, ist das trotzdem nicht gut.”

Immer wieder wird berichtet, wie gefährlich es für Migranten ist, wenn sie stundenlang in Kühlanhängern, Kofferräumen und dicht gedrängten Boxen verbringen. Häufig werden sie schwer dehydriert oder bewusstlos gefunden. 2019 machte ein Fall Schlagzeilen, bei dem die Leichen von 39 vietnamesischen Einwanderern in einem Kühlcontainer gefunden wurden.

Beim zweiten Mal kauft John Doe Wasserflaschen, nimmt von zu Hause einige Kissen mit und legt sie in den Palettenkasten. In einer Glas-Tupperdose hat seine Freundin ihm Essen vorgekocht, John Doe legt sie dazu und schließt den Kasten. Als er an der Grenze ist, schaut John nicht mehr, ob der Dreck auf den Verschlüssen fehlt, er will seine Angst austricksen.

John Doe sagt, er kennt das Gefühl, wenn einen alle abschätzig ansehen. Als LKW-Fahrer werde man auch manchmal behandelt, wie Dreck. “Da kannst du sagen ‘die Frau liegt im Krankenhaus, ich muss abladen’ und trotzdem wirst du übers Wochenende stehen gelassen.”

John stellt sich vor, was aus den Männern geworden ist, die er beim ersten Mal mitgenommen hat: “Papiere ausgestellt, schnell Arbeit gefunden. Vielleicht waren die schon verheiratet und durften ihre Familie nachholen. Das würde mich echt freuen.”

Wieder geht alles gut. Als er die Fähre passiert hat, fährt John nach London, auf einen Parkplatz, wo nicht so dicht geparkt wird und er sicher sein kann, dass keiner etwas bemerkt. Er holt die Sportschuhe aus dem Fach und geht joggen. Eine Dreiviertelstunde rennt er, dann wird er müde.

Personen balancieren im Dunkeln über Bretter, es sind Migranten in der Nähe von Calais
Menschen Klettern im Dunkeln in den Anhänger eines LKW
Oft bewegen sich die Geflüchteten im Schutz der Nacht weiter, die Fahrer wissen meist nichts von den blinden Passagieren

Als er zurückkommt ist die Klappe noch immer zu: Verdammt, er hatte vergessen, sie zu entriegeln. John holt seine Duschtasche und ein Handtuch, öffnet die Verschlüsse und geht mit klopfendem Herzen duschen. Als er zurückkommt, sind Flaschen, Kissen und die Tupperdose weg. Nur der Geruch ist noch da.

Der Streit

“Ich lasse mich eigentlich nicht aus der Ruhe bringen”, sagt John. Aber beim LKW-Fahren hat er nun einmal viel Zeit zum Nachdenken und immer wieder kommen die Gedanken zurück. In den Wochen danach schießt manchmal ganz plötzlich ein Gefühl in seinen Kopf. Wie bei diesen kleinen Dingen, die man als Kind angestellt hat, fühle sich das an, sagt John. Er bereut.

Beim dritten Mal hat John fast Routine. Er unterdrückt seine Angst. Dritte Spur, linke Spur, den Campingstuhl in den Gang, Ja, er reise alleine. Als er auf der anderen Seite ist, vergisst er nicht, die Klappe zu öffnen. Als er in dieser Woche nach Hause kommt, besucht eine Freundin ihn und seine Partnerin. Sie essen und trinken gut, dann sagt die Freundin der beiden etwas über Geflüchtete. “Einen saublöden Spruch. Ich hab mich darüber aufgeregt, dann ist die Stimmung ganz schön gekippt.”

Im Überschwang des Streits erzählt John von dem Palettenkasten, von den Lagern in Calais, den Vätern, Söhnen und Cousins, die er über die Grenze geschmuggelt hat, und den Familien, die jetzt vielleicht in London leben, zur Schule gehen, mit Freunden essen und trinken, weil er seine Existenz für sie riskiert hat.

“Die hat komplett ihren Respekt vor mir verloren”, sagt John. Seine Partnerin sagt an diesem Abend nicht viel. Er weiß, dass sie sich oft Gedanken und Sorgen macht, ihn vermisst, wenn er so viel unterwegs ist. Manchmal streiten sie deswegen. Sie war sauer, als die Glas-Tupperdose verschwunden war. Aber diesmal streiten sie nicht. Sie sei stolz auf ihn, sagt sie am nächsten Tag. Als John wieder losfährt, ist sie einverstanden mit dem, was er tut, und selbst aufgeregt.

Das Ende

Als John wieder nach nach Calais fahren soll, hat der britische Zoll gerade strengere Kontrollen eingeführt. Jeder LKW wird jetzt durchsucht, immer häufiger wird mit CO2-Messgeräten unter den LKW-Planen gemessen, ob jemand atmet, und mit einem Detektor am Rahmen der Karosserie, ob irgendwo ein Herz schlägt.

John Doe weiß von alldem nichts, als er wieder zu seiner üblichen Tour aufbricht.

Er fährt wieder auf den Parkplatz vor Calais, aber dort versperren Betonpoller den Halt. John muss im Hafen übernachten und beobachtet dort am nächste Tag, zu seinem Glück, die neuen Kontrollen. Er versteht, dass es jetzt vorbei ist. “Ich bin froh, dass es so gelaufen ist.” Fünf passen in den Palettenkasten, vielleicht hat er also fünfzehn Menschen ein besseres Leben gegeben.

Eine Gruppe Geflüchtete läuft zwischen zwei Zäunen in Calais entlang, es ist Nacht
Markeus Seibel begleitet seit fünf Jahren Migranten an den europäischen Grenzen, in Calasi fotografierte er zwischen 2015 und 2018

John Doe hält sich nicht für einen Helden. “Ich stehe dazu, aber ich rede nicht darüber.” Auch weil er selbst noch nicht verstanden habe, warum er das Wohl von Fremden über sein eigenes gestellt hat. Er verstehe ja die anderen, die LKW-Fahrer, die über die Ausländer schimpfen, die Freundin mit dem rassistischen Spruch, die ihn nie wieder besuchen kam. Niemals würde er von seinen Kollegen erwarten, dasselbe zu tun. Aber hätte er nochmals die Wahl, würde er alles genauso machen. “Es ist einfach Unrecht. In anderen Ländern geht es um Leben und Tod, um Existenz. Und die dürfen hier nicht rein.”

Es dauert ein Jahr, bis John 2019 wieder auf einem der Halteplätze vor Calais parkt, einem Grünstreifen in der Pampa. Er sieht eine Gruppe Männer. John will endlich ins Gespräch kommen. Vielleicht fragen, wo sie herkommen, ob sie Brüder sind, wo ihre Frauen und Kinder warten, wie es ihnen geht, wie sie vorankommen.

Aber die Männer sind misstrauisch und trauen sich nicht, näher zu kommen. Sie wissen nicht, ob John Doe einer von denen mit den Knüppeln in der Seitentür ist. Seit der Verschärfung der Kontrollen ist es für Geflüchtete schwieriger geworden, den Kanal auf einem LKW zu überqueren – und damit gefährlicher und rauer. Fahrer berichten von Geflüchteten, die brennende Barrikaden auf die Straßen bauen, um sie zum Anhalten zu zwingen.

John gibt auf. Er stellt seinen Wasserkocher aufs Gas, setzt einen Kaffee auf und stellt vier Tassen daneben. Dann steigt er in seinen LKW und fährt los.

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