Politik

Lockdown: Macht die Biergärten auf – und die Büros zu

Ein rotes Schild zeigt an, dass man wegen der Corona-Pandemie in einem bestimmten Bereich nicht verweilen darf

Manche Menschen, das ist nahezu ein Naturgesetz, finden Gefallen an Schikane. Man kann sich darauf verlassen, dass diese Menschen den Weg zu ihrem Glück suchen, dass sie zum Beispiel den Weg in Uniformen finden, auch in die der deutschen Polizei. In einem Rechtsstaat steht zwischen dem Einzelnen und dem staatlichen Gewaltmonopol, zwischen dir und dem Schlagstock, die Verfassung – glücklicherweise. Trotzdem ist eine Skepsis gegenüber der Polizei antiautoritäre Pflicht. 

Und so falsch es wäre zu generalisieren, so fahrlässig ist es, die Gefahr durch jene zu übersehen, die Ausnahmesituationen genießen. Lockdowns sind solche Ausnahmesituationen. Je mehr Uniformierte durch die Straßen patrouillieren, je leerer die Straßen sind, desto größer ist statistisch die Gefahr, Opfer von polizeilicher Willkür zu werden. Klingt übertrieben?

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Jedes Jahr gibt es in Deutschland rund 2.000 Anzeigen gegen Beamte wegen “Körperverletzung im Amt”. 98 Prozent der Anzeigen werden fallen gelassen, nur 2 Prozent kommen überhaupt vor Gericht. Schon deshalb ist ein Lockdown scheiße. Er ist notwendig für eine gewisse Zeit, aber er bleibt eine autoritäre Zumutung. Jedes Polizeiauto zu viel ist eines zu viel. 

Polizei-Schikane im Lockdown: Von der Jagd durch den Park bis zur Demütigung auf Twitter

Momentan ist das Spektrum der Lockdown-Schikane groß: Es geht von den eher harmlosen Über-Erfüllern der Münchner Polizei, die bei Sonnenschein mit Maßband durch den Englischen Garten patrouillieren, über die Hauptstadt-Sheriffs, die ein paar Jungs vom Basketballcourt scheuchen, sie fotografieren und danach in einem offiziellen Tweet mit Wachtmeister-Humor verhöhnen.

Und es geht bis zu jener lebensgefährlichen Verfolgungsjagd durch einen Hamburger Park, bei dem ein Streifenwagen übers Gras driftete, um einen Siebzehnjährigen zu stellen. Der Jugendliche habe sich laut Polizei besonders hervorgetan, “indem er andere umarmte und abklatschte”. Es ist, wenn man das Video ansieht, nahezu ein Wunder, dass der Streifenwagen niemanden überrollte oder anfuhr. Man habe, so die Polizei in einer Mitteilung, zur Gefahrenabwehr eine Musikbox sichergestellt. Na, dann Glückwunsch. Gegen den Polizisten am Steuer liegt inzwischen eine Strafanzeige vor. Man kann sich die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ausrechnen.


Auch bei VICE: Wir haben dumme Gesetze vor Polizisten gebrochen


Im ersten Lockdown, im März 2020, als uns das rätselhafte Virus überfiel, als uns die diffuse Gefahr aufschreckte, hatte ich autoritäre Momente, über die ich mich nun wundere, die mir nun unangenehm sind. Ich erlag einem Phänomen, das Sascha Lobo richtigerweise “Vernunftpanik” nannte, der “Furor, dass andere Menschen weniger vernünftig handeln als man selbst”.

Ich sah vom Balkonfenster aus all die Menschen, die nicht zu Hause blieben, und fragte mich, wo verdammt nochmal die Kontrollen waren. Ein Jahr später ist das Virus besser erforscht, die Gefahr nicht mehr so diffus, es gibt einen Impfstoff, Schnelltests, Hygienekonzepte, Corona-Apps, aber politisch hantiert man vor allem noch mit dem groben Werkzeug, dem Vorschlaghammer. Mit Lockdowns. 

Der deutsche Staat, der sich im Sommer als Corona-Champ rühmte, fordert gerade viel und bietet wenig. Er fordert Kontaktreduktion, Reiseverzicht und Zuhausebleiben. Er bietet ein Impfchaos, kaum Schnelltests, eine dürftige App und Novemberhilfen, auf die manche noch im Februar warten. Der Staat spricht Verweilverbote aus, er verscheucht alte Menschen, die nur deshalb gefährdet sind, weil eben jener Staat es nicht auf die Reihe bekommen hat, sie schneller zu impfen. In den viel gescholtenen USA musste Präsident Biden gerade seine Ansage korrigieren, man habe bis Ende Juli Impfstoff für alle. Der neue Plan sei nun, dass es bis Ende Mai Impfstoff für alle gibt.

Wenn Polizeikritiker plötzlich zu Fans von #ZeroCovid werden

Und in Deutschland dauert der sogenannte Wellenbrecher-Shutdown, der im Oktober beschlossen und die Infektionen kurz und schmerzvoll senken sollte, schon fast ein halbes Jahr. In den sozialen Medien sehe ich, wie Freunde die Forderungen von #ZeroCovid teilen. Das gruselt mich. Teilweise sind es die gleichen, die sonst sehr sensibel sind bei Polizeigewalt und staatlicher Willkür. Wie passt das zusammen? 

Wie soll die absolute Vermeidung menschlicher Kontakte, das Drücken der Infektionen auf Null denn möglich sein ohne massenhaften Einsatz von Polizei? Wie fängt man das Virus restlos ein, ohne Grenzen zu schließen? Sind es nur Landesgrenzen oder auch die von Landkreisen und Städten? Wie kommst du zu deinen Eltern, wenn Züge stillstehen, wenn Autobahnen gesperrt sind? Wer sieht am Wochenende in den Wohnungen nach, aus denen laute Musik dringt? Und bitte antwortet nicht: “In Neuseeland hat es auch geklappt.” Sonst antworte ich mit einem Link zu Google Maps oder dem Lexikon-Eintrag zum geografischen Phänomen “Insel”.

Widersprüchlich wird das Container-Wort “Solidarität” eingesetzt, in das jeder packt, was er oder sie will. Der immer härtere Lockdown, die kollektive Übung in Durchhalten und Solidarität. Aber ist es tatsächlich solidarisch, die Schmerzen der Anderen auszuhalten? Kann ein Lehrer beispielsweise einen noch härteren Lockdown fordern, der finanziell wenig an seiner Lage ändert, aber sehr viel an der Lage seiner Nachbarin, die ein kleines Restaurant betreibt? Kann er schon. Aber ist das solidarisch – oder vielleicht nur egozentriert?

Widersprüchlich ist auch die Logik des Lockdowns. Wenn man tatsächlich auf die Wissenschaft hören würde, dann müsste man Büros schließen, mobiles Arbeiten anordnen und Biergärten öffnen. Viel wahrscheinlicher infiziert man sich zwischen Kopierraum und Kantine als bei einem Freiluftbier mit Abstand.

Lasche Regeln für Büros: Dieser Lockdown ist unlogisch

Stattdessen gibt es die lasche Aufforderung, Homeoffice anzubieten. Und Restaurants, die eigentlich sichere Plätze im Freien anbieten könnten, gehen reihenweise bankrott. Vor der Urlaubsfahrt ins menschenleere Umland wird abgeraten, Geschäftsreisen hingegen sind OK. Der Gesundheitsminister warnt morgens vor privaten Feiern und fährt abends zu einem Dinner mit zwölf Leuten. Büros sind voll, Museen sind leer. Aus fehlender Logik wird fehlende Akzeptanz. Wie gesagt: Es ist leicht, die Opferbereitschaft der Anderen einzufordern. Das gilt für Jens Spahn genauso wie für den Random Guy im Internet, der vor jeder Lockdown-Verlängerung twittert: “Also ich könnte ja noch deutlich länger durchhalten!!!” Glückwunsch, Random Internet Guy. Als wäre der Lockdown ein Wettbewerb.

Ein liberaler Grundsatz heißt: Freiheit ist unteilbar. Es kann kulturelle, gesellschaftliche und individuelle Freiheit nur gepaart mit wirtschaftlicher Freiheit geben, die von einem Ordnungsrahmen begrenzt ist. 

Was umgekehrt aber auch bedeutet: Die Einschränkung von Freiheit muss verhältnismäßig sein, man darf sie nicht ungleich verteilen zwischen den Sphären von Arbeit und Freizeit, von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Mitarbeiterin, die ins Callcenter gezwungen wird, obwohl sie auch zu Hause telefonieren könnte, sollte sich nach Feierabend auf eine Bank setzen können, ohne von der Polizei verscheucht zu werden. Der VW-Arbeiter, der am Band steht, sollte am Wochenende mit seinen Kindern in ein Museum können. Der aktuelle Lockdown ist ein Zombie der Widersprüche. Und diese Widersprüche – damit auch Wut und Verzweiflung – nehmen zu. 

Die Ungleichheit der Freiheitsbeschränkung, die fehlende Logik des Lockdowns, wird sich nicht verteidigen lassen. Eine Polizei, die mit Zollstöcken menschliche Nähe misst oder mit dem Streifenwagen auf der Jagd nach einem Jugendlichen durch Parks brettert, macht sich lächerlich. Sie hat sich schon längst lächerlich gemacht. Fairerweise muss man anfügen: Sie macht sich gerade meistens im Rahmen der politischen Vorgaben lächerlich. (Nachricht an manche Kolleginnen und Kollegen: Das Level an Polizeikritik kann jetzt gehalten werden, Polizeikritik ist eine mediale Pflicht, verklärende Hymnen wie nach G20 in Hamburg oder gar journalistische Hilfspolizisten braucht wirklich keiner.)

Lockdown und Impfchaos: Der Staat fordert viel, aber bietet wenig

Als Angela Merkel vor einigen Monaten bei einer Pressekonferenz die Reproduktionszahl R erklärte, schäumte das Internet (OK, Teile des Internets) über vor Liebesbekundungen. Wie wohltuend es sei, dass sie nicht nur auf die Wissenschaft hört, sondern sie auch verstanden hat! Wohl wahr. Das stimmt. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit.

Auf die Wissenschaft hören ist wichtig. Aber es reicht nicht. Das Gehörte muss auch in kohärente, vermittelbare und empathische Politik übersetzt werden, in einen langfristigen Plan. Darin ist Merkel, das zeigt diese Krise, leider außerordentlich schlecht. Zu oft verweist sie auf die Wissenschaft, als habe sie nicht die Macht und Pflicht der Übersetzung. Es ist, nebenbei bemerkt, auch nicht fair gegenüber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wenn man sie zu oft auf die Bühne stellt und sich selbst im Hintergrund hält. In einem Land mit funktionierender Arbeitsteilung würden Virologen nicht zu Stars – und auch seltener zu Opfern von Morddrohungen und verbaler Gewalt.

Jetzt wird der Lockdown wieder verlängert, man weiß schon gar nicht mehr zum wievielten Mal. Die Imperative bleiben dieselben: zu Hause bleiben, Kontakte meiden, zu Hause bleiben, Kontakte meiden. Ein Staat aber, der keine ordentliche App anbietet, keinen digitalen Impfpass organisiert wie in Israel, der beim Impfen hinterherhumpelt und keinen Plan hat für den Einsatz von Schnelltest, ist wenig überzeugend mit seinen Durchhalteparolen. Die Bereitschaft zur Unfreiheit sinkt mit der Unfähigkeit des Staats, neue sichere Freiheit zu organisieren. 

Herbert Wehner, ein Sozialdemokrat, sagte mal in einem ganz anderen Zusammenhang: “Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen!” Das gilt auch für die Normalität, für unsere Freiheiten in dieser Pandemie. Es muss jetzt die Zeit des Reinkommens sein. Der Staat als autoritärer Türsteher, der Menschen ohne Erklärung abweist, wird scheitern. 

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