Dieser Fotograf dokumentiert die Wut und das Chaos auf Venezuelas Straßen

Demonstranten errichten in Venezuelas Hauptstadt Caracas eine Blockade

Fünfunddreißig Menschen, in weniger als einer Woche. So viele, schätzen unabhängige NGOS, sind in Venezuela gewaltsam umgekommen, seit die Welle massiver Proteste letzten Dienstag losgebrochen ist.

Die erneuten Unruhen ausgelöst hat die Entscheidung des Parlamentspräsidenten Juan Guaidó, den Präsidenten Nicolás Maduro – den er einen “Diktator” nennt – für illegitim zu erklären und sich selbst zum Übergangs-Präsidenten zu proklamieren. Guaidó bekommt dafür viel Zuspruch – von den Venezolanern, die seit Jahren unter der katastrophalen wirtschaftlichen Lage im Land leiden, aber auch von der Regierung Donald Trumps, die ihn praktisch sofort anerkannt hat. Das Problem: Maduro sieht überhaupt nicht ein, warum er gehen soll – und deshalb entlädt sich der Konflikt seit Tagen in brutalen Straßenschlachten zwischen den Teilen der Bevölkerung, die in loswerden will, und den Sicherheitskräften, die ihm loyal sind.

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Ronald Pizzoferrato ist 30 Jahre alt, in Caracas geboren und aufgewachsen. Vor fünf Jahren zog er als Gastarbeiter in die Schweiz. “Erst als ich in der Schweiz ankam, habe ich verstanden, wie extrem und chaotisch meine Heimat ist”, sagt er – und dass er dann beschloss, dieses Chaos als Fotograf zu dokumentieren. Letztes Jahr hat er damit einen Preise von Globetrotter World Photo gewonnen. Jetzt ist er wieder in Caracas und macht Fotos von dem Konflikt, der sein Land zerreißt.

VICE: Hey Ronald, wie sieht es in Caracas im Moment aus?
Ronald Pizzoferrato: Die Situation ist gerade ziemlich verwirrend. Alle versuchen herauszufinden, was passiert, aber die venezolanischen Medien sagen uns gar nichts. Man muss auf Twitter oder Instagram gehen, um herauszufinden, was los ist. Die Menschen draußen in der Welt wissen wahrscheinlich mehr darüber, was bei uns passiert, als wir. Es gibt sehr viel Desinformation. Und das Unwissen ist gefährlich, weil man jederzeit in einen gefährlichen Protest geraten kann.

Was passiert denn gerade auf den Straßen?
Nachdem Guaidó sich selbst zum Präsidenten ernannt hat, gab es zwei Tage lang große Unruhen. Aktuell ist es ruhig, aber die ganze Stadt ist in Alarmbereitschaft. Die Läden machen immer nur ein paar Stunden auf, um fünf oder sechs ist alles verrammelt, die Straßen sind leer. Für Mittwoch hat Guiadó wieder zu Protesten aufgerufen – und dann wird es wahrscheinlich knallen.

Demonstranten mit Molotow-Cocktail in Caracas

Sind die Proteste bisher gewalttätig gewesen?
Ja, sehr. Bisher hat allein in Caracas um die neun Tote gegeben, im ganzen Land zwischen 16 und 18 [Anm. d. Red.: Die NGO “Observatorio de Conflictos” aus Caracas schätzt die Zahl mittlerweile auf 35.]. Das ist jetzt anders als bei den Protesten 2017. Wenn damals Menschen gestorben sind, dann waren das meistens “Unfälle”: wenn sie zum Beispiel eine Tränengaskartusche oder ein Gummigeschoss gegen den Hals oder den Kopf bekommen haben. Jetzt sterben viel mehr Leute, weil die Polizisten und Nationalgardisten mit scharfer Munition auf sie schießen.

[Die letzte Aussage lässt sich schwer verifizieren, es kursieren aber Videos in den sozialen Medien, die Sicherheitskräfte beim Schusswaffengebrauch zeigen sollen.]

Wie haben die Demonstranten bisher darauf reagiert?
Alle waren erschrocken, wie brutal die Sicherheitskräfte durchgreifen. Die haben gleich vom ersten Tag an drastische Maßnahmen ergriffen. Nachdem, was ich höre, hat das die Menschen aber nur noch wütender gemacht. Sie bereiten sich auf den nächsten Protest vor. Ich persönlich glaube, dass es noch viel gewalttätiger werden wird.

Hast du etwas darüber gehört, ob die Demonstranten sich jetzt auch ernsthaft bewaffnen wollen?
Ich weiß es nicht, aber es ist möglich. Im Moment ist alles möglich.

Ist es für dich auch gefährlich?
Ja, vor allem, weil es so unübersichtlich ist. In einem Moment bist du in einer ruhigen Straße, im nächsten bist du in einer ultra-gefährlichen Situation. Bei den großen Protesten ist es sicherer, aber ich bin einmal in eine kleine Demo geraten, wo nur 20 Menschen protestiert haben. Auf die hat die Polizei sofort das Feuer eröffnet, bestimmt 25 Schuss. Es war schrecklich, wir sind alle einfach nur noch gerannt.

Außerdem sind die Medien hier auch ein Ziel: Die Polizisten schikanieren uns, aber auch die Demonstranten verdächtigen Leute mit Kameras oft, für die Regierung zu arbeiten. Man muss richtig auf der Hut sein.

Demonstranten vermummen sich auf den Straßen Caracas

Warum unterstützen die Menschen Guaidó?
Sie unterstützen eigentlich nicht ihn, sondern nur die Tatsache, dass er nicht Maduro ist. Weil er ihre einzige Hoffnung ist. Alles, was gegen Maduro ist, ist gut. Am Anfang war das anders: Ganz am Anfang ging es nicht um Politik, es ging nur um die Grundversorgung. Eigentlich geht es immer noch darum: Die Menschen wollen Wasser und Strom.

Wie ist denn die Versorgungssituation in Caracas?
Die ganze letzte Woche hatten wir höchstens eine Stunde Wasser am Tag. Nahrungsmittel sind sehr teuer: Eine Flasche Cola kostet zum Beispiel mittlerweile 3 Dollar auf dem Schwarzmarkt – das ist mittlerweile fast ein Monatsgehalt zum Mindestlohn.

[Das offizielle Mindestgehalt beträgt 18.000 Venezolanische Bolívar, aktuell sind das ungefähr 5 US-Dollar. Die venezolanische Währung leidet seit Jahren unter extremer Inflation, sodass immer mehr Handel im Land in US-Dollar stattfindet].

Für mich ist es einfacher, weil ich mein Geld eigentlich in der Schweiz verdiene, aber ich muss gerade auch viel Familie und Freunde unterstützen. Für die ist es ein täglicher Kampf.

Ist aktuell irgendeine Lösung in Sicht?
Im Moment ist es ziemlich durcheinander, es finden die ganze Zeit irgendwelche Treffen zwischen Politikern statt, aber es ist schwer, die Wahrheit zu erfahren. Das Militär steht immer noch hinter Maduro. Und wer die Waffen hat, der hat die Macht. Es hängt jetzt auch sehr davon ab, wie das im Ausland gesehen wird. Was die Amerikaner, die Russen und die EU dazu sagen.

Einige prominente Linke behaupten, dass die USA die Situation nur ausnutzen wollen, um einen Regimewechsel zu orchestrieren. Was sagst du dazu?
Das ist ein Problem, weil viele Maduro-Kritiker auch nicht wollen, dass die USA herkommen. Ich will ja auch nicht, dass die USA sich hier einmischen. Wir wollen nicht zum nächsten Irak, Libyen oder Panama werden. Wir hoffen immer noch, dass wir unsere Probleme selbst lösen können. Gleichzeitig sind die Probleme sehr real: Wir haben einen Kollaps der Grundversorgung. Aber wir fürchten eben auch, dass die Amerikaner das ausnutzen. Wir tanzen also gerade einen Tanz mit dem Teufel.

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