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Manuellsen: Gegen Rassismus hilft manchmal nur die Faust

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Manuellsen wurde 1979 in Berlin-Kreuzberg als Sohn einer ghanaischen Aktivistin geboren, er gehört seit über einem Jahrzehnt zur festen Besetzung der Telenovela Deutschrap, fällt immer wieder mit öffentlichkeitswirksamen Streit mit anderen Rappern wie Bushido oder seinen Verbindungen zu den Hells Angels auf. Gleichzeitig macht Manuellsen auch mit klugen Statements gegen Rassismus von sich reden. Dieser Kampf ist nur einer von vielen Kämpfen, die er bis heute ausfechten muss – auch und vor allem mit sich selbst.

Dies ist ein gekürzter Auszug aus seiner am 12. Januar erscheinenden Biografie “König im Schatten”, die von seinem Leben als Schwarzes Adoptivkind im Ruhrpott der 80er Jahre erzählt, seiner Identitätssuche zwischen zwielichtigen Rocker-Mileu und Islam und natürlich seinem Werdegang als Schwarzer Musiker in einer Szene, die nicht immer so offen ist, wie man gerne annehmen möchte. Die Biografie “König im Schatten” ist in Zusammenarbeit mit der Journalistin Nina Damsch entstanden.

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Ich weiß nicht, ob ihr an Liebe auf den ersten Blick glaubt. Ich persönlich glaube nicht daran. Zumindest nicht im romantischen Sinne. Aber wenn man meiner Adoptivmutter diese Frage stellt, dann würde sie mit einem breiten, potter “Jo” antworten. 

Als sie mich das erste Mal erblickte, war es um sie geschehen. Das erzählt sie zumindest so. Damals war ich 14 Tage alt und meine biologische Mutter gerade aus Berlin Kreuzberg nach Mülheim an der Ruhr ins Asylheim gezogen. Wenn ich also im Folgenden von meiner Mutter erzähle, meine ich meine Adoptivmutter. 

Pott, 1979: Eine Region im Umbruch und doch noch verharrend in einem Märchen, das längst auserzählt ist, einem Traum, der längst ausgeträumt ist. Und ich mittendrin. Wie eine Figur aus einem ganz anderen Märchen, die plötzlich aus versehen zwischen die Seiten des Buchs gerutscht ist.

Auch wenn ich direkt das Herz meiner Adoptivmutter eroberte, ging es für mich in den ersten Monaten meines Lebens auf dieser Welt erstmal hin und her. Als meine biologische Mutter einige Wochen nach meiner Geburt ins Krankenhaus musste, übernahm mich eine Kindergärtnerin. Das war das erste Mal, dass ich von meiner biologischen Mutter getrennt wurde.

Angeblich war sie eine politische Aktivistin, aber so richtig viel weiß ich nicht über ihre Ansichten und Interessen und auch meine Adoptivmutter konnte mir nie so richtig viel darüber erzählen. Ich weiß nur, dass meine Mutter immer wieder plötzlich verschwand und mich zurückließ, nur um dann einige Wochen oder Monate später wieder aufzutauchen, als wär nichts gewesen. Dieser Zyklus wiederholte sich immer wieder, bis ich schließlich bei meiner Adoptivmutter, der Frau, die ich bis heute meine Mama nenne, bleiben durfte. Diesmal für immer. Nur noch das vertraute Paar Hände von einer Person, die von ihrem Beruf als Floristin zwar etwas rau geworden waren, aber dennoch die liebevollsten Händen waren, die ich bis heute kenne. Ich war etwa ein halbes Jahr alt, als sie mich endlich im Kinderwagen stolz durch Mülheim fahren konnte und wusste, dass ich von nun an ihr Sohn war. For real.  

Das erste Mal

Es war ein heißer Sommertag, damals Anfang der 80-er Jahre in Mülheim. Meine Mutter hatte mir ein kurzes buntes T-Shirt und eine rote Hose angezogen, meine Füße zappelten über meinem Kopf in der Luft wie ein Mobile, das mich im Kinderwagen beschäftigt hielt. Zwischen meine kleine Zehen hindurch strahlte mir die Sonne freundlich ins Gesicht. Wenn ich die Augen zusammenkneifen musste, gluckste ich vor Lachen.

Als der Bus vor uns an der Bushaltestelle hält, verschwindet die Sonne hinter dem pfeifenden, ratternden und schnaufenden Berg aus Metall und mein kleines, selbstinszeniertes Lichtspiel endet abrupt. Fast genauso ächzend und pfeifend wie das Ungetüm auf Reifen beginnt meine Mutter, den Kinderwagen mit mir die Stufe hoch in den Bus zu hieven. “Moment einmal, nee sie haben ja wohl ‘nen Vogel!”, unterbricht der Busfahrer die Anstrengungen meiner Mutter. Sie lächelt und tritt zurück. Sicher will er ihr seine Hilfe anbieten. Eine Frau allein mit Baby und schwerem Zeug – ein Hund, wer da nicht hilft! 

Der Fahrer beugt sich nach vorne, doch statt sich von seinem Sitzpolster aufzurichten, drückt er den Knopf, der die Tür automatisch mit einem Rums vor der Nase meiner Mutter zuschnappen lässt. Die weiß gar nicht wie ihr geschieht und blickt fragend in Richtung Fahrerkabine. Sie ist so verwirrt, dass ihr nicht einmal Worte über die Lippen gehen. Der Busfahrer antwortet ebenfalls wortlos, dafür aber mit einer Geste: Er wedelt mit der Hand vor seinem rosa Gesicht hin- und her, als wenn er den Scheibenwischer seines Busses nachahmen wollte. “Mit nem N****kind in meinen Bus, soweit kommt’s noch!”, hört sie ihn durch das heruntergelassene Fenster schnaufen, ehe er weiter rollt und den Blick auf die Sonne wieder freigibt. Eine Wolke schiebt sich davor. Da stehen wir nun; meine Mutter, ich und der Moment, in dem ihr klar wird, dass ihr Sohn in einen Krieg gezogen wird, noch bevor er sein erstes Wort sprechen kann. 

Ein verficktes, schwarzes Einhorn

Das Ruhrgebiet ist mit 5,1 Millionen Einwohnern einer der größten Ballungsräume Deutschlands. Wenn du heute durch Duisburg, Essen oder Mönchengladbach läufst, kriegst du das Gefühl, dass 70 Prozent davon Kanaken sind. Der Pott ist ein Schmelztiegel wie man so schön sagt. Heißt: Leute kommen, um die Scheißarbeit zu erledigen, die die Leute vor Ort nicht alleine gebacken kriegen oder nicht mehr machen wollen und werden dann dafür beschimpft, wenn sie sich nicht unsichtbar machen oder direkt wieder verschwinden, sobald sie nicht mehr verwertbar sind.

Der Pott ist also ein Schmelztigel. War er schon immer. Regionen mit Bergbau und Stahlindustrie sind auf Zuwanderung angewiesen. Kein Wunder also, dass es im Pott immer Ausländer, Einwanderer und Flüchtlinge gab. Erst waren es Polen und Ostpreußen, die zum Malochen an die Ruhr kamen, ab den 60-er Jahren dann Türken. Die sahen dann immerhin schon mal ein bisschen anders aus als die ganzen Almans hier. Aber Schwarze? Die gab es in den 80-er Jahren im Pott nicht. Ich war der einzige meiner Art. Ein verficktes, schwarzes Einhorn in einer Herde voller Haflinger. Und das ließen sie mich und meine Familie auch spüren. Jeden Tag. Im Großen wie die Busfahrer, die uns nicht mitfahren ließen und im Kleinen wie die Menschentrauben, die sich um den Kinderwagen bildeten, wenn meine Mutter an einem Schaufenster anhielt oder die Paare, die sich auf der Straße zuraunten, wie meine Mutter und mein Vater DAS denn zustande gebracht hätten. Ruhrpott in den 80-er Jahren war deutsch, deutsch, deutsch. Konservativ as fuck. Und ich? Ich war allein. Bis auf meine Familie. Aber die hatte ich immerhin. Auch wenn ich ein bisschen anders war als sie. 

Ich verstand das zwar noch nicht, aber dass es so war, konnte ich spüren. An den Blicken, die, egal wohin ich ging, an mir klebten, an den Kindern im Schwimmbad, die mich immerzu anfassen wollten und dem Getuschel, das mich stets zu verfolgen schien. Es ging mir einfach nicht in den Kopf, warum ich immerzu angeguckt wurde. Überall. Immer. Ich verstand nicht, warum im Kindergarten eine Mutter ihr Kind von mir wegzerrte, als sie sah, dass ich mit ihm spielte. Warum sie nicht wollte, dass ihr Sohn mit “so einem Kind wie mir” spielt. Ich verstand nicht, warum mein Opa, Gott hab ihn selig, so anders zu mir war. Warum da zwischen uns immer eine Glasscheibe zu schweben schien, an der ich meine Hand platt drückte, unfähig zu ihm vorzudringen. Ich verstand vieles nicht als Kind. Aber ich verstehe es jetzt. Und ich habe meine Konsequenzen daraus gezogen.

Das nennt man Demokratie

Etwa zu der Zeit, als ich schließlich adoptiert wurde, kam ich auch in die Grundschule. Ich war das einzige Schwarze Kind an der Schule. Ich sollte es mein Leben lang bleiben, auch später, als ich auf die Gesamtschule kam. Ich weiß nicht, wie die Lehrer heute im Umgang mit migrantischen Kids sind. Und vor allem im Umgang mit dem Verhalten der anderen Kids gegenüber den Kinder, die ein bisschen anders erscheinen. Heute sieht es ja zum Glück auch anders aus. Wie gesagt: Fast der ganze Pott besteht heute gefühlt aus Kanaks und es gibt auch viel mehr Schwarze Menschen heute. Bei mir war das anders. Und meine Lehrer… Yani, was soll ich sagen: Die haben mein Leben gefickt. 

“Manuel, ich muss etwas mit dir besprechen”, hör ich meine Mama aus der Küche rufen. “Was ist denn?”, rufe ich zurück. Keine Antwort. “Mama?” Stille. Ach verdammt nochmal. Mit einem Ruck stehe ich von meinem Bett auf und schlurfe zur Küche. Ich merke direkt, dass etwas nicht stimmt. Ich kann nicht genau sagen, was es ist. Da liegt nicht eindeutig Wut in ihrem Gesicht. Auch nicht eindeutig Sorge oder Kummer. Aber irgendwie zuckt von allem etwas um ihre Mundwinkel, Augen und auf ihrer Stirn, die sonst wie eine Art Leinwand ist, auf der die Falten ein Schattentheater veranstalten, das mir stets verrät, was gerade Phase ist. Erscheint da die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen, dann weiß ich, dass ich Trouble hab. Schwappen mir die runden, wellenförmigen Fältchen entgegen, weiß ich, dass ich nett zu ihr sein muss. Aber jetzt bleibt die Leinwand irgendwie blank. “Was ist?”, frage ich sie zum dritten Mal. 

“Du weißt doch, dass nächste Woche euer Ausflug ins Schullandheim ansteht”, fängt sie mit fester Stimme an zu erzählen. 

“Jaaaa?”, frage ich ungeduldig. 

“Nun, es ist so: Du kannst nicht mitfahren.”

“Was? Wieso nicht?”, sprudelt es aus mir heraus. Es war das erste Mal, dass ich ins Schullandheim fahren sollte. Wir waren zwar schon öfter mal im Urlaub gewesen, aber mit der Klasse und meinen Freunden, das ist einfach was anderes. Ich hatte mich darauf gefreut.

“Es ist so”, fährt meine Mutter nüchtern fort. “Die Eltern einiger Kinder wollen nicht, dass du mitfährst.” Stille. 

“Warum?”

“Weil du Schwarz bist.” Stille. 

Schwer zu sagen, was gerade in mir vorgeht. Irgendwie ist es wie ein Sturm, aber auch eine eigenartige Ruhe. In meinem Herz befindet sich gerade das Auge des Tornados, in dem es völlig windstill ist, auch wenn darum herum das Chaos losbricht. 

“Woher weißt du das?”, will ich wissen. Irgendwie kann ich die ganze Chose nicht so richtig glauben. 

“Die haben eine Unterschriftensammlung gemacht, Manuel”, erklärt mir meine Mutter ganz sachlich. “Die Eltern, die nicht wollen, dass du mitfährst, haben einen Zettel unterschrieben. Und da das so viele waren, dass es die Mehrheit der Klasse ausmacht, ist das jetzt wohl so.” 

“Warum?”, frage ich nochmal nach. 

“Naja, das nennt man Demokratie”, erklärt meine Mutter nach kurzem Überlegen. “Die Lehrer meinen, daran muss man sich dann leider halten. Tut ihnen leid.” 

Das wars. Keine Klassenkonferenz, keine Krisensitzung im Lehrerzimmer, keine Diskussion. Und so blieb ich zuhause, während meine Klasse ins Schullandheim fuhr.

Heute kann ich sagen: Wallah, Gott sei Dank hat meine Mutter mir das so knallhart erklärt. Gott sei dank. Denn deswegen hab ich das bis heute nicht vergessen. Diese Erfahrung, dieser Moment, in dem mir meine Mutter weh tun musste für andere, das ist ein Mahnmal in mir drin. Ein Mahnmal, das mich immer daran erinnert, meine Augen sehr wachsam offen zu halten. Nach Ungerechtigkeiten und rassistischen Tendenzen. 

Erwachsen mit zehn

Es ist eine Charakterfrage, was solche Erfahrungen mit einem machen. Ich war ein aufgewecktes Kind, wie gesagt extrem wissbegierig und freundlich. Aber die Jahre des Angestarrt-, Beleidigt- und Ausgegrenztwerdens begannen sich zu diesem Zeitpunkt langsam in meiner Persönlichkeit zu manifestieren, wie der Kinderpsychologe wohl sagen würde, zu dem mich meine Mutter später schicken sollte. Ich nahm das alles wahr. Aber mein Umgang mit Rassismus war bis zu diesem Zeitpunkt noch ein anderer. Ich lebte nach dem Wort meiner Mutter. “Der Klügere gibt nach”, “Lass dich nicht ärgern”, “Hör einfach nicht hin” – yani, alle diese schlauen Sprüche, auf die ich heute einen Fick gebe und die ich meinen Kindern niemals weitergeben werde. Aber sie war meine heilige Mutter und ich ein Kind, das einfach nur seinen Frieden wollte. Das einfach nur sein wollte wie die anderen. Ich war damals schon größer und stärker als die meisten in meinem Alter und vermutlich wollte ich ihnen nicht bestätigen, dass man vor mir Angst zu haben braucht. Aber das änderte sich. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Zeitpunkt, als ich entschied, mir nichts mehr von dieser Gesellschaft bieten zu lassen. Ja vielleicht bereits entschied, gar kein Teil dieser Gesellschaft mehr sein zu wollen. Der Moment, in dem ich erwachsen wurde. Ich war damals zehn Jahre alt. 

Ein gleißender Schmerz fährt durch meine Hand. Ein kurzer Schrei. Ich reiße meinen Arm mit einem Ruck aus dem Gras, auf dem ich mich abgestützt hatte. Ich betrachte meinen Handrücken. Ein Stich. Vermutlich eine Biene. Wie im Zeitraffer beobachte ich wie der Bienenstich meinen Handrücken von einer glatten, glänzenden Oberfläche in eine kleine Hügellandschaft verwandelt. Meine Haut schwillt an, die hervortretenden Venen bilden kleine Canyons und in der Mitte wölbt sich der Stich zur höchsten Erhebung der neu entstandenen Landschaft empor wie ein kleiner Vulkan. Auf dem Gipfel kann man noch den Stachel der Biene erkennen. Als ob sie ihre persönliche kleine Flagge in mein Fleisch gerammt hätte, um ihr Hoheitsgebiet zu markieren. Diese kleine Sharmuta! 

Bienenstiche gehörten zu unseren Urlauben auf dem Bauernhof dazu. Viele Jahre verbrachten wir die Sommerferien auf dem Bauernhof, wie viele deutsche Familien. Mal rauskommen, dies das. Frische Luft, die Natur, Kikeriki statt Auspuffbrummen, weiße Wölkchen am bayrisch-blauen Himmel statt Schornsteinqualm über dem Pott.

Das letzte N-Wort, das ich mir gefallen ließ

Auf dem Bauernhof gab es immer auch andere Familien mit Kindern, die dort Urlaub machten und mit denen meine Schwester und ich immer spielten, die Hühner über den Hof scheuchten und Expeditionen über die Rapsfelder unternahmen. In dem besagten Jahr verbrachte dort auch eine schnöselige Karate-Familie ihren Urlaub zeitgleich mit uns. Der Vater war Karate-Lehrer und seine beiden Söhne machten natürlich auch Karate. Karate sein Vater die ganze Familie.

Ich hatte auch schon als Kind Jiu Jitsu Unterricht bekommen. Das war die Idee meines Vaters. Meinte, Kampfsport würde ein Kind selbstbewusst machen. Keine Ahnung, in welchem Pädagogik-Heftchen er das gelesen hatte. Aber an Selbstbewusstsein mangelte es diesen Kindern ganz sicher nicht, so viel war klar. Die waren nicht nur selbstbewusst, die waren geradezu arrogant und dazu noch ignorant und machtgeil. So die Art Kinder, die auch in der Freizeit ihren bekloppten weißen Anzug tragen und in der Pause an schwächeren Schülern demonstrieren wollen, was sie in ihrer letzten Stunde gelernt haben.

Wie man sich denken kann, waren das nicht die Art Kinder, mit denen ich mich auf dem Schulhof angefreundet hätte. Aber das Schicksal hatte uns nun mal an diesem Ort zusammengeführt, also spielten wir miteinander. Es dauerte nicht lang, bis die beiden anfingen, mit der N-Bombe um sich zu werfen. N-Wort hier, N-Wort da. Erst im Spaß, dann immer ernster, aggressiver. Ihre Worte versetzten mir Stich nach Stich nach Stich. 

Auch wenn die Wut in mir anschwoll, habe ich mir erst nichts daraus gemacht. Ich war größer als die beiden und fühlte mich überlegen. Und der Stärkere gibt ja eben nach, das waren die Worte meiner Mutter und die Worte meiner Mutter waren mein Gesetz. Ich war nicht auf Konfrontation aus, im Gegenteil. Bis zu diesem Zeitpunkt versuchte ich immer um Konfrontationen einen weiten Bogen zu machen. Noch.

Meine Schwester konnte das nicht. Sie war einige Jahre älter als ich und spielte deswegen nicht mit uns mit, aber sie war in der Nähe und hörte, was die Kids zu mir sagten. Irgendwann wurde es ihr zu bunt und sie kam rüber. “Ey hört mal, das ist mein kleiner Bruder, hört auf mit der Scheiße”, sagte sie in dem Tonfall, den eben eine 16-Jährige anstimmt, die mit zwei viele Jahre jüngeren Kindern spricht. Bestimmt, aber trotzdem bewusst, dass das Kinder sind. Die beiden Kids stimmten jedoch einen Tonfall an, der nicht angemessen war für zwei Rotzlöffel, die mit einem viel älteren Mädchen reden. Und das letzte N-Wort, das sie droppten vor mir und meiner Schwester, war das letzte, das ich mir ungestraft gefallen ließ. Es reichte. Die wollten es wissen. Die wollten es einfach wissen, diese kleinen Bastard-Kinder. 

Ich verprügelte die Jungs nach Strich und Faden. Ich schlug mit meinen Fäusten auf sie ein, trat, zog, kratzte, was ich von ihnen zu fassen bekommen konnte, nahm einen Stein und zerschmetterte ihre dünnen, bösen Lippen damit. Ich zerschmetterte gleichzeitig meine beschissene Defensivhaltung. Ich hielt die verfluchte linke Wange nicht mehr weiter hin, um Schlimmeres zu verhindern. Um zu beweisen, dass ich besser bin. In diesem Moment beschloss ich: Ich werde sowas nie wieder auf mir sitzen lassen. Ich war zehn Jahre alt, als ich lernte, für mich selbst einzustehen. Ich war zehn Jahre alt, als ich erwachsen werden musste. 

Eine rassistische Mikroaggression zu viel

Rassismus ist nicht nur, das N-Wort genannt zu werden; im Kindergarten, später in der Schule, im Urlaub auf dem Bauernhof und später von Polizisten und anderen, nicht-schwarzen Rappern. Rassismus ist auch die Wohnung nicht zu bekommen, weil der Name komisch klingt. Von den Nachbarn – wenn man die Wohnung dann doch bekommen hat – am ersten Tag ausgefragt zu werden, wo denn die Tochter stecke, die im Mietvertrag eingetragen ist. Im Anschluss gefragt werden, ob man denn mal in die Wohnung kommen und nachsehen dürfe. Rassismus sind die überraschten Blicke, wenn man in klarem Deutsch oder gar mit Pott-Slang antwortet, obwohl man auf Englisch angesprochen wird. Rassismus ist Ignoranz. Und er läuft nicht immer bewusst ab. Es sind diese ganzen, kleinen Bienenstiche, die in der Masse einen Vulkan entstehen lassen. Nicht auf dem Handrücken, sondern im Herzen, in der Seele. Und der irgendwann ausbricht. Im Fachjargon spricht man von “Mikroaggressionen”. Sie mögen nicht gravierend, nicht schlimm wirken. Aber in ihrer Gesamtheit werden sie irgendwann unerträglich. 

Bei mir resultierte diese eine Mikroaggression der Karate-Kids in Kombination mit den Millionen Mikroaggressionen, die mir in den Jahren seit der Busfahrer meiner Mutter die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, in einer Makroaggression meinerseits.  

Die vielleicht wichtigste Lektion: Gewalt wirkt

Jedenfalls kam dann der Vater der Jungs runter auf den Hof gerannt, nachdem seine verbeulten Söhne bei ihm angewackelt kamen und schrie los. “Was ist mit meinen Jungs passiert? Ich werde euch verklagen”, dies das tralala. Man kann es sich vorstellen, Riesenpalaver. Meine Eltern waren in der Zwischenzeit auch zu uns geeilt, um die Situation zu klären. Der Karate-Vater ging dann dazu über, unsere ganze Familie zu beleidigen, bezeichnete uns als Assis und so weiter. Man konnte sehen, dass er motiviert war, die Situation weiter zu eskalieren. Er konnte ja schließlich fucking Karate. Mein Vater, mein lieber Vater, der die Ruhe in Person ist, stand an diesem Tag das erste Mal, dass ich mich daran erinnere, auf und erklärte dem Kampfsport-Dad: “So OK, pass mal auf, Homes: Karate hin, Karate her. Wenn du noch ein Wort über meine Familie sagst, dann knallt es hier.” Ich war selten so stolz. Wir ließen uns nichts mehr gefallen. Als Familie. Als Einheit.  

Das Ende der Geschichte war, dass wir den Bauernhof verlassen mussten. Ich trüge schließlich die Schuld an dem Streit, weil ich gewalttätig geworden bin. Das war dann denke ich mal wieder Demokratie. Dass die Jungs zuerst gewalttätig waren, nämlich mit ihrer Sprache, dass die Machtstrukturen, in denen wir einander begegneten, schon gewaltvoll waren, war egal. Also packten wir unsere Sachen und damit waren meine Sommerferien im Arsch. Aber wir hatten als Familie zusammengehalten. Ich hatte mich gewehrt, WIR hatten uns gewehrt. Und das war eine Lektion, die viel wichtiger und langanhaltender war als meine ruinierten Sommerferien. Sie dauert bis heute an. 

Ich werde jetzt das Schlechte und Asoziale aussprechen, das ich an diesem Tag gelernt habe und das sich die “Normalen” in der Gesellschaft nicht trauen, zu sagen und ich bitte euch, genau darüber nachzudenken, egal wie verstörend es sein mag: Gewalt wirkt. Sie ist nicht die erste Lösung. Auch nicht die zweite und vielleicht auch nicht die dritte. Aber die vierte bestimmt. 

Das klingt erstmal brutal, asozial, stimmt. Gebe ich euch Recht. Primitiv auch. Aber glaubt ihr, dass die Kids mich noch einmal das N-Wort genannt haben? Rassisten fühlen sich viel zu sicher in diesem Land. Was es bewirken kann, wenn Leute ungestraft und öffentlich rassistische Dinge sagen können, sehen wir an unserem aktuellen politischen Klima. 

Also ja, Gewalt ist furchtbar. Aber sie wirkt. Leider. Und wenn du noch nicht an dem Punkt angelangt bist, an dem du dir denkst: “Entweder ich oder die anderen heute”, dann hast du noch lange nicht die Erfahrungen mit Rassismus gemacht, die ich gemacht habe. Diese zwei kleinen Karate-Bengel wollten mir an diesem Tag auf dem Bauernhof meine Menschlichkeit nehmen. Und wallah, ich habe sie mir mit meinen Fäusten zurückholt. 

“König im Schatten” ist bei Drömer Knaur erschienen und seit dem 12.Januar im Handel erhältlich

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