Ich habe 24 Stunden in einer Essener Trinkhalle verbracht

24-Stunden Kiosk

Musas 24-Stunden-Kiosk liegt in einem Mehrfamilienhaus in Essen-Frohnhausen, einem typischen Sechzigerjahre-Bau. Vom Kiosk aus sieht man fünf Bäcker, einen Dönerladen und die Tristesse deutscher Einkaufsstraßen: dm, Deichmann, Woolworth und einen Ein-Euro-Shop. Obwohl ich nur vier Kilometer entfernt aufgewachsen bin, war ich noch nie hier. An der Haltestelle gegenüber zieht eine Frau mit Kinderwagen fest an ihrer Zigarette. Vor meinen Füßen liegt eine neongrüne Softair-Kugel zwischen zwei Gehwegplatten. Ich denke sofort an die kleinen blauen Flecken an meinen Armen und Beinen, die mir diese Dinger als Kind verpasst haben. Ein Ort, an dem Kinder 2019 noch ungestört mit Waffen spielen dürfen, ist genau der richtige, um die nächsten 24 Stunden zu verbringe, denke ich.

Musa
Seit 2017 führt Musa den 24-Stunden Kiosk an der Frohnhauser Straße.

Das Ruhrgebiet ist bekannt für seine Trinkhallen-Kultur. Wenn mir früher jemand eine Mark in die Hand gesteckt hat, gab ich sie an der Bude für eine gemischte Tüte aus. Oft standen dort Leute nach Feierabend zusammen, unterhielten sich und tranken Bier.

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Ich glaube nicht, dass sie sich je dazu verabredet haben. Die Bude wirkte wie eine Anlaufstelle, an der man immer zufällig jemanden für ein Pläuschchen oder eine Zigarette fand. Vor Musas Kiosk aber stehen weder Bänke noch Stehtische. Dafür fehlt dem 47-Jährigen die Konzession; wie allen Kiosken in Essen. Das war schon immer so, nur hat das früher niemanden interessiert.

Ich wohne seit zehn Jahren nicht mehr in Essen. Seitdem hat sich viel verändert. Die Bude, an der ich früher meine Bömskes gekauft habe, hat dichtgemacht. Würden Bekannte meiner Eltern mich mit Bier an einer Bude sehen, wären sie definitiv besorgt. Meine Freunde betrinken sich lieber in der Kneipe als am Kiosk. Nicht nur der Steinkohle-Bergbau scheint Geschichte, sondern auch die Trinkhallen-Kultur.

In den nächsten 24 Stunden begleite ich Musa und seine Kollegen Zia, Süleyman und Mustafa bei ihren Sechs-Stunden-Schichten. Dabei treffe ich einen ehemaligen Sozialarbeiter, der heute selber auf der Straße lebt, trinke Bier mit einem Trash-TV-Komparsen und lerne viel über meine alte Heimat.

9:18 Uhr – Musa arbeitet seit 6 Uhr

Schlüsselanhänger
Ein Kiosk ist auch nur ein trashiger Tante-Emma-Laden

Eine Frau, die älter aussieht, als sie vermutlich ist, greift zwei V+ Curuba aus dem Kühlschrank, zahlt und verschwindet wortlos. “Bier wird hier rund um die Uhr gekauft”, sagt Musa. Er verkauft 47 Sorten: Am billigsten sind Hansa und Oettinger für 80 Cent. Am beliebtesten: Stauder und Tyskie. Während wir über Bier fachsimpeln, betritt Martina, 65, den Laden. Eine Stammkundin. Sie schnappt sich zielstrebig die TV Direkt. Auf dem Cover: Alexandra Neldel in einem knallroten Kleid.

“Is´ das die Neue?”, fragt sie.

“Musste gucken”, antwortet Musa.

“Die Weiber, die da drauf sind, sehen doch alle gleich aus”, entgegnet sie in schönster Ruhrpott-Manier. “Is´ doch so, oder?”

Ich nicke. In Zeiten von Netflix verkauft Musa Fernsehzeitungen, als seien die die InTouch für Siebzigjährige. “Wenn die Alten sterben, können die aber aus dem Sortiment”, sagt er.

Yaşar
Yaşar, 76, kommt an diesem Tag viermal in den Laden

Musa hat den Kiosk 2017 übernommen. Seitdem hatte der Laden keinen einzigen Tag geschlossen. “Ich weiß nicht mal, ob ich bei der Übergabe einen Schlüssel bekommen habe”, sagt er und zündet sich eine Zigarette an. Wenn er auf´s Klo muss, gebe er beim Dönerladen nebenan Bescheid. Wenn ein Kollege krank ist, arbeite jemand anderes länger. “Die längste Schicht, die hier je einer gemacht hat, ging 36 Stunden”, erzählt sein Kollege Zia, der schon im Laden steht. 99 Prozent der Kundschaft seien Stammkunden. So wie die blonde Frau mit dem polnischen Akzent, die nach dem Zucker im untersten Regal greift. “Du bist viel zu teuer”, sagt sie beim Bezahlen zu Musa. “Aber du kommst trotzdem immer wieder”, sagt er und lacht.

Die Menschen würden sich darauf verlassen, dass der Kiosk geöffnet ist, erzählt er mir. Manche kämen mehrmals täglich, manchmal nur zum Quatschen. Den 76-jährigen Yaşar werde ich heute noch dreimal treffen. Er kauft nur die türkische Zeitung Hürriyet. Andere Kunden hätten einfach keine Lust, für ein Bier in der Schlange beim Supermarkt zu stehen. “Ist manchen die morgendliche Fahne im Kiosk weniger peinlich als im Supermarkt?”, frage ich.

Musa zuckt die Schultern. “Vielleicht”, sagt er.

11:30 Uhr – in einer halben Stunde beginnt Zias Doppelschicht: Er arbeitet Süleyman, den neuen Kollegen ein

Ein weißer Lieferwagen
Ein weißer Lieferwagen hält vor dem Kiosk

Zwei junge Männer springen vor dem Kiosk aus einem weißen Lieferwagen. Sie beginnen, Preisschilder auf die kleinen Tüten im Inneren ihres Kofferraums zu kleben. “Bei den aufgedruckten Preisen verdienen die Kioske nix”, sagt der Ältere von ihnen. Die beiden liefern Sonnenblumen- und Kürbiskerne. “Früher haben nur Südländer die Kerne gekauft”, sagt Musa. Heute seien sie auch bei Deutschen sehr beliebt.

Mimi
Mimi chillt lieber im Park, als am Kiosk, sagt sie

Als Mimi reinkommt, tippe ich trotzdem, dass sie Club Mate kauft. Ich behalte recht. Die 22-jährige Soziologiestudentin wohnt seit einem halben Jahr in Frohnhausen. Dass man in Musas Kiosk nicht draußen sitzen kann, sei ihr egal. “Ich würde hier eh nicht abhängen wollen”, sagt sie. Außerdem gebe es um die Ecke einen Park. Neulich erzählte mir eine Freundin, Frohnhausen sei jetzt hip geworden. Mit ihrer Hornbrille und der Bauchtasche könnte Mimi der lebende Beweis dafür sein. Mimi sagt, dass die Mieten in Frohnhausen teurer seien als früher. Als ich frage, ob es auch schöner geworden sei, verzieht sie ihr Gesicht, schüttelt den Kopf und sagt: “Ja gut, aber ich wohn ja auch nicht hier, weil es so schön ist. Es ist halt billig.” Coole Bars im Umkreis kenne sie auch keine. Ich betrachte meine Hipster-These als widerlegt.

14 Uhr – Zia und Süleyman arbeiten seit zwei Stunden, Musa kümmert sich um den Papierkram

Zia
Zia spricht fließend Deutsch, Englisch, Türkisch und Dari

Im Kiosk läuft klassische Musik. Zia putzt die Regale. Süleyman verkauft. Die einzigen Kunden: Raucher und Schulkinder. Drei Jungs, nur knapp größer als ihre Schulranzen, kaufen eine gemischte Tüte für 50 Cent. In der Tüte liegen fünf Weingummis. Früher hat man für das Geld noch richtig Karies gekriegt. Vor Kurzem verkaufte der Kiosk noch Shishas to go. Bis plötzlich Grundschullehrer in Musas Laden standen und sich beschwerten, dass die Kinder in der Pause neuerdings Shisha rauchen. “Ich habe nie an Kinder verkauft. Die müssen sie von ihren Eltern haben”, schwört Musa. Trotzdem kam er der Bitte nach, die Shishas nicht mehr zu verkaufen. Für die Weed-Grinder auf der Verkaufstheke scheinen sich die Grundschüler bisher nicht zu interessieren.

16:10 Uhr

Marco
Marco möchte eine Ausbildung zum Feuerwehrmann machen, erzählt er

Marco parkt mitten auf der befahrenen Fahrbahn vor dem Kiosk. Der 20-Jährige kommt jeden Tag zum Kippen kaufen vorbei, erzählt er. Einmal hätte er nachts auf dem Nachhauseweg eine Obdachlose – er sagt “Penner-Olle” – gegenüber an der Haltestelle gefunden. “Die war halb-bewusstlos”, sagt er. Er kaufte schnell ein Wasser vom Kiosk, um ihr zu helfen. Da sei sie komplett ausgerastet. “Dann bin ich weitergegangen. Kein Bock, dat die mir noch ´ne Schelle gibt”. Während Marco erzählt, bekomme ich Heimweh. Nicht, weil die Geschichte so schön wäre, sondern wegen seines Ruhrpottslangs. Hätte ich an der UdK in Berlin “Penner-Olle” gesagt, wäre das quasi mein sozialer Suizid gewesen. Im Pott kommt es eher darauf an, was du sagst, anstatt wie du es sagst. Du bist kein Asi, wenn du “Penner-Olle” sagst, sondern wenn du einer Obdachlosen kein Wasser kaufst. Fresst das, ihr Kunststudenten.

17:50 Uhr – Süleymans Schicht ist bald vorbei, für Zia beginnt die zweite Schicht

Uwe
Seit anderthalb Jahren ist Uwe wohnungslos.

Leicht schwankend bestellt Uwe eine Packung rote L&M. Als Süleyman ihm versehentlich statt 1,40 Euro nur 40 Cent zurück gibt, sagt er: “Du musst einen Deutschkurs machen. Und einen Rechenkurs.” “Verzieh dich”, zischt Zia, der gerade die Kühlschranktüren putzt. Uwe hat früher als Betreuer im Markus-Haus gearbeitet, erzählt er; einer Einrichtung für Menschen mit Psychosen und Suchterkrankungen. Vor anderthalb Jahren sei das Haus, in dem er lebte, verkauft worden. Seitdem wohne er bei verschiedenen Freunden und verkaufe vor Rewe die Obdachlosenzeitung. Die Trinkhallen-Kultur im Ruhrgebiet habe sich über die Jahre verändert.

“Daran sind die Ausländer schuld”, sagt er.

“Wieso das denn?”, frage ich.

“Die Leute fühlen sich einfach nicht mehr wohl”, antwortet Uwe. Das Schlimmste am Ruhrgebiet sei mittlerweile die durch Migranten entstandene Subkultur. “Man hätte die Einwanderer besser verteilen müssen. Stattdessen hat man sie in ein Ballungszentrum gesteckt”, sagt er. Trotzdem wünsche er sich die Zeit nicht zurück, in der Menschen ihr Bier noch an der Trinkhalle getrunken haben. “Die Leute am Kiosk machen immer nur Palaver. Wer will dat denn?”, fragt er.

23:20 Uhr

Gabi
“Jetzt musst du aber schnell machen”, sagt Gabi zu unserem Fotografen, als sie in den Spagat springt

Gabi trägt pinkfarbene Hausschuhe; auf ihrer rosafarbenen Mütze steht “Blondie”. Obwohl es draußen eiskalt ist, hat sie nur eine dünne Fließjacke über ihren Pullover gezogen. Die 57-Jährige schnappt sich zwei Oettinger, strahlt Zia an und sagt: “Ich häng’ mir morgen die türkische Flagge als Gardine auf.” Ich schaue sie fragend an. “Ich liebe Türken”, sagt sie, “und mein Ex-Mann hat Türken immer gehasst.” Um ihn zu ärgern, werde sie deswegen ein Foto der Gardine auf Facebook posten. Als ich Gabi frage, ob sie oft herkommt, beginnt sie zu schwärmen. Sie liebe den Kiosk; die “Jungs” dort hätten immer ein nettes Wort. Es gebe auch Leute, die nicht mögen, dass hier nur “Ausländer” arbeiten. Das fände sie schade. “Wenn alle zusammen leben und klarkommen, is´ doch alles tacko”, sagt sie. “Das Schönste am Ruhrgebiet ist doch, dass es so multikulti ist.”

“Wohin gehst du jetzt?”, frage ich. “Nach Hause”, antwortet Gabi. Hätte der Kiosk Tische draußen stehen, würde sie hier bleiben. Als sie geht, sagt sie: “Das Gespräch hat mir gut getan.”

1:40 Uhr – Mustafas Schicht hat um 0 Uhr begonnen

Torsten
Torsten hat im Fernsehen auch mal einen Kiosk-Verkäufer gespielt

“Guck mal hier! Da war ich der Vater und meine Tochter lag im Krankenhaus”, sagt Torsten und zeigt auf den Bildschirm seines Smartphones. Torsten ist Komparse. Verdachtsfälle, Auf Streife, Verklag mich doch!, er hat überall mitgespielt. Einmal sei seine Rolle ein Frauenschläger gewesen. Als eine Bekannte die Folge mit ihrer Oma guckte, habe die gesagt: “Mädchen, bist du denn bekloppt? Mit wat für Typen hängst du denn rum?”. Er lacht. Sowas passiere oft. “Die Leute glauben das sei echt”, sagt Torsten. Neben der Schauspielerei interessiere er sich für Umweltschutz. Deswegen sei er auch für ein generelles Alkoholverbot an öffentlichen Plätzen. “Besoffene schmeißen ihren Müll immer auf den Boden”, sagt er und trinkt einen großen Schluck von seinem Kurfürst August-Bier.

Lennart und Dave trinken gerade vor dem Kiosk ihr letztes Bier für den Abend. Während wir uns unterhalten, stellt sich ein kleiner, glatzköpfiger Mann Mitte vierzig zu uns. Er legt sich mehrfach auf den Boden, steht wieder auf, rennt aufgekratzt vor der Eistruhe hin und her. Als er die Kamera des Fotografen sieht, schnallt seine Hand zum Knopf seiner Hose. “Soll ich mich ausziehen?”, fragt er. Mustafa, der mittlerweile Schicht hat, steckt seinen Kopf aus der Tür. “Hau jetzt mal ab!”, sagt der 25-Jährige. Der kleine Mann ignoriert ihn. Mustafa zieht ihn zur Seite und redet auf ihn ein.

“Der Mann ist Stammgast”, erklärt Mustafa später. Er habe allerdings eine Psychose; manchmal habe er ein Messer dabei, deswegen müsse man etwas vorsichtig bei ihm sein. Als er ihn weggeschickt hat, habe der Kunde geweint. Zehn Minuten später steht der Glatzkopf wieder im Kiosk. Seine Augen sind noch nass. Er wirkt deutlich ruhiger und sogar ein bisschen reumütig. “Tut mir leid, dass du geweint hast”, sagt Mustafa und macht ihm die Flasche Bier auf.

3:50 Uhr

Überwachungskamera
Der Kiosk wird rund um die Uhr videoüberwacht. Einen Überfall gab es noch nie

Der Bäcker nebenan wird gerade mit frischen Brötchen beliefert, als eine junge Frau mit ordentlich Promille und einer leeren Bierflasche in der Hand in den Laden kommt. “Kann ich die hier abgeben?”, fragt sie, bevor sie eine Packung Tabak bestellt. “Wir nehmen eigentlich nur Flaschen an, die wir auch verkaufen”, antwortet Mustafa. Entgeistert starrt sie ihn an.

“Zieh mal weniger Pepp, Alter!”, ruft sie und drückt ihm zehn Euro für den Tabak in die Hand. “Was hast du gesagt?”, fragt Mustafa. Das Rückgeld hält er fest in seiner rechten Faust. Beide schweigen. Dann murmelt sie leise: “Sorry”. Mustafa drückt ihr den Tabak und ihr Rückgeld in die Hand. Als sie rausgeht, stellt sie ihre Bierflasche demonstrativ in den leeren Kasten vor dem Kiosk. “Genau so wat mein ich”, sagt Mustafa, “die Leute fucken einfach nur unnötig ab. Wat hab ich mit Pepp zu tun?”.

5:50 Uhr – noch zehn Minuten, dann hat Mustafa Feierabend

Kiosk
“Anfang des Monats kaufen die Leute noch Absolut Vodka, am Ende nur noch Fjorowka”, sagt Musa

Ich habe heute vier Schichten begleitet, Mustafas ist mit Abstand die beschissenste. “Ich bin froh, wenn ich gleich zuhause bin”, sagt er. Bis er gefrühstückt und geduscht habe, sei es meistens 9 Uhr morgens. Nach einer Nachtschicht würde es ihm schwerfallen, einzuschlafen. Wenn er nicht im Kiosk arbeitet, verkaufe er Autos, erzählt er. “Wieso arbeitest du dann noch hier?”, frage ich. “Weil ich irgendwann ein Haus kaufen will”, sagt er. Dann verabschieden wir uns. Über dem Backwerk geht die Sonne auf.

Überreste der Nacht
Überreste der Nacht

Als ich im Bett liege, denke ich über Trinkhallen und ihre soziale Funktion nach. Die Trinkhallen-Kultur aus meiner Erinnerung gibt es nicht mehr. Niemand hat sich heute zufällig am Kiosk getroffen, über die Arbeit geschnackt und zusammen Bier getrunken. Selbst die Trinkerszene trifft sich lieber woanders. Trotzdem scheint der Kiosk für die Menschen nicht weniger wichtig zu sein. Ich glaube, viele der Leute, die ich heute getroffen habe, sind ziemlich einsam. Und zwei Euro für Zucker ist nicht mehr viel, wenn man dafür ein nettes Wort bekommt. Ein Büdchenverkäufer ist eine Konstante. Egal ob man arbeitslos ist, mittags um zehn schon eine Fahne hat, Soziologie studiert oder Hubba-Bubba mag – an der Trinkhalle bekommt jeder, was er braucht. 24 Stunden täglich.

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