“This is America” ist Childish Gambinos Weckruf an die Wegschaugesellschaft. Mit krassen Gegensätzen zeigt er, wie viel aktuell in den Vereinigten Staaten schief läuft. Erst tänzelt er lächelnd durchs Bild, plötzlich schießt er einem Gitarristen den Schädel weg. Später mäht er einen ganzen Gospelchor nieder. Dazwischen: fröhliche Dancemoves und lockere Sommervibes.
Wer das Video zum ersten Mal sieht, versteht schon die grobe Message des Songs: eine Kritik an die lockeren US-Waffengesetze und Polizeigewalt. Das wird auch durch Zeilen wie “This is America / Guns in my area / I got the strap / I gotta carry ’em” klar. Das Timing ist leider perfekt: Zwei Tage vor der Veröffentlichung des Songs verkündete Donald Trump noch auf dem jährlichen Kongress der NRA, der “National Rifle Association”, dass keine Verschärfung der Waffengesetze geplant ist. Trotz der jüngsten Schießereien und etlichen Demonstrationen.
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Waffengewalt. Normal in Amerika. Deal with it. Soweit das Offensichtliche. Dabei ist “This is America” der Eintopf, der mit jedem Aufwärmen besser wird. Ein Eintopf, der von Anspielungen nur so überkocht. Je öfter man den Clip sieht, desto mehr versteht man, dass jedes kleinste Detail einen tieferen Sinn hat und absolut nichts zufällig passiert. Wir haben das Musikvideo, das schon jetzt, vier Tage nach Release, knapp 50 Million Views auf YouTube hat, einer detaillierten Interpretation unterzogen und all diese versteckten Symbolismen, Referenzen und Anspielungen zusammengefasst.
Ein bisschen wie damals bei der Gedichtanalyse im Deutsch-LK.
Die Schuss-Pose
Die ersten Tanz-Szenen und die anschließende Pose, in der Donald dem Gitarristen in den Hinterkopf schießt, mit durchgedrücktem Rücken und dem auf Hüfthöhe aufgestütztem Arm, erinnern stark an die Karikatur Jim Crow. Vor allem im 19. Jahrhundert wurden die Gesetze der Rassentrennung von Kritikern auch als Jim-Crow-Laws bezeichnet. Der Audruck Jim Crow beschrieb das rassistische Stereotyp des singenden und tanzenden, unterdurchschnittlich intelligenten Schwarzen, der mit sich und der Welt zufrieden ist. Passend dazu die Worte “This is America”. Auch wenn der Stereotyp uralt ist, ist er immer noch in viele Köpfen präsent.
Das erste Opfer
Der Mann, der als erstes Gambinos Schüssen zum Opfer fällt, hat krasse Ähnlichkeit mit dem Vater von Trayvon Martin, dem Jugendlichen, der 2012 in Florida von George Zimmerman erschossen wurde. Der 17-Jährige war auf dem Heimweg, als Zimmerman, der für die Nachbarschaftswache zuständig war, ihn fälschlicherweise für einen Einbrecher hielt und auf ihn feuerte. Zimmerman wurde freigesprochen und versteigerte sogar noch online die Schusswaffe. Auch wenn es sich im Video eigentlich um den Künstler Calvin The Second handelt: Die Message sitzt.
Der Blick
Nach dem ersten Schuss tanzt Donald in Richtung Kameras. Dabei reißt er ein Auge auf, während er das andere zukneift. Möglicherweise ist das eine Anlehnung an Uncle Ruckus. Das ist eine Comicfigur, die zwar selbst Schwarz ist, sich jedoch von anderen Schwarzen abgrenzt und diese verachtet. Er behauptet, eine Krankheit hätte seine Haut als Baby von weiß zu schwarz geändert.
Das Tanzen
Das Video zeigt diverse Tanzstile, die in Afrika und den USA verbreitet sind, wie Gwara Gwara aus Südafrika. Während im Hintergrund Menschen randalieren, tanzt Gambino gemeinsam mit Schulkindern. Die Tänzer lenken aber vor allem davon ab, was im Hintergrund geschieht: Vandalismus, brennende Polizeiautos. Dabei wird von Party und Wohlstand gerappt. Das spiegelt eine Gesellschaft wider, die bei all dem, was in der Welt schief läuft, lieber wegsieht und feiern geht.
Die Schulkinder
Schießereien, Blutvergießen, und mittendrin die Kinder. Die tanzenden Kids repräsentieren die Schüler, die die Amokläufe an amerikanischen High Schools miterleben.
Der Gospel-Chor
Der Kirchenchor, den Childish Gambino mit einem Maschinengewehr hinrichtet, erinnert sofort an das Kirchenmassaker in Charleston, South Carolina. Damals, 2015, stürmte ein bekennender Rassist einen Bibelkreis und erschoss neun Schwarze Menschen.
Schaulustige, die von oben mit dem Smartphone filmen
Bei all dem Trubel halten einige Kids fleißig mit ihren Handykameras drauf. Dies könnte für die steigende Zahl der Videos von Polizeibrutalität und Gewaltexzessen stehen, die immer häufiger viral gehen, und gleichzeitig eine Warnung sein: Kinder sehen alles.
Rotes Tuch, auf das die Waffen gelegt werden
Sowohl nach der ersten Hinrichtung als auch nachdem der Gospelchor niedergeschossen wird, nimmt jemand die Waffe auf einem roten Tuch entgegen. Während sich niemand um die Opfer schert, werden die Waffen behutsam verstaut und als wertvolle Trophäe behandelt. Eine klare Anspielung auf die Verharmlosung der Waffenpolitik und darauf, wie stolz Amerikaner auf ihre Knarren sind. Egal, wie viele Menschen ihnen zum Opfer fallen.
Die Textzeile “This is a celly / that’s a tool”
Ein Verweis auf Stephon Clark, der im März dieses Jahres von Polizisten erschossen wurde, weil sie sein Smartphone für eine Pistole hielten.
Der fast unbemerkte Suizid
Während im Vordergrund ausgelassen getanzt wird, stürzt sich ein Mann, vollkommen unbeachtet, vom Geländer. Ein Reminder, dass Suizid und geistige Gesundheit leider noch zu oft ignoriert werden.
Das weiße Pferd
Für ungefähr zwei Sekunden reitet eine schwarz vermummte Person auf einem weißem Pferd im Hintergrund entlang. Das könnte für den ersten der vier Apokalyptischen Reiter der Offenbarung stehen (Offenbarung 6,2: “Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd”). In der Bibel tritt dieser Reiter zwar scheinbar für den Frieden auf, wirkt dabei jedoch wie ein Eroberer und drängt anderen seine Vorstellung des Friedens auf. Eine Art Pseudo-Frieden, der auch heute herrscht, solange man die vielen Opfer ignoriert, die unschuldig erschossen werden. Oft wird das weiße Pferd auch mit dem Tod oder dem Antichrist in Verbindung gebracht.
Die alten Autos mit offener Fahrertür
Keine Luxuswägen, wie man sie sonst in HipHop-Videos zu Gesicht bekommt, sondern viele alte Toyotas. So, wie sie eher die ärmere Gesellschaftsschicht fährt. Allesamt haben ihre Fahrertür geöffnet. Vielleicht ein Symbol für die sogenannten traffic stop killings, bei denen schwarze Autofahrer von der Polizei angehalten, zum Aussteigen aufgefordert und erschossen werden, wie 2016 zum Beispiel Philando Castile.
Die Flucht
Am Ende sprintet Gambino mit weit aufgerissenen Augen davon. Lange hat er dramatische Ereignisse mit fröhlichen Dancemoves überspielt. Es scheint, als würde die Realität Amerikas ihn nun einholen wollen. Dieser Schluss erinnert stark an die Fluchtszene aus Get Out (2017), in der Chris versucht, aus dem sogenannten “The Sunken Place” zu fliehen. Der Film thematisiert den Alltagsrassismus in den USA . Laut dem Regisseur des Thrillers Jordan Peele steckt hinter “The Sunken Place” diese Botschaft: “Wir sind eine Randgruppe. Egal wie wir schreien, das System bringt uns zum Schweigen.”