Drogen

Medizinisches Cannabis: Warum deutsche Patienten leiden und Konzerne abkassieren

Medizinalcannabis in Deutschland

Julia L. wollte jahrelang nur sterben.

Die junge Frau sitzt barfuß in einem Raum der Berliner Aids-Hilfe und spricht in einem sachlichen Ton. Sie trägt eine schwarze Wickelhose und ein grünes Leinenhemd, um den Hals einen Choker und zwei Ketten mit Kristallen. Julia L. ist an diesem stürmischen Freitagabend hergekommen, um mit anderen Menschen zu reden, die entweder Cannabis-Patienten sind oder welche werden wollen. Hier haben sie die Gelegenheit, Horrorgeschichten auszutauschen und sich gegenseitig Ratschläge zu geben: Welche Ärzte sind einer Cannabis-Behandlung gegenüber offen? Wie kriegt man seine Krankenkasse dazu, die Kosten zu übernehmen?

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Auch wenn medizinische Beweise für die Wirkung bei psychischen Störungen eine Seltenheit sind: Die 23-jährige Julia L. sagt, dass Gras ihr das Leben gerettet habe.

Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, eine posttraumatische Belastungsstörung und eine manische Depression: das sind die psychischen Krankheiten, die die Ärzte bei L. festgestellt haben. Sie selbst vermutet außerdem, dass sie unter einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leidet. Zu ihren Symptomen gehören schwere Panikattacken, die sie manchmal lähmen und an Suizid denken lassen.

“Ich habe auf meinem Sofa gesessen und ungetoastetes Toastbrot gegessen, weil ich mich zu sonst nichts aufraffen konnte”, sagt Julia L.

Auch diverse Medikamente konnten ihr nicht helfen, weder Antipsychotika noch Benzodiazepine wie Xanax: “Ich hatte immer noch Panikattacken, ich wollte mich immer noch fast jeden Tag umbringen.”

All das änderte sich, als sie nach dem Besuch eines Musikfestivals im Ausland begann, regelmäßig Gras zu rauchen.

“Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben täglich gekifft”, sagt L. “Ich hatte keine Symptome mehr, keine einzige Panikattacke. Ich versuchte nicht länger, mich selbst zu verletzen.”

Wieder in Deutschland konnte sie allerdings keinen Arzt finden, der ihr ein Rezept ausstellt.

Julia L. stammt aus Traunstein in Bayern. Cannabis wird dort von der Polizei mit großer Härte verfolgt. Ihr Arzt und ihre Therapeutin hätten sie fallengelassen, als sie begann, über eine Cannabis-Therapie zu sprechen, sagt sie. Die Mediziner seien davon ausgegangen, dass sie einfach nur high sein wollte. Dabei ging es L. sichtbar besser: Ihre Krankenhausaufenthalte und Selbstmordversuche waren weniger geworden und sie hatte wieder begonnen zu arbeiten.

“Sie wollten mir nicht glauben. Die dachten, ich will Cannabis einfach nur als Droge.”


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Deutschland ist der größte Markt für medizinisches Cannabis außerhalb Nordamerikas. Das hier legal verkaufte Gras wird aus den Niederlanden oder Kanada importiert.

Deswegen haben große kanadische Cannabis-Unternehmen wie Aphria, Aurora, Canopy und Tilray ihre Präsenz in Deutschland verstärkt. Sie wollen nicht nur nach Deutschland expandieren, sondern auch in andere Länder der Europäischen Union, in denen Gras legal ist.

Was aus unternehmerischer Sicht momentan eine große Erfolgsgeschichte ist, bleibt für Patientinnen und Patienten und ihre Unterstützerinnen ein bürokratischer Albtraum.

Deutschlands Umgang mit medizinischem Cannabis sei vor allem verwirrend, sagen Betroffene. Das Mittel sei schwer zu beschaffen und immer noch mit Vorurteilen belastet. Die in Deutschland verfügbaren Mengen seien zu gering, Ärzten fehle es an Expertise und Krankenkassen weigerten sich regelmäßig zu zahlen. Diejenigen, die für ihr Apotheken-Gras selbst aufkommen müssen, sagen, dass es überteuert und von schlechter Qualität sei. Nicht wenige versuchen es deswegen weiter auf dem Schwarzmarkt oder bauen illegal selbst an.

Die Kriterien für ein Cannabis-Rezept sind streng. Patienten müssen unter einer “schweren” Krankheit leiden und beweisen, dass ihnen kein anderes Medikament helfen kann. Für Ärztinnen bedeutet es eine Menge Papierkram. Aufgrund des verhältnismäßig geringen Forschungsstands sind Mediziner ohnehin sehr zögerlich beim Ausstellen von Rezepten.

Schmerzpatienten müssen erst Opiate ausprobieren, bevor sie auf ein Cannabis-Rezept hoffen dürfen.

Wann genau eine Krankheit “schwer” ist, ist nicht definiert. Theoretisch könnten Migränepatientinnen den Kriterien genügen, Krebspatienten aber nicht, wenn es andere Behandlungsmethoden gibt. Schmerzpatienten müssen erst Opiate ausprobieren, bevor sie auf ein Cannabis-Rezept hoffen dürfen.

Julia L. hat schließlich eine Ärztin gefunden, die ihr Cannabis verschrieb. Ihre Krankenkasse wollte aber trotzdem nicht zahlen. Etwa ein Drittel der Cannabis-Patienten wird von den Krankenkassen abgelehnt. Das gibt es bei keinem anderen Medikament.

Wenn Julia L. selbst zahlt, würde sie das Apotheken-Gras allerdings 450 Euro im Monat kosten, sagt sie. Also baute sie an.

Trotz allem steigt die Nachfrage nach medizinischem Gras in Deutschland rasant. Momentan gibt es schätzungsweise 65.000 Cannabispatienten, 2018 waren es noch 40.000. Vor der Gesetzesänderung 2017 kamen nur 1.000 Menschen mit einer Sondererlaubnis legal an Gras.

Die Beratungsfirma Prohibition Partners erwartet, dass die Patientenzahlen bis 2024 auf eine Million wachsen. Der Markt soll bis 2028 elf Milliarden US-Dollar umsetzen.

Der Umstand, dass Cannabis von den Krankenkassen übernommen wird, theoretisch jedenfalls, macht Deutschland für Produzenten besonders attraktiv. In Nordamerika müssen die meisten Patienten noch selbst in die Tasche greifen. Um die gesteigerte Nachfrage zu bedienen, hat die deutsche Regierung im März drei Unternehmen erlaubt, Cannabis in Deutschland anzubauen: den kanadischen Produzenten Aphria und Aurora sowie dem deutschen Unternehmen Demecann, das zum Teil dem kanadischen Produzenten Wayland Group gehört.

“Niemand hat das zuvor gemacht, also haben wir alle bei null angefangen”, sagt Hendrik Knopp, Geschäftsleiter von Aphria Deutschland, in seinem Hamburger Büro. Die Wände sind mit grünen und goldenen Cannabis-Blättern bemalt.

Nach einer Karriere in den Bereichen Recht, Telekommunikation, Online-Spiele und selbstfahrende Autos leitet Knopp heute ein Team von zehn Aphria-Mitarbeitenden. Etwa 50 weitere werden in der Indoor-Plantage arbeiten.

Aphria und Aurora werden jeweils eine Tonne Gras pro Jahr produzieren. Knopp sagt, er wisse, dass das nicht genug ist. Aphrias Zuchtanlage in Deutschland, die Knopp als “Tresor” bezeichnet, könnte ihren Output sogar noch steigern, sollte der Gesetzgeber mitspielen.

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Hendrik Knopp | Foto bereitgestellt

“Die in Deutschland benötigte Menge für medizinisches Cannabis liegt jetzt schon deutlich über der Menge, mit der die zurückhaltenden Behörden gerechnet hatten”, sagt Knopp.

Der Preis stellt ebenfalls eine große Hürde dar. Zurzeit kostet das Gramm kanadisches Gras in deutschen Apotheken zwischen 20 und 25 Euro – siebenmal so viel, wie kanadische Patientinnen bezahlen. Obendrein lasse die Qualität zu wünschen übrig, sagen Betroffene.

Stefan Konikowski ist 56 Jahre alt und HIV-positiv. Er ist in der gleichen Cannabis-Gruppe wie Julia L. und erzählt, dass er in der Apotheke einmal Gras bekommen habe, das “nach Keller” geschmeckt habe.

“Niemand kann das rauchen”, sagt Konikowski, der mit seiner Krankenkasse immer noch wegen der Kostenübernahme kämpft. Seit einem Jahr habe er allerdings nichts mehr von der Kasse gehört. “Wenn ich solches Zeug von einem Dealer bekommen würde, würde ich ihn umbringen.” Ein anderer Patient, der inzwischen dazu übergegangen ist, illegal selbst anzubauen, sagt: “Wir kriegen den Müll, der sich auf dem kanadischen Markt nicht verkaufen lässt.” Andere beschweren sich über falsch beschriftete Sorten oder gute, die immer vergriffen sind.

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Stefan Konikowski | Foto von der Autorin

Cam Battley von Aurora sagt, er habe genau Gegenteiliges über das Gras seines Unternehmens gehört. “Die Qualität unseres Produkts ist sehr hoch”, sagt er. Abgesehen von einer einmaligen kurzen Panne habe es auch keine Probleme mit der zeitgerechten Lieferung ihrer Ware gegeben.

Aphrias Produkte sind noch nicht in deutschen Apotheken erhältlich. Im Januar dieses Jahres kaufte das Unternehmen allerdings CC Pharma auf, einen Pharmavertrieb, der über 13.000 Apotheken in ganz Europa beliefert. Diesem Schritt verdankt Aphria sein erstes positives Geschäftsquartal seit der Legalisierung von Cannabis in Kanada.

Das Unternehmen arbeitet daran, sich einen großen Anteil des deutschen Marktes zu sichern. Ein großes Hindernis ist laut Knopp jedoch die Unwissenheit der Mediziner.

“Politiker haben entschieden, dass Cannabis eine anerkannte Behandlungsmethode ist. Nur den Ärzten hat niemand Bescheid gesagt”, erklärt Knopp. “Wenn man mit ihnen spricht, kennen die noch nicht mal den Unterschied zwischen THC und CBD.”

“Bei todkranken Patienten hat eine Bewilligung manchmal länger gedauert als ihre verbliebene Lebenszeit.” – Jan Witte

Jan Witte arbeitete als Krebs-Experte in einem Berliner Krankenhaus, bevor er 2018 bei Aphria als medizinischer Leiter anfing.

Witte hat schon früh in seiner Laufbahn positive Resultate bei Krebspatienten und Cannabis beobachtet. Er ist auch deshalb zu Aphria gegangen, weil er das System für medizinisches Cannabis in Deutschland verbessern will.

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Aphrias deutsche Indoor-Plantage befindet sich noch im Bau | Foto bereitgestellt

“Unter Medizinern herrscht große Skepsis”, sagt Witte. “Die meisten Rezepte werden von einigen wenigen Ärztinnen und Ärzten ausgestellt, die sich auf Cannabis spezialisiert haben.”

Julia L.s Freundin Lisa H. ist 700 Kilometer von Traunstein nach Berlin gefahren, um jemanden zu finden, der ihr Cannabis verschreibt. Die 30-Jährige leidet unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und Arthrose. Mit ihrem Mann fährt sie regelmäßig 200 Kilometer, um auf dem Schwarzmarkt Gras zu kaufen. Bis zu 1.000 Euro gibt sie im Monat dafür aus.

“Ich habe mit so vielen Ärzten gesprochen”, sagt sie entnervt. “Ich habe mit meinem Psychiater gesprochen und der meinte: ‘Ja, ich weiß, dass es Ihnen wahrscheinlich helfen wird, aber ich verschreibe es einfach nicht.’”

Als Witte zum ersten Mal ein Cannabis-Rezept ausstellte, brauchte er eine Stunde, um alle Unterlagen auszufüllen. Obendrein wurden seine Rezepte häufig von Krankenkassen abgelehnt, wodurch er seine Rechte als Arzt eingeschränkt sah.

Andererseits will Witte Ärzte auch nicht dafür verurteilen, wenn sie zögern, Cannabis zu verschreiben. Die Forschung sei noch nicht so weit, wie sie für eine medizinische Therapie sein sollte, und die Medien hätten ihr Übriges dazu beigetragen, Cannabis relativ unkritisch als Medikament anzupreisen.

Immerhin sieht Witte in der aktuellen Regelung einen enormen Fortschritt im Vergleich zu früher. Bis 2017 mussten sich Patienten noch für eine Sondererlaubnis bewerben und grundsätzlich selbst für ihr Gras zahlen.

“Bei todkranken Patienten hat eine Bewilligung manchmal länger gedauert als ihre verbliebene Lebenszeit.”

Aber es gibt Hoffnung.

Daniela Ludwig von der CSU, die neue Drogenbeauftragte der Bundesregierung, sagte vor Kurzem: “Es gibt beim Thema Cannabis kein Schwarz oder Weiß, kein Entweder-oder.” Damit unternahm sie eine klare Abkehr von der konservativen Drogenpolitik ihrer Vorgängerin Marlene Mortler.

Auch wenn die aktuelle Regierung weit davon entfernt ist, eine Cannabis-Legalisierung überhaupt in Erwägung zu ziehen, könnte sich das mit den nächsten Bundestagswahlen ändern. Mit den Grünen, der Linken, der SPD und der FDP gibt es immerhin vier Parteien, die einer Legalisierung oder kontrollierten Freigabe nicht total ablehnend gegenüber stehen.

Außerdem liegen momentan zwei Fälle beim Bundesverfassungsgericht vor, anhand derer erneut darüber entschieden wird, ob das Cannabis-Verbot in Deutschland verfassungskonform ist.

Der AOK zufolge wird das aktuelle System der individuellen Überprüfung für die Kostenübernahme die kommenden fünf Jahre bestehen bleiben. In dieser Zeit sammeln die Ärzte das Feedback ihrer Cannabis-Patienten.

“Je nach Ergebnis könnte medizinisches Cannabis zu den Standardleistungen öffentlicher Krankenkassen werden”, sagte eine AOK-Sprecherin zu VICE. Mit weniger Auflagen für die Apotheken könnten der Preis gesenkt werden.

Witte von Aphria würde eine Patienten-Kartei begrüßen, mit der sich die Ergebnisse von Cannabis-Therapien nachverfolgen lassen. Er arbeitet zudem an weiteren klinischen Studien, auf die Ärzte dann zurückgreifen können.

In der Zwischenzeit werden sich Cannabis-Patientinnen und Befürworter weiter so gut es geht mit dem aktuellen System arrangieren – oder es im Zweifelsfall umgehen.

Im September ist Julia L. von Bayern nach Berlin gezogen, um entgegen aller Erwartungen an der Freien Universität zu studieren.

“Mir wurde immer gesagt, dass ich mein ganzes Leben auf Sozialhilfe angewiesen sein werde, dass ich keine Chance auf einen Arbeitsplatz habe”, sagt sie.

Bevor sie wegzog, erntete sie ihr letztes Gras und verschenkte ihr Grow-Equipment. Sie sagt, sie lebe noch von ihrer letzten Ernte und dem, was sie sich kaufen kann.

Julia L. studiert Pharmazie. Sie hofft, eines Tages, das System von innen heraus zu ändern.

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