Mein damaliger Freund und ich liebten uns heftig und stritten uns noch heftiger. Damals, mit 18, dachte ich: So ist wahre Liebe. Auch an diesem Abend haben wir getrunken, uns im Club gezofft. Ich fuhr alleine in die Wohnung, in der wir seit einem Jahr zusammenlebten. Als er später nach Hause kam, war ich schon wieder nüchtern und wollte gerade ins Bett, aber er suchte in seinem Rausch wieder Streit. Um dem Ganzen aus dem Weg zu gehen, wollte ich in einem anderen Zimmer schlafen, aber er ließ mich nicht gehen und hielt mich mit beiden Händen an meinen Oberarmen fest. Als seine Finger sich immer weiter in meine Oberarme bohrten, wurde ich panisch. Wir schrien uns zwar öfter an, aber handgreiflich ist er bisher noch nie geworden.
Ich sagte ihm, dass ich ihm in die Eier trete, wenn er mich nicht loslässt. Das wird Frauen doch ständig erzählt: “Wenn du dich nicht wehren kannst, tritt in die Weichteile.” Es war ein Fehler. Mein Freund prügelte minutenlang auf mich ein, er schlug mir mit der Faust ins Gesicht.
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Irgendwann habe ich es geschafft, mich aus seinem Griff zu winden und lief die Treppe herunter. Aber er erwischte mich am Kopf und ich ging zu Boden. Er drückte mich runter und fing an, mich zu würgen. “Ich bringe erst dich um und dann mich”, sagte er wie in Trance. Jetzt, dreieinhalb Jahre später, kann ich mich nicht an Schmerzen erinnern, nur an das ohnmächtige Gefühl, dass ein Mensch, dem ich vorher mein Leben anvertraut hätte, genau dieses nehmen wollte. Wir waren zusammen, seit ich 14 und er 17 war. Mit ihm hatte ich mein erstes Mal, fühlte zum ersten Mal, was Verliebtheit ist, und später die große erste Liebe. Er war der wichtigste Mensch in meinem Leben und jetzt schlossen sich seine Finger immer fester um meinen Hals.
Irgendwann zerrte er meinen Kopf an den Haaren hoch und ließ ihn abrupt los. Mein Schädel knallte auf den Fliesenboden. Ich denke, mich hat gerettet, dass ich anfing, auf meinen Freund einzureden: Ich sagte, dass der Aufprall mich gelähmt hätte und dass er unbedingt einen Krankenwagen rufen müsse. Ich sprach ewig auf ihn ein, versprach, dass ich den Sanitätern sagen würde, ich sei die Treppe runtergefallen. Es kam mir vor, als würde mein Freund klarer werden. Irgendwann hatte ich ihn soweit, dass er den Notruf holte.
Im Krankenwagen erzählte ich den Sanitätern alles und sie riefen die Polizei. Das nächste Mal sah ich meinen Freund ein Dreivierteljahr später im Gerichtssaal wieder. Er stand da, mit zwei Kumpels, und war mir unglaublich vertraut, aber gleichzeitig auch komplett fremd. Als ich meine Aussage machte und vom Würgen erzählte, fragte der Richter genau nach: Wie drückte er zu? Wie lang? Habe ich Punkte vor meinen Augen gesehen? Dann sagte er, dass wir die Verhandlung eventuell vor dem Landgericht führen müssten, weil es sein kann, dass der Tatbestand möglicherweise nicht “gefährliche Körperverletzung” sei, sondern “versuchter Totschlag”. Aber weil mein Freund den Krankenwagen gerufen hatte, wurde er letztendlich doch nur wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Er bekam elf Monate auf Bewährung und musste mir Schmerzensgeld zahlen. Auch ich bekam eine Anzeige, weil ich ihm die Hoden geprellt hatte. Aber die wurde sofort fallen gelassen.
Ich bin damals relativ glimpflich davongekommen: Mit ein paar Schädelprellungen, einer Platzwunde am Hinterkopf, blauen Flecken und Würgemalen. Aber Albträume habe ich dreieinhalb Jahre später immer noch mehrmals die Woche. Darin verfolgt oder vergewaltigt er mich, schlägt mich. Ein wiederkehrender Traum ist besonders schlimm. Er endet damit, dass ich mich von einem Hochhaus stürze, um ihm zu entfliehen. Ich komme auch nicht mehr damit klar, wenn ich festgehalten werde. Oder wenn ich sehe, wie jemand eine Frau packt, selbst wenn das nur im Film ist.
Ich habe bis heute nicht begriffen, wieso mein damaliger Freund ausgerastet ist. Am Anfang war ich davon überzeugt, dass er Drogen genommen haben muss, aber bei der Gerichtsverhandlung erfuhr ich, dass sein Drogentest negativ war. Ich werde es auch nie erfahren—wir haben nicht wieder miteinander geredet und werden es auch nicht tun. Das war eigentlich das Schlimmste an der ganzen Sache: Ein Mann, mit dem ich ein Viertel meines Lebens verbracht hatte, mit dem ich alle meine Gedanken teilte, war plötzlich wie ein Toter für mich. Eigentlich noch schlimmer: wie ein Zombie. Er läuft ja immer noch irgendwo herum, atmet, isst, sodass ich auch nie damit richtig abschließen kann.
Ich habe danach keinen Männerhass entwickelt, die meisten meiner guten Freunde sind Kerle. Auch Sex ist kein Problem. Aber es ist schon zwei Mal vorgekommen, dass ich mit Freunden aus Spaß gerangelt habe und plötzlich weinen musste, weil alles hochkam. Einen Freund hatte ich seitdem nicht. Manchmal denke ich, ich bin gefühlskalt geworden, schaffe es einfach nicht, mich zu verlieben. Andererseits hat mich das Ganze auch stärker gemacht: Ich lasse mir nichts mehr gefallen, bin viel taffer geworden. Ich habe kein Problem damit, meine Geschichte zu erzählen. Es sind meistens die Zuhörer, die sich unwohl fühlen. Aber es ist mir wichtig, nicht die Klappe zu halten: Viele Frauen schweigen danach. Die Polizisten hatten sogar Angst, dass ich danach zu meinem Freund zurückkehre—das sei wohl ein gängiges Muster. Das kam für mich aber nicht in Frage. Ich wünsche meinem Ex nichts Schlechtes. Ich will keine Rache. Aber verzeihen kann ich ihm nicht.
Anders als Melissa schweigen viele Frauen über häusliche Gewalt. Dabei hat jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Übergriffe durch ihren Partner erlebt. Europaweit sehen die Zahlen nicht viel besser aus: 22 Prozent der Frauen, die 2014 befragt wurden, berichten, dass sie mindestens einmal im Leben häusliche Gewalt erlebt haben. Jede kann es treffen, unabhängig von Alter, Bildungsstand, Einkommen und Herkunft. Hilfe gibt bei der Polizei, bei Ärzten, in Frauenhäusern und bei Vereinen wie dem Weißen Ring. Laut dem Gewaltschutzgesetz kann das Familiengericht dem Täter verbieten, Kontakt zum Opfer aufzunehmen oder für eine Zeit die gemeinsame Wohnung zu betreten—unabhängig davon, wer die Wohnung mietet, oder wem sie gehört.
Titelbild: Foto: imago | epd