Mein Therapeut hat mir gesagt, dass ich nicht mehr Joy Division hören muss

Foto: Screenshot von YouTube aus dem Video „Joy Division – Love Will Tear Us Apart [OFFICIAL MUSIC VIDEO]​”​ von RHINO

Zu meiner ersten Therapeutin bin ich nicht mehr gegangen, nachdem sie meinte, dass sie noch nie von den Smiths gehört hätte. In meinen Augen war das einfach extrem unprofessionell. Sie war eine Psychologin, die es größtenteils mit gestörten und arroganten jungen Menschen in einer Unistadt zu tun hatte, und sie sprach noch nicht mal unsere Sprache. Wie oft waren die gemurmelten Morrissey-Zitate unangepasster Außenseiter wohl überhört oder missverstanden worden, weil dieser Frau das Grundlagenwissen zu einem der Lieblingsjammerlappen dieser demografischen Gruppe fehlt? Als ich ihr mein Entsetzen über dieser alarmierenden Wissenslücke kundtat, verteidigte sie sich damit, früher Blur gehör zu haben. Das machte es nicht besser für mich. Als würde irgendjemand „Song 2″ oder „The Universal” zur Hilfe nehmen, um seine innersten Gefühle und Geheimnisse auszudrücken.

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Ich wusste, dass ich mit meinem aktuellen Therapeuten einen guten Fang gemacht hatte, als er zu mir meinte, dass ich nicht weiter Joy Division hören muss. Für mich bedeutete das den ersten großen Durchbruch meiner ganzen Therapielaufbahn. Er dachte im ersten Moment, ich würde das sarkastisch meinen. In Wahrheit war ich allerdings selbst nie darauf gekommen. In meiner Welt hört man nicht einfach auf, Joy Division zu hören. Die Post-Punk-Götter aus Manchester gehörten für mich als Musikjournalistin zu meinen beruflichen Pflichten. Und auch privat führte kein Weg an ihnen vorbei.

Ich war 12, als ich zum ersten Mal „Rubber Ring” von den Smiths hörte, und das Lied traf mich hart. Morrisseys Anmerkung, „the most impassioned song to a lonely soul is so easily outgrown”, bestürzte mich dermaßen, dass ich mir fest vornahm, es nie so weit kommen zu lassen. Ich schwor mir, niemals die Songs zu vergessen, die mir die Tränen in die Augen trieben, die Songs, die mir das Leben gerettet haben. Auch wenn ich nicht wirklich dran glaubte, dass ich jemals tanzen, lachen und richtig leben würde, schwor ich mir, dass ich die Stimme von Moz und Konsorten in meinem Kopf behalten und an sie denken würde, sollte ich es jemals an diesen Punkt schaffen. Und Jahre nachdem ich aufgehört hatte, auf Morrisseys Meinung über das Leben, die Menschen in China, Jagd auf Seehunde oder, nun ja, so ziemlich alles, zu hören, blieb ich diesem Versprechen treu.

Joy Division—noch mehr als jede andere Band—waren mein „Rubber Ring”. Es war die Band, an die ich mich in Phasen der Verzweiflung und des Elends wand. Sie waren die einzigen, die mich wirklich verstanden. Die ähnlich miesepetrigen Smiths eigneten sich nur bedingt, um sich zu ihren Songs im eigenen Elend zu suhlen. Da waren immer dieses schiefe Grinsen und ein Hauch ironischer Selbstreflektion in so vielen ihrer Songs zu spüren. Und bei The Cure liefst du immer Gefahr, bei so schmerzlich-fröhlichen Songs wie „Friday I’m In Love” oder „Mint Car” zu enden, wenn du zu weit von Disintegration abgekommen war. Im Oeuvre von Joy Division war aber keine Freude zu finden. Schönheit, ja. Selbst die zornigsten und kantigsten Songs ihres Frühwerks, wie „Warsaw” oder „No Love Lost”, bestechen durch eine schaurig-schöne Atmosphäre. Fast jeder Text, den Ian Curtis jemals geschrieben hat, drückt die brutalsten Dinge, die einem Gehirn und einer Seele widerfahren können, mit einer unfassbaren Präzision und Poetik aus. Nur die wenigsten Lieder werden der Perfektion von „Atmosphere” jemals auch nur ansatzweise das Wasser reichen können.

Diese schwarze Schönheit ist aber gleichzeitig erbarmungslos und setzte mir nach und nach zu. Irgendwann zogen mich die Dinge, die ich an der Band so sehr liebte, tiefer und tiefer in das Loch meiner eigenen Verzweiflung. Mein chemisch aus dem Gleichgewicht geratenes Gehirn und die teenagereigene Vorliebe für Dramatik machten es mir unmöglich, Joy Division mit irgendeiner Perspektive für irgendetwas zu hören. Ich fing an, mich mit Ian Curtis Texten und seinem Porträt zu überidentifizieren, das seine Witwe Deborah in ihrem Buch Touching From A Distance von ihm gemalt hatte. Die einzige Erlösung, die ich in seiner Kunst oder seinem Leben sehen konnte, war der Tod. Mein Rubber Ring wurde zu einem Zementschuh.

Trotzdem hörte ich weiter ihre Musik. Manchmal tat ich das aus dem ehrlichen Bedürfnis nach „Komakino”, andere Male um Peter Hooks melodische Basslines mitzuspielen. (Als bassspielende Eigenbrödlerin erzielst du mit Joy Division-Songs immer noch die besten Ergebnisse.) Vor allem tat ich es aber aus Pflichtgefühl. Sie hatten mir früher die Welt bedeutet und ich konnte ihnen jetzt nicht einfach den Rücken zukehren. Morrissey hatte es doch gesagt.

Dann kam ich mit einem älteren Typen zusammen, der mich mit zu den typischen 80er Partys nahm und meine Joy Division-Schuld und Ambivalenz verwandelte sich in Verachtung. Ich fand es furchtbar, andere Menschen zu der Musik tanzen zu sehen, die in meinem Leben einen dermaßen persönlichen und privaten Stellenwert hatte. Wie ein bockiges Kind wollte ich einfach nicht teilen. Ich selbst wollte sie allerdings auch nicht mehr wirklich haben. Diese Ablehnungshaltung richtete sich bald darauf auch gegen Retropartys an sich.

Und so bin ich dann auch am Vorabend einer solchen Veranstaltung in der Praxis meines Therapeuten gelandet und habe mich über meine bescheuerten Joy Division-Probleme ausgelassen. Ich erzählte ihn, dass die einzige Sache, die mich trauriger stimmt als eine suizidales Borderliner-Mädchen, das „Shadowplay” als Schulter zum Ausheulen verwendet, ein Haufen erwachsener Männer und Frauen ist, die zum gänzlich untanzbaren „Love Will Tear Us Apart” über die Tanzfläche schlurfen—dem Beat und ihrer Jugend mit etwa dem gleichen Erfolg hinterherjagend. Er hörte sich geduldig den ganzen Schwachsinn an und beendete unsere Sitzung schließlich mit einem weichen und einfachen: „Sarah, Sie müssen nicht mehr Joy Division hören.”

Zuerst war ich wie vor den Kopf geschlagen. Dann fühlte ich mich unfassbar erleichtert.

Ich machte einen kalten Entzug. Ich packte die CDs weg und begann die Songs, wenn sei bei iTunes im Random-Modus auftauchten, zu überspringen—komplett aus meiner Library löschen konnte ich sie dann doch nicht. Einmal war ich versucht, als ich über ein Video von Schauspieler/Musiker John Simm stolperte (der Joy Divisions und New Orders Bernard Sumner in 24 Hour Party People und gelegentlich eine Rolle in meinen Träumen spielt), in dem er mit New Order 2009 bei einem Konzert in London „Digital” sang. Aber ich schaffte keine ganze Minute. Außer diesem Semiausrutscher habe ich seitdem nie mehr als wenige Sekunden eines Joy Division Songs gehört. Klar, ich vermisse sie, aber ich kann einfach nicht mehr.

Früher dachte ich mal, dass einer der großen Vorteile des eigenbrödlerischer Musiknerddaseins und Außenseiters darin besteht, dass die Künstler und Songs zu deinen Freunden wurden, deinen Vertrauten und, ja, deinem „Rubber Ring”—wenn sonst niemand für dich da ist. Das denke ich auch noch immer. Wirklich. Aber ich habe erkannt, dass eine Freundschaft mit einer Band so toxisch und schädlich wie eine zwischenmenschliche sein kann. Und manchmal, ganz unabhängig von eurer gemeinsamen Geschichte, musst du einfach den Absprung schaffen, bevor dich deine Liebe für sie zerreißt.

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