Kennst du das, wenn du jemandem was auf deinem Computer zeigen willst, der aber so unfassbar langsam ist, dass er gar nichts mehr packt und du dich ein bisschen so fühlst wie damals, als deine Bekannte dein total unaufgeräumtes Zimmer sehen musste? Es ist ein schamverwandtes Gefühl, aber anders.
Es gibt unzählige Emotionen, für die wir keine Namen haben, weil wir einfach nicht über sie sprechen. In den meisten Fällen hat das einen Grund: Wir denken einfach, niemand außer uns empfindet diese Gefühle, oder hat dieselben komischen Gedanken. Und dann kommt ein Freund in einem Moment, in dem gerade keiner mehr weiß, was er noch sagen soll, mit einem Satz an, der mit „Oft denke ich mir” oder „Kennst du das, wenn” beginnt, obwohl wir im Grunde nicht mal erwarten, dass der andere das kennt.
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Das läuft dann so: Oft denke ich mir, wenn ich fremde Menschen auf der Straße beobachte, dass jeder einzelne dieser Menschen ein eigenes Leben führt—ein Leben, das mindestens genau so komplex und kompliziert, verschachtelt und verstrickt ist wie mein eigenes. Und mir wird plötzlich klar, dass die Frau, die vor mir beim Billa in der Schlange steht, mit genau so viel Scheiße umgehen muss wie ich und ihren ganz eigenen, unfassbar großen Lebenskosmos hat, von dem ich nie auch nur ansatzweise irgendetwas wissen werde.
Oder der Typ in der U-Bahn, der vielleicht einen Vaterkomplex hat und heute unausgeschlafen ist, weil er heimlich seine Frau betrügt und eigentlich doch immer Schlagzeuger werden wollte, oder sonst was. Was weiß ich. Die Vorstellung, dass jeder dieser Menschen seine eigene Geschichte hat, und sich dessen bewusst werden—ich weiß nicht so recht, wie ich mit diesem Gedanken umgehen soll. Und erst recht weiß ich nicht, wie ich dieses Gefühl nennen soll. Ich kann es nicht ganz verarbeiten, es überfordert mich.
Es gibt aber noch viel mehr dieser unbenannten Gefühle. Wenn ich Räume von innen sehe, die ich eigentlich nur von einer anderen, ganz bestimmten Tageszeit und voller Menschen kenne. Ein Klassenzimmer oder ein Büro nachts zu betreten, weil im selben Gebäude vielleicht gerade Schulball oder Einweihungsparty gefeiert wird und man schnell sein Zeugs ablegen will—auch das ist ein ziemlich sonderbares Gefühl. Ungewohnt, aber irgendwie gut. Wer schon mal in seiner Schule übernachten durfte, kennt es. Es ist beinahe exklusiv, weil eben nicht der Normalfall—und ebenfalls schwer zu beschreiben.
Im Gegensatz dazu steht die Erfahrung, tagsüber das Innere eines Clubs zu sehen. Beleuchtet, menschenleer. Wenn man selbst zur gewohnten morgendlichen Zeit mit zwei Promille nicht mehr wirklich viel sieht, kann das oft sehr verstörend sein. Verhält sich ähnlich wie mit Madonna ohne Photoshop.
Auch das Dictionary of Obscure Sorrows beschäftigt sich mit diesen Gefühlen, die hauptsächlich in die Sorgen-Kategorie einzuordnen sind, und erfindet dafür englische Begriffe. Die klingen zwar manchmal ganz witzig, erfassen aber dann doch nicht hundertprozentig, worum es geht—erst recht nicht im Deutschen. Der oben erwähnte Brainfuck mit den Leben anderer Menschen wird beispielsweise „Sonder” genannt.
Im Großen und Ganzen ist man sich einfach vieler Dinge in seinem Leben nicht bewusst. Dass man den eigenen Herzschlag eigentlich richtig gut spürt, wenn man darauf achtet. Oder dieses Knicksen in den Ohren, jedes Mal, wenn man schluckt. Gern geschehen.
Über vieles wird einfach nicht nachgedacht und das hat durchaus praktische Gründe. Führ dir mal Folgendes vor Augen: Du wirst nie, nie, nie wirklich wissen, was andere Leute tatsächlich über dich denken. Niemals. Du wirst nie ihre Gedanken lesen können und du wirst nie erfahren, ob deine beste Freundin den Klang deiner Stimme insgeheim total hasst oder findet, dass du irgendwie stinkst aber es aus Höflichkeit nie zur Sprache bringt. Genau so wie du nie erfahren wirst, was schon alles hinter deinem Rücken über dich gesagt wurde. Und wer schon mal was über dich gesagt hat. Positiv oder negativ. Es ist so ernüchternd.
Generell können Freundschaften ziemlich komisch sein. Irgendwann kommt man an einen Punkt, an dem man glaubt, den anderen mittlerweile wirklich gut zu kennen. Man weiß genau, wie jemand tickt. Bis zufällig eine eigentlich banale Tatsache aus der Vergangenheit des anderen erwähnt wird, von der man nicht die leiseste Ahnung hatte—dass die Person früher mal ganz gut Gitarre spielen konnte zum Beispiel—und damit das gesamte Bild, das man bis dahin von jemandem hatte, bis zur Unkenntlichkeit zerbombt. „Das wusste ich ja gar nicht! Wer zum Teufel bist du überhaupt?”
Bis es überhaupt mal soweit kommt, kann es allerdings ein sehr weiter, sehr anstrengender Prozess sein. Irgendwo kommen immer neue Leute daher, und viele davon sind potentiell großartig. Erfahren wird man das allerdings nicht immer, weil Zeit und Umstände einem das oft gar nicht erlauben, oder man diese grundlegenden, ewig andauernden Gespräche über Arbeit, Studium, Vorlieben und Ideale einfach leid ist. Es ist so unglaublich frustrierend, wenn man realisiert, wie lange es wieder dauern wird, jemanden so richtig kennenzulernen. „Ich glaube, wir könnten super sein, aber es ist mir zu stressig, das ganze Kennenlern-Verfahren zu durchlaufen.”
Es gibt Momente, in denen man mit seinen Gedanken so extrem ins Nirgendwo abdriftet, dass man sich selbst für eine Millisekunde vollkommen vergisst und sich dann erst mal wieder bewusst machen muss, wer man eigentlich ist, wie man heißt, wo man sich befindet und was man gerade machen wollte. Sich kurz an das eigene Leben erinnern. Das ist ein bisschen wie ein Computer-Absturz und passiert alle paar Tage mal. Es dauert auch wirklich nur sehr kurz, aber das macht es nicht weniger befremdlich. So ein Reset kann auch mal ganz gut sein, um seine Gedanken zu sortieren. „Reset” wäre übrigens ein schönes Wort dafür—„Boah, ich hatte gerade übelst Reset”.
Mit Erinnerungen ist es auch so eine Sache. Es gibt Abschnitte in meinem Leben, an die ich mich nur dunkel erinnere, obwohl sie gerade mal ein paar Jahre zurückliegen. Fast so, als hätte ich sie nicht selbst erlebt. Wie einen ganz okayen Film, den ich mal gesehen hab, und die Handlung jetzt nicht mehr ganz so detailgetreu wiedergeben kann.
Ich weiß nicht, ob ich frühdement bin oder manche Geschichten einfach schon so oft erzählt habe, dass sie mir schon wieder fremd vorkommen. Mit zwölf war ich mal Sternsinger und musst drei ganze Tage lang immer wieder ein und das selbe Lied singen. Am Ende wusste ich nicht mehr, wie es geht.
Vielleicht kann man das auch mit einer Art Traum vergleichen, da bin ich mir auch oft nicht sicher, ob etwas tatsächlich so passiert ist oder ich es einfach nur geträumt habe. Ganze Lebensphasen geträumt zu haben ist eine eher unschöne Vorstellung. Der Versuch, diese Erinnerungen aufzufrischen, funktioniert leider auch nicht immer, vor allem wenn man nach einer halben Ewigkeit in seinen Heimatort zurückkehrt und dieses eigenartige Gefühl hat, als ob sich rein gar nichts geändert hätte, außer man selbst. Richtig in eine Zeit zurückversetzen kann mich meistens nur ein Geruch aus meiner Kindheit. Nicht immer von Vorteil, wenn mir beim Zigaretten kaufen plötzlich ein Duftschwall entgegenkommt und ich kurz glaube, ich wäre im Haus der Dorf-Omi, bei der wir immer Schokolade bekommen haben—dann fühlt man sich nur umso schuldiger fürs Rauchen, so als hätte einen die Omi persönlich dabei erwischt.
Meine Gefühle sind komisch. Habt ihr euch eigentlich schon mal überlegt, in wie viele Fotos von völlig Fremden ihr mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit schon reingelaufen seid? Selbst wenn ihr wolltet, ihr werdet diese Fotos nie sehen. Der Gedanke allein zerreißt mich. Auch für ihn gibt es keinen Namen.
Und vielleicht ist das auch besser so. Gäbe es korrekte Bezeichnungen für all diese meist unangenehmen Gefühle, würde ich sie wohl noch viel bewusster wahrnehmen und dann erst recht an ihnen zu Grunde gehen. So wie bei Fomo.
Franz’ Gefühle auf Twitter: @FranzLicht
The Dictionary Of Obscure Sorrows