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Die Scheidung meiner Eltern war eine komische Zeit für mich. Ich war 16 und ein Teil von mir fühlte sich endlich von den Fesseln des dominanten und sexistischen Vaters befreit—der andere Teil von mir war aber für diese große Veränderung einfach noch nicht bereit. Alles, was dort ablief, war ein gigantisches Chaos aus subtilen Feinheiten. Stückweise verschwanden Möbelstücken aus unserem Zuhause und mein Vater ließ ständig unterschwellige Sticheleien gegen meine Mutter und ihre Familie fallen.
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Wie das oftmals so ist, wenn man sich als Teenager plötzlich mitten in einem Scheidungstheater wiederfindet, war ich eine umkämpfte Trophäe beim Tauziehen meiner Eltern. Er suchte sich jeden noch so banalen Aspekt ihres Lebens raus und versuchte, diesen in eine Andeutung zu drehen, dass ich auch so werden würde, wenn ich zu viel Zeit in ihrer Nähe verbringen würde. Eines Tages gipfelte der ganze triviale Scheiß, über den er sich gerne ausließ, allerdings in etwas viel, viel Größerem.
„Ich will nicht, dass du irgendwie Partei ergreifst, Rachel, aber die Familie deiner Mutter ist nicht das, wofür du sie hältst. Sie haben dich angelogen. Deine Großmutter war eine Prostituierte und so hat sie auch deinen Großvater kennengelernt.” Mit diesen Worten eröffnete mir mein Vater, dass meine Kindheit „eine Lüge” war (seine Worte). Meine erste Reaktion war die einer relativ reifen, aber trotzdem naiven 16-Jährigen: „Wow, Oma war eine Hure.” Ich erinnere mich, wie mir eine Millionen Gedanken durch den Kopf gingen—von „Lügt er mich nur aus Boshaftigkeit an? Das geht wirklich unter die Gürtellinie” bis hin zu „Ich kann nicht glauben, dass er mir das erzählt hat. Das geht ja gar nicht”.
Ich fühlte mich aber weder angeekelt noch irgendwie verraten—ich war viel mehr neugierig und auch ein bisschen beeindruckt. Ich fand es sogar ziemlich cool und wollte so wie sie sein. Ich versuchte, meinem Vater noch weitere Details über das große Familiengeheimnis zu entlocken, das er gerade preisgegeben hatte—ziemlich offensichtlich, um meine Mutter zu verärgern—, aber er sagte, dass das alles sei, was er wüsste.
Mein Vater wiederholte dann immer wieder, während er sich mit beiden Händen den Kopf hielt: „Man würde das nie von ihr denken. Sie sieht gar nicht wie eine Prostituierte aus.” Als würden Sexarbeiterinnen irgendeine Art von leicht erkennbarer Uniform tragen. Tatsächlich hat meine Großmutter ein Wesen und eine Art, die einem die eigenen Fehler und Mängel direkt unter die Nase reibt: Sie ist würdevoll, gebildet, furchtlos und die selbstsicherste und meistgereiste Frau, die ich je kennengelernt habe.
Sieben Jahre nach der Scheidung meiner Eltern rief ich meine Großmutter, Gladys, an, um mit ihr über ihre Vergangenheit zu reden. Bevor sie überhaupt den Hörer abnahm, dachte ich schon wieder daran aufzulegen—ich war mir nicht sicher, wie ich mich fühlen sollte und machte mir Sorgen, dass ich reflexartig irgendetwas Falsches sagen und sie damit verletzen würde. Was war, wenn ich eine Frage stellte, die ihr zu persönlich war? Was war, wenn sie mir eine Antwort gab, auf die ich nicht vorbereitet war?
Ihre Stimme klang brüchiger, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie ist mittlerweile 82 und ich machte mir Sorgen, dass ich nie wieder die Gelegenheit haben würde, diese Unterhaltung mit ihr zu führen. Aber ich weigere mich einfach, meinem Vater das letzte Wort in ihrer Lebensgeschichte und dem, was sie durchgemacht hat, zu geben. Als sie den Hörer abnahm, merkte ich, dass es ihr etwas unangenehm war, mit mir darüber zu sprechen. Ich bin ihre Enkelin, die sie hat aufwachsen sehen. „Ich fühle mich, als hätte ich dich mit der Geheimhaltung hintergangen. Du bist jetzt eine erwachsene Frau”, sagte sie mir. Ich konnte in ihrer Stimme einen Anflug von Reue hören.
Gladys wurde in 1933 in Caracas, Venezuela, geboren und lebte dort, bis sie in den 1970ern nach der Geburt meiner Mutter in die Vereinigten Staaten zog. Mit zwei kleinen Kindern aus einer vorangegangen Beziehung—der Vater hatte sich aus dem Staub gemacht—hatte sie ihre Mühe, genug Geld zum Leben zusammenzubekommen. Außerdem konnte sie ihre Kinder nicht einschulen. Da Venezuela ein überwiegend katholisches Land ist, waren die einzigen verfügbaren Schulen religiöse Schulen, die keine unehelichen Kinder akzeptierten. „Mein Ziel war es, einen Mann zu finden, der meinen Kindern einen Familiennamen geben würde—damals machte es einem das Leben sehr schwer, wenn einen der biologische Vater nicht als sein Kind anerkannte.”
Caracas war ein Brennpunkt der Prostitution—die ganzen Amerikaner kamen dorthin, um uns zu sehen.
Über eine gute Freundin, die Prostituierte war und genau wie sie Kinder und Geldprobleme hatte, kam sie dann zur Sexarbeit. Nacht für Nacht ließ meine Oma ihre Kinder bei ihrer Mutter und erzählte ihr, sie müsse zur Nachtschicht in die Fabrik. Diese Ausrede war glaubwürdig: Anfang der 50er Jahre gab es in Venezuela eine industrielle Revolution, die es zum viertreichsten Land pro Kopf aufsteigen ließ (diese Zeiten sind lange vorbei, jetzt bleibt nur noch der zweifelhafte Ruhm, die zweitgefährlichste Stadt der Erde zu beherbergen).
„Das waren die 50er Jahre in Venezuela und selbst heute ist es immer noch eine sehr konservative, religiöse und frauenfeindliche Gesellschaft. Die Männer regierten Venezuela damals und sie regieren es noch heute”, sagte Oma mir. Die Prostitution florierte in Venezuela schon immer—sogar so sehr, dass sie dort vollständig legalisiert ist. Wie kann aber ein Land, das Prostitution als ernstzunehmenden Beruf anerkennt, diese dann derartig stigmatisieren? „Sex hat es immer schon gegeben—alle haben vieles hinter verschlossenen Türen gemacht. Es war keine offene Gesellschaft. Prostitution gibt es schon, seit es Menschen gibt.”
Für viele, damals und heute, galt Prostitution als Weg in ein besseres Leben. „Caracas war ein Brennpunkt der Prostitution—die ganzen Amerikaner kamen dorthin, um uns zu sehen. Es war fast schon eine Art Attraktion. Wir wurden noch nicht mal Huren genannt: Man nannte uns ‚Termine’ in termingebundenen Bordellen. Es gab zwei Arten: Frauen wie wir und Frauen, die auf der Straße waren. Wir gehörten zum oberen Ende und das Geld war dementsprechend gut.” Sie verdiente zwischen 85 und 95 Bolívares fuertes pro Nacht, was damals etwa 395 Euro entsprach—ein kleines Vermögen.
Nach einem Jahr als Sexarbeiterin lernte sie meinen Großvater, Joseph, kennen, der einer ihrer Stammkunden war. „Dein Opa liebte Prostituierte. Er kam mich dort jedes Wochenende besuchen”, erzählte mir meine Großmutter. „Er war ein sehr schüchterner Mann. Ich merkte, dass er nicht genug Selbstbewusstsein hatte, um Frauen anzusprechen, aber nichtsdestotrotz hatte er die Bedürfnisse eines Mannes.” Was sie mir dort sagte, überraschte mich total. Ich hatte meinen Großvater als sehr direkten, selbstsicheren französisch-venezolanischen Mann wahrgenommen. Ich schätze, er hat den Mangel an Selbstbewusstsein in seinem Liebesleben in anderen Bereichen kompensiert. Wenn man ein Kind ist, dann sieht man die Erwachsenen als eine Art Supermenschen—nicht als Menschen, die auch mal schwach, emotional oder unsicher sein können.
Es war, als würde ich eine Erleuchtung über meiner Familie haben—ich hatte nie in Betracht gezogen, dass meine Großeltern in ihrem Leben auch dunkle Kapitel durchgemacht hatten. Für mich waren sie die perfekten, makellosen Erwachsenen in meinem Umfeld, die nie irgendeine Art von Verletzung erlebt hatten. Meine Oma konnte meinen Schock und meine Ungläubigkeit in meiner Stimme hören. „Der Grund, warum dein Großvater keine Kinder mehr haben konnte, war der, dass er sich eine Menge Geschlechtskrankheiten eingefangen hatte und davon unfruchtbar wurde”, sagte sie. „Ich hatte vier Abtreibungen, weil Männer sich nicht an die Regeln gehalten haben—ich war bei sehr teuren Ärzten, die mir Abtreibungspillen und Kräuter gaben. Viele meiner Kolleginnen starben bei illegalen Abtreibungen—etwas, das ich nie tun würde. Da hätte ich noch eher das Kind bekommen.”
Mir kamen die Tränen. Meine Großmutter hatte in ihrem Leben unheimlich viele Probleme mit ihrer reproduktiven Gesundheit—eine Hysterektomie, Gebärmutterhalszysten und Fibrome. Jetzt verstand ich plötzlich, warum. Wir sprachen darüber, wie Prostituierte behandelt werden, die Gesundheitsprobleme bekommen, und wie die Ärzte dann behaupten, sie hätten „es sich selbst angetan”. Diese Patientinnen wurden oft aus dem Wartezimmer geworfen. Es überrascht natürlich wenig, dass die meisten dieser Ärzte Männer waren.
Für Oma hörte an dieser Stelle die systematische Unterdrückung nicht auf—auch Kunden misshandelten sie. Obwohl Prostitution legal war, tat die Regierung herzlich wenig, um sie zu überwachen. Polizisten sahen weg, wenn Frauen belästigt oder ausgebeutet wurden, weil sie einfach keinen Respekt vor ihnen hatten.
„Ich wurde sehr alt und abgestumpft, was Sex anging”, sagte Oma mir. „Ich hatte immer weniger Respekt vor Männern. Oft haben sie mich nicht richtig behandelt, weil sie mich nicht als eine normale, anständige Frau gesehen haben.”
Sie erzählte mir die Horrorgeschichten von den Misshandlungen, die ihr betrunkene Kunden antaten. Diese Männer spuckten sie an, schlugen sie und nannten sie puta (Spanisch für „Hure”). Andere verhöhnten sie, wenn sie die Straße entlanglief. „Ich bin immer professionell geblieben, aber diese dummen Männer haben mich misshandelt, weil sie sich für etwas Besseres hielten als mich. Aus ihrer Sicht war es keine geschäftliche Transaktion. Doch ich war klüger als sie alle. Ich habe sie für die Zartheit meines Körpers ihre wenigen Münzen blechen lassen.”
Doch trotz des Leids, das sie erfuhr, sagte sie, sie werde ihre Zeit als Prostituierte nie bereuen. „Ich schäme mich nicht dafür. Ich habe davon gut leben können. Ich habe einen guten Mann gefunden, der meinen Kindern einen Nachnamen gegeben hat. Dein Großvater hat sein Versprechen gehalten und mich hierher gebracht. Ich habe meine Familie gefunden.”
Während meiner Kindheit sah ich immer zu meiner Oma auf. Sie hatte immer in meinem Elternhaus gelebt, also kannte ich sie wie ein direktes Familienmitglied und nicht wie eine Verwandte, die in einer anderen Stadt wohnt. Was ich an meiner Großmutter schon immer bemerkenswert fand, war ihre Fähigkeit, die Ruhe zu bewahren, ganz gleich, was passierte. Wann immer meine Eltern sich stritten, kam sie einfach ins Zimmer, sagte ihnen, sie sollten „sich beruhigen”, und verließ den Raum wieder, als sei nichts gewesen. Wenn jemand sie beim Autofahren schnitt, verdrehte sie nur die Augen, als habe sie Mitleid mit den Leuten, weil sie so unfähig waren. Ihre Konfliktbewältigungsstrategie war das Gegenteil von meiner. Ich weinte, bekam Panikattacken und erhob die Stimme. Ich wollte komplett ruhig bleiben können wie sie.
Dieselbe Stabilität war es, die meinen Großvater von ihr überzeugte. Als ihr Kunde besuchte er sie an mindestens zwei Abenden die Woche, was laut ihrer Aussage eine Seltenheit darstellte. Meist bedeutete „Stammkunde”, dass einer ein- oder zweimal im Monat zu ihr kam. Sie wusste, dass er sich in sie verliebte, weil er nicht nur anfing, sehr viel Trinkgeld zu geben (was ebenfalls sehr selten war), sondern er auch anfing, ihr Fragen über ihr Privatleben, über ihre Interessen und Ambitionen und über ihre Familie zu stellen. Ich fragte sie, ob sie sich davon bedroht gefühlt habe oder ob er aufdringlich gewesen sei, doch sie sagte nur: „Wir waren dabei, uns zu verlieben.”
Sie trafen sich regelmäßig heimlich außerhalb des Bordells, denn das war strengstens verboten. Sie lernten einander im Laufe der kommenden sechs Monaten kennen und dann machte Opa ihr einen Heiratsantrag. Meine Oma wusste, dass er zumindest wohlhabend genug war, um sich Prostituierte zu leisten, doch sie gab zu, sie habe sich Sorgen ums Geld gemacht. Immerhin hatte sie zwei kleine Kinder zu ernähren, und er war nicht der Vater. Überraschend gab er nach der Hochzeit den beiden Söhnen seinen Namen und kümmerte sich um sie. Nach der Geburt meiner Mutter verließen sie zusammen Caracas und ließen sich in Miami nieder.
Ich fragte mich, wie viele Leute in meiner Familie von ihrer Vergangenheit wussten—immerhin war das Ganze bei meinem Vater angekommen und die Familie meiner Mutter stand ihm nie besonders nahe. Als ich sie fragte, ob sie es jemandem gesagt habe, sagte sie einfach „Nein”. Meine Mutter erzählte mir später, es habe in der Familie Gerüchte gegeben, doch die seien einfach unter den Teppich gekehrt worden. Wenn die Wahrheit ans Licht gekommen wäre, dann hätte die Familie meiner Oma sie wahrscheinlich verstoßen.
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Als ich noch jünger war, sagte mir meine Oma, ich müsse eine Dame sein, aber eine, die schlauer ist als alle Jungs in ihrem Umfeld. Jetzt weiß ich auch wieso: Sie war selbst eine solche Frau. „Ich habe mich als Sexarbeiterin und Frau so gefühlt, als hätte ich die Kontrolle”, sagte sie. „Ich konnte mit der Situation klarkommen und sie so beeinflussen, dass ich etwas davon hatte.”
Gegen Ende unseres Telefonats dachte ich viel an die Haltung meines Vaters an jenem Abend, als er es mir erzählte. Er schien sich vor gewissen Wörtern zu fürchten, als wäre er besorgt, mir könne etwas daran gefallen. Er wollte es nicht einmal Prostitution nennen, er sagte stattdessen nur „was sie getan hat”. Sein offensichtlicher Mangel an Respekt vor meiner Großmutter hatte bei mir die entgegengesetzte Wirkung—ich respektierte ihn dafür nicht.
Meine Oma ist immer noch die beste Frau, die ich kenne, und ihr Lebensweg hat sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Sie ist 82 Jahre alt und lebt nun weit entfernt von den Bordellen von Caracas. „Wenn Männer das Recht haben, für Sex zu bezahlen, ohne dass man sie dafür verurteilt“, sagte sie, „dann haben Frauen auch das Recht, Sex zum Beruf zu machen. Dazu stehe ich, bis ich sterbe.”