„ERF-Team, versammelt euch, Block Tango!” Ich schenkte dem keine Aufmerksamkeit, weil ich keine Ahnung hatte, was „ERF” war. Als wir hier angekommen waren, erhielten wir eine kurze Schulung, aber da ich dieses Wissen in den ersten Monaten nicht anwenden musste, hatte ich so gut wie alles vergessen.
„Holdbrooks! Beweg deinen Arsch rüber zu Block Tango! Wir haben einen ERF!”, schrie mich der meinem Block zugeordnete Sergeant an. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also rannte ich aus meinem Block heraus zum Schleusenbereich. Eine Gruppe von Soldaten legte gerade ihre Schutzausrüstung an und da erinnerte ich mich daran, was ein ERF war. [„ERF” steht für „Emergency Extraction Force” und die Insassen von Guantánamo haben diese Bezeichnung in ein Verb umgewandelt. Im Grunde genommen geht es darum, dass eine Gruppe Wärter in Schutzausrüstung eine Zelle betritt und Gefangene mit Gewalt festhält, häufig damit sie zwangsernährt werden können. Es sieht so ähnlich aus wie das hier.] Ich wollte nicht an dieser brutalen Aktion teilnehmen, aber mir war von Anfang an klar gewesen, dass die Army meine Weltanschauung nicht begrüßen würde.
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Sich Verpflichten
Als die Nachwehen vom 11. September begannen, entschied ich, mich freiwillig zu verpflichten. Es ging mir dabei allerdings nicht um diese Angriffe. Im Gegensatz zu vielen anderen war es in meinem Fall kein Rachegefühl, das meine Entscheidung beeinflusste. Ich glaubte, dass mein Leben durch die Ausbildung bei der Army eine Richtung bekommen würde und ich meiner Familie Ehre machen könnte. Mir wurde kein Sinn für Struktur oder Ordnung anerzogen, trotzdem verspürte ich meinem Land gegenüber ein Pflichtgefühl und hatte das Bedürfnis, es zu einem besseren Ort zu machen. Ich war auf der Suche nach Orientierung und persönlicher Entwicklung, deswegen kam es mir sinnvoll vor, mich freiwillig zu verpflichten. In einem Versuch, „das Beste aus mir herauszuholen“, schrieb ich mich bei der Armee ein.
Ich trat der Militärpolizei bei und wurde als Wärter in Guantánamo Bay eingesetzt. Als Teil unserer zweiwöchigen Schulung nahm man uns mit zu Ground Zero. Dort hatte jemand „Das ist die größte Tragödie, die der Menschheit je widerfahren ist” an die Wand gekritzelt. Ich kicherte und sagte zu denen, die um mich herum standen, dass das doch vielleicht etwas zu weit ginge. Mein vergeblicher Versuch, dieser sorglos fallengelassenen Bemerkung etwas gesunden Menschenverstand folgen zu lassen, erntete ausdruckslose, verärgerte Blicke, Ermahnungen und eine Frage nach meiner Loyalität. „Denk immer daran, dass das keine Menschen sind! Das sind hasserfüllte, bösartige Kleinbauer-Terroristen, die nichts davon abbringen kann, dich umzubringen! VERGISS DAS NIE! VERGISS DEN 11. SEPTEMBER NIEMALS!”, wurde mir entgegengeschleudert.
In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es während meiner Zeit bei der Armee nicht darum gehen würde, eine besserer Amerikaner zu sein und das Leben meiner Mitbürger zu verbessern. Es würde darum gehen, einen Krieg mit fremden Menschen auf der anderen Seite des Ozeans zu führen. Unsere Aufgabe würde es sein, uns für 9/11 zu rächen.
In Guantánamo wurden wir konstant mit einer Nachricht bombardiert: Rache. Während des Frühstücks wurde der wuchtige Kernteil des Soundtracks zu Terminator 2 gespielt. Das erste Mal, als ich ihn hörte, stellten sich mir die Nackenhaare auf und mein Puls schnellte in die Höhe. Ich fühlte, wie das Adrenalin durch mich hindurchströmte, als würde ich mir gerade den Trailer zu einem Filmepos ansehen. Als das nächste Lied gespielt wurde, schauten sich die Soldaten um und grinsten sich an: Durch die Lautsprecher an der Decke in den Ecken des Raums schoss ein mordlüstener Schrei. Das war der Anfang von „Bodies”, einem Lied der Nu-Metal-Band Drowning Pool. Er wurde laut zu einem Armeevideo mit F-14-Kampfflugzeugen, Explosionen, Bildern von Gefangenen mit Säcken über ihren Köpfen und Flugzeugträgern voller Flugzeuge, die ihre Überlegenheit zur Schau stellten, gespielt.
Das alles, während wir in unserem Rührei herumstocherten.
In unregelmäßigen Abständen wurde eine Nachricht in dieses „Werbevideo” eingeblendet. Sie richtete sich an die Taliban in Afghanistan: „Die US-Streitkräfte werden euch finden und euch töten, wenn ihr euch nicht ergebt. Wir werden euch töten, euch bombardieren und euch finden, egal, wo ihr euch versteckt.”
Pfirsichpastete und Waffeln blieben unangetastet, während ich meinen Kollegen von der Militärpolizei dabei zusah, wie sie auf die Tische sprangen, ihre Stühle über ihren Köpfen hielten und zum Refrain „Let the bodies hit the floor” headbangten. Dieses Video wurde uns jeden Morgen vorgespielt. Es sollte uns daran erinnern, dass es hier keine Regeln gab, und die Rachegelüste der Soldaten anheizen.
Ein „Richtiger Amerikaner” sein
Als ich mich auf mein erstes ERF vorbereitete, gab genau diese Rachestimmung den Ton an. Wir versammelten uns im Block vor der Zelle des Gefangenen. Er hatte sich ein Handtuch um das Gesicht geschlungen und nahm uns gegenüber eine aggressive Haltung ein. Genau wie all die anderen Gefangenen in den umgebenden Zellen, schrie er wütend. Es war ein furchtbares Chaos. Es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Wir mussten handeln. Ich sah zum Block Sergeant herüber. Er hielt sich bereit, wie auch die Wärter von Block Tango.
Der Camp Officer sprach mit dem Gefangenen, der schrie und darüber klagte, was ihm während des Verhörs angetan worden war. Er sagte, dass er das nicht länger hinnehmen würde. Was während der Befragung passiert war, hatte einen Aufstand im Block verursacht. Der Camp Officer erklärte ihm, dass man Pfefferspray einsetzen würde, wenn er sich nicht beruhigte. Der Gefangene beruhigte sich nicht.
Laut Vorschrift müssen die Wärter dem Gefangenen das Pfefferspray in einer schnellen Z-Bewegung über das Gesicht sprühen, gerade genug, um den Gefangenen zu schwächen und ihn gefügig zu machen. Der Camp Officer entleerte fast die halbe Spraydose auf dem Gesicht des Gefangenen, seiner Kleidung, seinem Koran und seiner Zelle. Er wartete 30 Sekunden, damit das Spray seine Wirkung entfalten konnte, warf die Zellentür auf und ließ uns fünf Wärter in Schutzausrüstung in die Zelle stürmen.
Wir fesselten den Gefangenen mit Kabelbindern aus Plastik. Die anderen Soldaten verdrehten ihm die Arme so sehr, dass sie sie ihm wahrscheinlich auskugelten. Sie drückten sein Gesicht in die Toilettenschüssel, traten ihm auf Hände und Füße und benutzen seinen Schädel, um uns die Tür zu öffnen, als wir die Zelle wieder verließen. Immer, wenn wir Gefangene so traktierten, schlugen und traten, riefen die Soldaten patriotische Racheerklärungen: „Der hier ist für Amerika!”
Als der Staff Sergeant von meiner Beteiligung hörte, klopfte er mir auf den Rücken und sagte: „Gut gemacht, Holdbrooks. Ich hatte Zweifel an dir, aber du hast dich gut geschlagen.” Der Sergeant kommentierte einen Bericht aus zweiter Hand, aber er hätte sich genauso gut die Aufzeichnung des ERF ansehen können. Das militärische Protokoll in Guantánamo sah vor, dass jedes ERF aufgezeichnet werden musste—für den Fall, dass wir verklagt oder Zweifel an unseren Methoden aufkommen würden. Das geschah aber meistens nur zum Schein, denn der Soldat, der Filmen sollte, vergaß ständig rein zufällig, die Objektivabdeckung abzunehmen, den Akku zu laden, auf „Start” zu drücken oder einen Film einzulegen.
Mein eigener Adrenalinrausch machte mir Angst. Mich erschreckte auch, dass ich mich an der Misshandlung des Gefangenen beteiligt hatte und wie enthusiastisch die anderen Soldaten dabei waren. Einer meiner Vorgesetzten wandte sich mir anschließend zu und sagte: „Holdbrooks, eigentlich wollten wir dich in einen orangen Overall stecken und dich hier mit deinen Kameltreiber-Kumpeln verrotten lassen, aber ich habe mich wohl in dir geirrt. Du bist ja doch ein richtiger Amerikaner.” Die Anderen äußerten sich ähnlich.
BEKEHRUNG
Viele Soldaten in Guantánamo hielten die Gefangenen für „hasserfüllte, bösartige Kleinbauer-Terroristen”. Es gab keine Anleitung zum Umgang mit der Kultur des Nahen Ostens oder dem Islam. Uns wurde nichts über die Personen gesagt, die wir bewachen sollten, nichts über ihre Kultur oder ihre Bräuche. In der ersten Nacht, die ich im Gefängnis verbrachte, hörte ich auch das erste Mal den adhān: den islamischen Aufruf zum Gebet.
Für diejenigen, die über Guantánamo herrschten, war der Islam hässlich und der adhān wurde mit Absicht übertrieben und verzerrt, sodass er völlig verstümmelt durch die Lautsprecher drang. Die US Army wollte den Anschein erwecken, dass sie Rücksicht auf die gläubigen Muslime nahm, obwohl sie sich in Wirklichkeit über den Islam lustig machte. Es war dasselbe mit dem Halal-Fleisch. Der verzerrte Ruf entfaltete die gewünschte Wirkung auf die Soldaten, die ihn ätzend und aggressiv fanden, genauso wie die drückende Hitze. Die ganze Nacht lang drehte ich mich im Bett von einer Seite auf die andere und hörte dabei die mysteriösen arabischen „Gesänge”. Sie schallten völlig verzerrt durch die Lautsprecher und irritierten die anderen. In meiner Seele aber berührten sie etwas, einen Ort, der nach mir rief.
Die Gefangenen waren keine „Turbanträger” und „Kleinbauern” wie ich gedacht hatte, sie waren gebildete und höfliche Menschen, die häufig mehrerer Sprachen mächtig waren. Mit der Zeit sprach ich immer häufiger mit den Gefangenen, besonders mit Ahmed Errachidi, der den Beinamen „der General” hatte. Je mehr ich über den Islam erfuhr, desto mehr Verständnis hatte ich. Es waren nicht die Gefangenen, die mich unter Druck setzten: Der Wunsch, zum Islam überzutreten, entsprang meinem eigenen Herzen.
Ich war nicht in einer Gefängniszelle eingesperrt, ich hatte alle Freiheiten und doch ging es mir schlecht. Mit ihrem lebendigen Glauben waren die Gefangenen glücklicher als ich. Sie hatten nichts und doch waren sie glücklich. Ihre Religion hielt sie zusammen. Ich wünschte mir den gleichen inneren Frieden, den sie zu haben schienen.
Der General gab mir seine Ausgabe des Koran. Diese Großzügigkeit beeindruckte mich tief. Ich las das Buch in drei Nächten durch. Von Anfang bis Ende machte es Sinn. In meinen Augen war dieses Buch frei von Widersprüchen. Es enthielt auch kein magisches Denken. Es war eine einfache Gebrauchsanweisung für das Leben. Später, nachdem ich schon zum Islam übergetreten war und draußen in der zivilen Welt versuchte, die Erinnerungen an Guantánamo in Alkohol zu ertränken, wurde mir klar, dass ich am glücklichsten gewesen war, als ich als guter Muslim in Guantánamo gelebt hatte.
Die Antwort auf die Frage, die ich mir gestellt hatte, wurde mir nun klar. Sie war der Grund, warum ich in Guantánamo gelandet war. Mein Bedürfnis nach Orientierung war unübersehbar. Obwohl ich mein ganzes Leben lang die Bedeutung von Religion ins Lächerliche gezogen hatte, war die Wahrheit, dass ich Religion brauchte.
Akzeptanz
Ich hatte bereits damit angefangen, islamische Bräuche in mein Leben zu integrieren. Mit jeder Veränderung wurde mein Leben besser, mit jeder Tür, die ich schloss, öffneten sich viele andere. Ich war klarer im Kopf, ich verbrachte meine Zeit sinnvoller und meine Gemütslage besserte sich. Diese kleinsten Veränderungen hatten mir gezeigt, dass ich Muslim sein musste, dass es das war, was ich brauchte. Ich hatte eine Mission.
Eines Nachts suchte ich den General auf und sagte ihm, schon zum zweiten Mal, dass ich den Islam annehmen wolle. Als ich es das erste Mal erwähnt hatte, hatte er abgelehnt. Aber dieses Mal unterhielten wir uns stundenlang.
„Hör zu, Bruder”, sagte er. „Begreifst du all die Dinge, die dein Leben verändern werden, wenn du dich dazu entschließt? Du wirst nicht mehr trinken dürfen, du wirst nicht mehr rauchen dürfen, kein Schweinefleisch mehr essen dürfen, du wirst außerhalb der Ehe keinen Sex mehr haben oder dir keine Pornografie ansehen dürfen. Du wirst Arabisch lernen müssen. Du wirst fünfmal am Tag beten müssen. Du wirst diese Religion lernen müssen und sie wird dein komplettes Leben bestimmen, wenn du dich wirklich dem Willen Allahs unterwerfen willst. Deine Einheit wird anders mit dir umgehen. Vielleicht endest du in einer dieser Zellen. Deine Familie wird anders mit dir umgehen. Deine Freunde werden anders mit dir umgehen. Deine Leben wird sehr viel schwerer werden.
Er sprach weiter, sprach mit mir über Gebet und Wohltätigkeit und das Einhalten des Ramadan. „Wenn du dir sicher bist, dann bringe ich dir die Shahaadah bei und du wirst zum Muslim. Aber dann gibt es kein zurück. Wenn du Allah einmal in dein Herz gelassen hast, wenn du dich seinem Willen unterworfen hast, dann wirst du verdammt, wenn du Ihn verlässt. Verstehst du das?”
Ich bejahte und nahm dort, kurz nach Mitternacht, vor der Zelle des Generals mit seinem Zellennachbarn als Zeugen den Islam an. Die anderen Soldaten machten mir eine Zeit lang das Leben schwer, doch die schlimmsten Mitglieder „des Regimes”, die Gruppe von Wärtern, die das ERF liebten, wurde für die zweite Hälfte meines einen Jahres in Guantánamo auf weniger wichtige Posten versetzt.
Ein Jahr als Wärter in Guantánamo verändert dich. Es wäre schön, wenn man glauben könnte, dass die verstörenden Geschichten, die man über Orte wie diesen hört, nicht wahr sind. Es wäre auch schön, wenn man glauben könnte, dass Amerika die Folter oder Misshandlung seiner Kriegsgefangenen nicht duldet. Es wäre schön, wenn man glauben könnte, dass Amerika die Erniedrigung seiner Gefangenen zum Einholen von Informationen nicht hinnimmt. Das Leben, besonders an Orten wie Guantánamo, ist aber im allgemeinen nicht besonders einfach.
Jahrelang war es mir nicht möglich, mit dem abzuschließen, was ich im Gefängnis gesehen, was ich getan hatte oder nicht hatte tun können. Meine Zeit dort ging einfach zu Ende. Dann saß ich im Flugzeug nach Hause. Ich wurde von Alpträumen geplagt und fing wieder an zu trinken. Meine Ehe, die ich geschlossen hatte, bevor ich nach Guantánamo aufgebrochen war, lag bald in Trümmern.
In Guantánamo hätte es mich alles gekostet, wenn ich mich für das eingesetzt hätte, was ich für richtig hielt: meine Karriere, meine finanzielle Sicherheit und was mir sonst noch etwas wert war. Ich bin kein Held. Ich bin auch keine Patriot. Ich bin ein Feigling. Ein Held hätte gesagt: „Es reicht!” Ein Patriot hätte gesagt: „Das ist verwerflich und ihr wisst das alle ganz genau!” Ein Feigling macht einfach weiter mit dem Programm.
Wenn alle ihren Hass zu Hause gelassen hätten, hätte Guantánamo einfach werden können. Es gab Sandstrände, man konnte tauchen gehen, Paintball spielen. Wir hatten ein Kino und einen Skatepark. Doch viele von uns betranken sich einfach nur und ertranken in ihrem Hass.
Ich bereue sehr, an dem beteiligt gewesen zu sein, was in Guantánamo geschah. Ich schäme mich auch für all die Geheimgefängnisse, in denen Amerika unschuldige Menschen festhält. Ich fühle mich persönlich verantwortlich dafür, wie die Welt Amerika jetzt sieht. Ich möchte den Menschen sagen, dass nicht alle Amerikaner schwarze Schafe sind. Ich verstehe nicht, wie und warum zugelassen werden kann, dass die Misshandlungen und Gräueltaten, deren Zeuge ich in Guantánamo wurde, überhaupt geschehen können. Ich verstehe auch nicht, was mit der Menschlichkeit der Soldaten geschehen ist.