Menschen erzählen, wie sie fast gestorben wären

Extremsportler, unbekümmerte Mischkonsum-Gourmets und Graffiti-Sprayer haben eines gemeinsam: Sie sind tolle Smalltalkpartner. Denn wer sich öfter mal in Lebensgefahr begibt, hat meist gute Geschichten zu erzählen.

Machen wir den Test. Ohne Sicherung auf die Spitze eines Wolkenkratzers klettern: dumm, aber interessant. Einfach mal die Pillen probieren, die irgendwer auf der Fusion gefunden hat: verantwortungslos, aber spannend. Für ein Kaffeekränzchen auf das Dach einer fahrenden S-Bahn steigen: Warum zur Hölle? Leute, die verrückte Dinge tun, wecken unsere Neugier, ganz egal, was wir von den Aktionen halten.

Videos by VICE

Aber wie ist es eigentlich, völlig unabsichtlich in eine lebensgefährliche Situation zu geraten und da nur knapp wieder rauszukommen? Fünf Leute erzählen, warum sie zweimal im Jahr einen Grund haben, Geburtstag zu feiern.

Tobias, 31 – wäre beinahe ertrunken

Tobias kann sich an Stränden mittlerweile wieder entspannen | Foto: Privat

Ich war 2008 mit meiner damaligen Freundin in Thailand. Wir hatten uns bei der Zeitumstellung vertan und die Uhr nur vier anstatt fünf Stunden nach vorne gestellt. Ein ziemlich blöder Fehler, wie wir später merkten. Bangkok war uns zu stressig, also sind wir in den Süden und mit dem Boot auf eine Insel gefahren. Von dort aus sollte es mit einem anderen Boot, das in der nächsten Bucht lag, weitergehen. Die Bucht konnten wir von unserem Hostel aus sehen, Luftlinie 300 Meter. Wir beschlossen, um den großen Felsen herumzulaufen, der zwischen uns und der nächsten Bucht lag. Das Barpersonal meinte, dass die Flut um 9 Uhr kommt. Also sind wir ganz entspannt um 8 Uhr losgelaufen. Mit unseren unfassbar schweren Rucksäcken und den falsch gestellten Uhren.

Schon als wir losliefen, kam langsam die Flut. Aber wir dachten, wir hätten noch Zeit. Als wir die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, stand mir das Wasser schon bis zur Hüfte. Ich bin andauernd auf den glitschigen Felsen ausgerutscht und habe mir die Hände und den Kopf aufgeschlagen. Mein Gesicht war blutverschmiert, ich selbst habe das nicht gemerkt. Meine Freundin war eineinhalb Köpfe kleiner als ich und bevor wir richtig verstanden, was passiert, stand ihr das Wasser schon bis zur Brust.

Die Rucksäcke waren eh nass, also haben wir versucht, sie vor uns hertreiben zu lassen. So langsam bekam ich Panik. Wir waren ziemlich weit vom Strand entfernt. Ich bin ein bisschen vorgeschwommen und habe sie aus den Augen verloren, die Wellen haben mich immer wieder gegen die scharfen Felsen geworfen. Irgendwann kam ich am Strand an, keine Ahnung wie. Mein ganzer Körper war zerschunden. Ich dachte schon, meine Freundin wäre gestorben, aber dann hat sie es doch geschafft. Ich war die ganze Zeit voller Adrenalin und habe wie ein Wahnsinniger versucht, da wegzukommen. Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, dass das wirklich lebensgefährlich war.

Amelie, 29 – überlebte einen Autounfall

Amelie war nicht angeschnallt – zum Glück | Foto: Privat

Ich war mit Freunden im Auto unterwegs. Der Fahrer war angetrunken, aber das habe ich mit meinen 14 Jahren damals nicht so richtig gemerkt. Seine Freundin saß neben ihm, neben mir mein damaliger Freund. Sie wollten mich gerade nach Hause fahren und auf der Hälfte des Weges dachte ich: Wie krass, wenn wir jetzt einen Autounfall hätten – ich bin gar nicht angeschnallt. Ich habe es dann trotzdem nicht gemacht. Einen Kilometer vor dem Haus meiner Eltern bogen wir mit knapp 90 km/h in eine Kurve. Wir gerieten mit den Hinterreifen auf den Seitenstreifen, schossen plötzlich nach links auf eine Hauswand zu. Der Fahrer riss das Lenkrad nach rechts und wir rasten mit voller Geschwindigkeit in einen Graben.

Das Auto hat sich mehrmals überschlagen. Plötzlich lief alles in Zeitlupe ab, wie in einem Film. Ich habe über so viele Dinge nachgedacht, obwohl wahrscheinlich nur Sekunden vergingen. Mein Kopf ist überall gegengeschlagen, aber ich musste nur an meine Mutter denken. Scheiße, das kann ich ihr nicht antun, jetzt sterbe ich hier so kurz vor meinem Zuhause. Und meine Mama muss das dann jeden Tag auf ihrem Arbeitsweg sehen. Irgendwann blieben wir auf dem Dach liegen. Gott sei Dank war ich nicht angeschnallt. Ich saß hinten rechts, aber wurde beim Überschlag nach links geschleudert. Die Stelle an der ich ursprünglich saß, war weg. Natürlich schnalle ich mich heute trotzdem an, weil ich einfach nur Glück hatte. Durch den Unfall weiß ich, dass ich in so einer krassen Situation trotzdem gut funktioniere. Die anderen haben nur geschrien oder standen unter Schock. Ich bin einfach los, um Hilfe zu holen. Ganz automatisch.

Ich wäre insgesamt noch zweimal fast gestorben. Einmal hatte ich einen allergischen Schock und der Notarzt wusste nicht, was zu tun ist. Ein anderes Mal hatte ich innere Blutungen und musste notoperiert werden. Aber auch das habe ich überstanden.

Sara, 28 – schnitt sich aus Versehen die Pulsader auf

Sara (links) und ihre kleine Schwester | Foto: Privat

Als ich fünf Jahre alt war, wollte ich meiner kleinen Schwester die Hühner im Stall meiner Großeltern in einem Brandenburger Dorf zeigen. Mein Opa hatte eine dünne Glasscheibe in die Holzwand eingesetzt, damit die Tiere ein bisschen Sonnenlicht abbekamen. Ich nahm meine zweieinhalb Jahre alte Schwester an der Hand, führte sie zu dem kleinen Fenster und klopfte zaghaft an. Ich hoffte, die Hühner würden uns hören und zur Scheibe kommen. Als sie nicht kamen, klopfte ich lauter und lauter. Beim dritten oder vierten Klopfen brach meine kleine Faust durch das Glas, die Scherben schnitten mir ins Handgelenk – eine Spitze öffnete über mehrere Zentimeter meine Pulsschlagader.

Leider war ich ein Kind, das um keinen Preis Ärger machen wollte. Anstatt schreiend zu meinen Eltern und Großeltern zu rennen, schwor ich meine Schwester ein, ihnen nichts davon zu erzählen. Ich verbarg die Hand hinter meinem Rücken, klemmte die Wunde mit den Fingern meiner linken Hand zu und schlich möglichst unauffällig über den Hof. Das klappte so lange, bis mein Großvater eine Blutspur hinter mir entdeckte. Daraufhin wurde ich sofort in den Familien-Trabbi geladen und wir bretterten 45 Kilometer über Landstraßen ins nächste Krankenhaus. Wo ich ohne Narkose genäht werden musste, weil ich bereits zu viel Blut verloren hatte. Mehrere Krankenschwestern hielten meine Arme fest, mein Vater kniete auf meinem Brustkorb, ein Arzt säuberte die Wunde und rammte mir immer wieder Nadel und Faden in den Arm. War in dem Moment scheiße, hat mir wohl aber das Leben gerettet. Bis heute habe ich eine halbwegs spektakuläre Narbe – und eine Geschichte, die auf Partys immer gut ankommt.


Auch bei VICE: Fake-Beerdigungen in Südkorea


Roland, 56 – trat auf einen der giftigsten Fische der Welt

Ich war damals etwa 21 Jahre alt, hatte gerade meine Lehre beendet und fuhr mit meinen Freunden in den Surfurlaub nach Kenia. In unserer ersten Woche trat ein Einheimischer auf einen Steinfisch und starb nach 15 Minuten. Vorher hatte ich noch nie von diesem Fisch gehört, der anscheinend zu den giftigsten Tieren weltweit gehört. Am selben Abend haben wir an der Bar einen Schweizer Arzt kennengelernt, der in Kenia war, um ein Heilmittel gegen das Gift des Fisches zu finden. Sein Labor war in einem kleinen Bungalow am Strand, eine Lizenz für seine Forschung besaß er nicht.

An einem Morgen war ich alleine mit einem Einheimischen surfen. Als wir schon ziemlich weit im offenen Meer waren, riefen uns die Leute am Strand zu, wir sollen von den Brettern runter und zum Strand. Ich bin dann von meinem runtergesprungen und spürte schlagartig einen sehr starken Schmerz. Der Einheimische neben mir hatte den Steinfisch gerade noch wegschwimmen sehen und schrie schon “Stone fish!” in Richtung Küste. Ich dachte, dass ich jetzt sterben würde. Der Schmerz war unerträglich und ich resignierte: Es wäre sowieso vorbei mit mir, wenn ich nicht innerhalb von 15 Minuten eine Spritze bekomme. Mein Glück war aber, dass ich ein Surfbrett dabei hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Der Einheimische hat mir geholfen, alleine hätte ich es wahrscheinlich nicht mehr geschafft. Die meisten Leute ertrinken wenn sie von einem Steinfisch gestochen werden, weil der Schmerz so schlimm ist und sie deswegen in Ohnmacht fallen.

Am Strand wartete der Schweizer Arzt schon mit der ersten Spritze auf mich und meine Freunde trugen mich in seinen Bungalow. Als wir dort ankamen, waren meine Zehen nicht mehr zu erkennen, mein Fuß war auf die Größe einer Wassermelone angeschwollen. Um die Schmerzen zu lindern, steckten sie meinen Fuß in einen Kübel voller Eis. Mein Körper fühlte sich an, als würde ich innerlich verbrennen. Der Fisch hatte durch meine Turnschuhe dreimal in den Fuß gestochen. Wäre ich barfuß gewesen oder hätte Surfschuhe getragen, hätte ich das Ganze wahrscheinlich nicht überlebt.

Ich konnte auf die Leute runterschauen, die hektisch um mich herumrannten. Ich hatte meinen Körper verlassen. Es fühlte sich so an, als wäre ich in Trance. Ich war ruhig und entspannt – abgesehen von den Schmerzen, die ich immer noch spürte. Im Licht sah ich dann eine Hand, die mir winkte. Irgendwie wusste ich, dass ich sterben würde, wenn ich nach der Hand greife. Im letzten Moment dachte ich mir dann, dass ich das meinen Freunden und meiner Familie nicht antun kann, dass sie mich in einem Sarg nach Hause bringen müssen.

Nach dieser Entscheidung platzte die Blase und ich lag wieder auf dem Tisch – in meinem Körper. Trotzdem war ich wohl die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein. Das war auch wichtig, denn ich musste dem Arzt sagen, wo es gerade wehtut. Die Schmerzen wandern nämlich vom Fuss hoch in den Körper. Wenn sie etwa auf Höhe des Knies sind, muss man das Gegengift gar nicht mehr spritzen: Dann ist es eh zu spät.

Ich bekam ganze fünf Spritzen, aber das war besser als die Alternative. Da noch kein offizielles Gegengift existierte, war die gängige Methode, um das Gift zu bekämpfen, den Fuß in kochendes Wasser zu halten. Das Mittel, das mir der Arzt gegeben hatte, war noch ungetestet und er selbst wusste auch nicht, ob es funktionieren würde. Ich weiß bis heute nicht, ob er es tatsächlich geschafft hat, ein Gegenmittel für das Gift des Steinfisches zu entwickeln. Aber mein Leben hat er gerettet.

Henri, 30 – rannte betrunken über Gleise

Vor knapp zehn Jahren war ich mit ein paar Freunden auf dem Kölner Karneval. Als die Kneipen irgendwann alle zugemacht hatten, wollten wir den Zug zurück nach Bonn nehmen, waren aber so betrunken, dass wir in den falschen Zug stiegen. Nach ein paar Stationen kam dann auch noch ein Kontrolleur, und weil wir keine Tickets hatten, warf er uns am nächsten Provinz-Bahnhof raus.

Als wir so in der Morgensonne auf dem verschlafenen Bahnsteig herumstanden, kam plötzlich ein Zug aus der Gegenrichtung angefahren. Ich rief laut “Das ist unserer!” und sprang auf die Gleise, um noch vor dem Zug auf die andere Seite zu kommen. Das hätte auch locker geklappt, wenn der Zug (wie ich mir das gedacht hatte) langsamer geworden wäre, um im Bahnhof zu halten.

Offenbar war das aber nicht geplant und der Zug raste mit voller Geschwindigkeit durch den Bahnhof. Ich hatte es gerade noch geschafft, an die Bahnsteigkante auf der anderen Seite zu springen, wo ich mich mit beiden Händen abstützte, während der Zug mit brutaler Geschwindigkeit und einem gellenden Warnpfiff an meinem Arsch vorbei ballerte.

Meine Freunde hatten alles mit Entsetzen gesehen und waren überzeugt, dass ich gründlich zermalmt worden war. Als ich ihnen von der anderen Seite fröhlich zuwinkte, freuten sie sich nicht, sondern schrien mich an, was für ein wahnsinniger Idiot ich sei. Was soll ich sagen? Sie hatten recht. Dankbarerweise hat meine Mutter nie davon erfahren: Sie würde mir noch heute auf der Stelle den Kopf abreißen.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.