Tech

Auf der Pirsch mit den Ü50-Gamern, die immer noch Pokémon jagen

Schmierige Teenager, im Keller bloß vom Monitorlicht gesonnt, während sie sich in Softdrinks und Chips suhlen – das Klischee vom Gamer wird immer unhaltbarer. Aktuelle Studien zeichnen ein ganz anderes Bild: Die durchschnittlichen Gamer, sie werden immer älter. Besonders sichtbar macht das Pokémon Go!. Das Spiel hat im Sommer 2016 weltweit über 130 Millionen Menschen dazu gebracht, Pokémon zu fangen. Nicht vor der Spielkonsole, sondern im Freien. Durch das Augmented Reality-Prinzip wurde die ganze Welt zum Spielplatz – und Gamer sichtbar gemacht.

Mittlerweile ist der große Hype vorbei und die Spielerzahl hat sich halbiert. Aber 65 Millionen? Das ist immer noch riesig. Bei einer solchen Menge kommen die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Das führt vor allem die Safari Zone vor. So heißen die offiziellen Veranstaltungen von den Entwicklern des Spiels, Niantic. Hier gibt es für kurze Zeit besonders seltene Pokémon zu fangen. Ein virtuelles, zeitlich begrenztes Jagdgebiet, sozusagen. Das erste und einzige solche Event in dieser Größenordnung in Deutschland fand am letzten Juniwochenende in Dortmund statt. Hotels und AirBnB-Zimmer: Komplett ausgebucht.

Videos by VICE

Die Diversität der Spielerschaft wird vor allem in Safari Zonen deutlich. Auffällig vor allem: Viele Pokémon-Fans sind inzwischen weit über 50 Jahre alt. Unhaltbar ist also auch das Klischee, dass bloß jüngere Menschen sich intensiv mit Spielen beschäftigen. Wir haben auf dem Event die Silver Gamer von Pokémon Go! begleitet und festgestellt: Gaming ist keine Frage des Alters.

Heidi: Am Anfang war die Skepsis

Foto der 53-jährigen Pokémon-Spielerin Heidi.
Heidi ist 53, kommt aus Wermelskirchen, ist Büroangestellte und hat Level 37 erreicht | Foto: Motherboard | Michael Cherdchupan

“Ich habe eigentlich noch nie so’n Smartphone benutzt”, erzählt uns Heidi. Wir treffen die 53-jährige Büroangestellte aus Wermelskirchen an einem Café in der Safari Zone. Als Gamerin hat sie sich lange Zeit nicht gesehen und mit Computern hatte sie auch nicht so viel zu tun. “So Computer, das ist für mich ein böhmisches Dorf. Hab’ nie davor gesessen”, sagt Heidi. Eigentlich ist sie gelernte Krankenschwester, doch als sie den Beruf wechseln musste, bekam sie von Pokémon Go! unerwartet Hilfe. “Mein Sohn hat mir das Spiel installiert und gesagt: ‘Mach mal!’” Die vielen Feinheiten über die Monsterjagd, das Aufleveln und die vielen Items hat sie erst einmal nicht verstanden. “Dann wurde mir irgendwann klar: Das ist ja wie eine Schatzsuche! Und da hat es mich gepackt. Und erst durchs Spielen habe ich so langsam auch gelernt, mit Technik umzugehen.”

“Ich jage auf dem Weg zur Arbeit. Oder wenn ich gerade eine freie Minute habe.”

Die Ironie: Heidi hat ihren Kindern früher sogar verboten, Pokémon zu spielen! So richtig aufhören kann Heidi heute jedoch auch nicht: “Ich gebe zu, ich spiele ein klein wenig zu viel. Man muss ja viel draußen sein und laufen, was gut für meinen Hund ist. Der freut sich. Aber ich jage auch auf dem Weg zur Arbeit oder wenn ich gerade eine freie Minute habe.” Wir fragen sie, ob Arbeitskollegen oder Freunde sie belächeln. Heidi nickt, aber scheint sich nichts daraus zu machen. “Das Spiel hat ja viel Gutes. Nicht nur wegen der nötigen Bewegung, sondern weil man auch Freunde kennen lernt. Die Arenakämpfe, das Verteilen von Geschenken – das geht halt nicht, wenn man Eigenbrödler ist.” Und ihre Kinder, die sie zum Spielen gebracht haben? “Naja, sie finden es schon ziemlich abgefahren, dass ich in meinem Alter so viel Pokémon spiele. Ich habe schon fast alle Monster gefangen. Aber ja, am Ende finden sie es schon ziemlich cool.”

Andreas fängt neue Freunde

Dieses Bild zeigt den 55-jährigen Andreas.
Andreas ist 55, kommt aus Recklinghausen, ist Einzelhandelskaufmann und auf Level 36 | Foto: Motherboard | Michael Cherdchupan

An einem kleinen Pavillon stärken sich die Besucher der Safari Zone mit Bratwurst und Kebab. Plötzlich springt ein Spieler auf: “Shiny”, ruft er und hält sein Telefon in die Luft. Um ihn herum klatschen und jubeln die anderen Spieler. Die schillernden Pokémon sind besonders selten. Bei dem Trubel wirkt Andreas wie ein Ruhepol. Wir treffen ihn ein paar Meter weiter, als er ganz entspannt auf einem Felsen vor einem Menschenauflauf Platz genommen hat. Er genießt die Atmosphäre hier.

“Ich dachte damals, die spinnen alle!”

“Ich mag vor allem die Gesellschaft bei Pokémon Go!. Man kann sich in WhatsApp-Gruppen zusammenschließen und Treffen organisieren, um gemeinsam Arenen anzugehen. Tolle Sache!” Auf diese Weise konnte er in seiner Heimatstadt sogar schon Freundschaften schließen. Mit der Spielereihe hatte er vor Pokémon Go! nichts zu tun. “Ich finde aber nett, dass alle Wesen so unterschiedlich aussehen. Da wird es nicht langweilig.”

Gamer machen Bilder mit Pikachu.
Pralle Sonne und 30 Grad: Den armen Menschen unter dem Pikachu-Kostüm beneiden wir nicht | Foto: Motherboard | Michael Cherdchupan

Als Pokémon-Ultra würde Andreas sich nicht bezeichnen. Er schläft nicht vor, um bei Mondschein nachtaktive Pokémon auf der Straße zu suchen und krempelt sein Leben auch nicht komplett um. “Ich muss auch nicht alles auf Level 100 haben. Bin schon zufrieden, wenn ich das Pokémon einfach geschnappt habe.” Andreas spielt nur, wenn er Zeit nach Feierabend hat. “Mein Handy auch während der Arbeit zum Spielen immer rausholen? Nee. Man muss ja nicht übertreiben. Das gäbe sowieso nur Theater.” Wir fragen, ob die Jagd nach seltenen Kreaturen das Zeug dazu hat, Generationen zu verbinden. Andreas nickt und gibt abendliche Raids als Beispiel an. “Da gibt es sicher Kinder, die so spät nicht mehr raus dürfen. Die freuen sich dann bestimmt, wenn man dann mit ihnen ein Pokémon tauscht, das man sonst nur zu späten Uhrzeiten bekommt.” Er fügt aber auch hinzu: 30 bis 40 Leute, die sich auf einmal mitten auf der Straße versammeln, und allesamt auf ihr Mobilgerät starren – ja, das sieht schon ziemlich bekloppt aus. “Da kann ich schon verstehen, dass Außenstehende mit dem Kopf schütteln. So viele Leute in einem Pulk, da hält dann sogar schonmal die Polizei an und fragt nach.”

Ein Cosplayer im Pikachu-Kostüm.
Auf dem Event gab es erstaunlich wenige Cosplayer. Aber selbst in einem Meer aus Kostümen wäre dieser Pikachu-Hottie aufgefallen | Bild: Motherboard | Michael Cherdchupan

Andreas erinnert an den Fall der Girardet-Brücke in Düsseldorf. Dort haben sich Hunderte Pokémon-Trainer versammelt, weil besonders lukrative Pokéstops lockten – bis die Stadtverwaltung die Entwickler des Spiels um einen Patch für ihre Brücke gebeten haben. Die Menschenmassen machten es sich mit Klappstühlen und Picknickdecken dort bequem – und blockten dabei auch den Verkehr. Umliegende Cafés und Restaurants engagierten damals sogar private Sicherheitsfirmen, um ihre Läden vor den Pokémon-Trainern zu schützen. “Damals bin ich auch an der Brücke vorbei gefahren und habe gedacht: Die spinnen doch alle! Aber heute kann ich das schon nachvollziehen.”

Dirk, Desiree, Detlef, Anke: Die Pokémon-Familie

Dirk, Desiree, Detlef und Anke spielen gemeinsam 'Pokémon Go'.
Von links nach rechts: Dirk (54, Level 40), Desiree (Level 37), Detlef (57, Level 40) und Anke (52, Level 37) | Foto: Motherboard | Michael Cherdchupan

“Was wir hier machen, ist eigentlich das klassische Jagen und Trophäen sammeln”, sagt Dirk, 54. Er hält grinsend sein Smartphone in der Hand und freut sich, für heute alle wichtigen Monster gesammelt zu haben. Für die Safari hat er schließlich das WM-Spiel Spanien gegen Russland sausen lassen. “Aber das Tolle ist: Es ist nur virtuell. Hier kommt kein echtes Tier zu Schaden, und trotzdem ist der Jagdtrieb da.” Dabei werden die Erfolge untereinander verglichen. Gerade zwischen der 52-jährigen Anke und ihrer Tochter Desiree findet ein regelrechter Konkurrenzkampf statt. “Wenn sie dann mal was hat, was ich dann nicht habe, kann ich schonmal richtig kiebig werden”, verrät die Mutter. Das liebevoll-hämische Grinsen von Desiree unterstreicht den Wahrheitsgehalt. “Ich bin Level 37 und meine Mutter hat mich kürzlich eingeholt. Das war für sie schon ein besonderer Tag.”

“Inzwischen kommen auch die Alten und sagen: Entschuldigung, was machen Sie da? Und dann lassen sie sich Pokémon vorführen.”

Zum Pokémon Go! gekommen sind alle vier ausnahmslos durch ihre Familien. “Eines Tages hat sich das meine Frau runtergeladen und ich bin dann im Freien blöd neben ihr hergelaufen”, erzählt Detlef, ein 57-jähriger Fensterbauer. “Und dann habe ich mir das aus Neugier geladen, und seitdem läuft meine Frau blöd neben mir her.” Detlef ist dabei geblieben, während seine Partnerin die Neugier verlor. Bei Dirks Kindern war das Interesse schon früher allein durch die Serie und Kinofilme geweckt, die er gemeinsam mit ihr angeschaut hat. Deshalb war auch er neugierig und blieb dabei. Bis Level 40. “Dafür habe ich etwa anderthalb Jahre gebraucht”, erklärt Dirk. Und Detlef? “Genau 355 Tage! Jetzt muss Niantic mal ordentlich nachlegen, damit noch was zu tun ist!”

Dirk kommt aus Gevelsberg, einer Kleinstadt in NRW, und ist dort keine Ausnahme. Nach der Arbeit trifft er sich mit Gleichgesinnten in einer Kneipe. “Dann zünden wir ein paar Lockmodule und haben Spaß.” In der Gruppe sind die unterschiedlichsten Leute. Lehrer, Kaufleute, Firmeneigentümerinnen – der Beruf spielt keine Rolle. Dirk selbst ist Maschinenbauer und ist entsprechend den ganzen Tag einem heftigen Geräuschpegel ausgesetzt. “Nach so viel körperlicher Arbeit ist das Spiel dann genau das Richtige zur Entspannung, wenn man vorher die ganze Zeit den Lärmschutz auf hatte. Alle machen das, um runterzukommen und das geht viel besser als in Ballerspielen. Dazu ein Bierchen – passt!”

'Pokémon Go'-Gamer laufen durch den Westfalenpark.
Menschen aus aller Welt sind in den Westfalenpark geströmt und verteilten sich auch auf die Innenstadt von Dortmund | Foto: Motherboard | Michael Cherdchupan

Obwohl sich durch Pokémon Go! viele Menschen kennen lernen, würden alle vier nicht sagen, dass unbedingt echte Freundschaften daraus werden. “Das ist eher wie beim Fußball”, meint Anke. “Man grüßt sich, man hat ein gemeinsames Thema. Das ist dann so etwas wie eine Bekanntschaft.” Dirk sieht Ähnlichkeiten zu Facebook. “Man kann da unmöglich alle Leute gut kennen. Man trifft sich zum Spielen und gut ist. Aber so richtig vergleichbar mit echten Freunden aus dem echten Leben ist das nicht.” Das aus einer Spielerbekanntschaft aber mehr werden kann, wollte niemand der vier ausschließen, als wir von Andreas’ Erfahrungen erzählen, den wir vorher getroffen haben. Das Vierergespann freut sich vor allem darüber, dass mehr und mehr ältere Generationen das Spiel entdecken. Anke erinnert sich: “Zum Start des Spiels war es so, dass gerade die älteren Leute einen angeschaut und gefragt haben: Biste bekloppt? Wie kann man damit seine Zeit verschwenden? Doch mittlerweile ist es so, dass die Alten schon zu einem hinkommen und fragen: Entschuldigung, was machen Sie denn da? Dann lassen die sich das Spiel auch gern mal vorführen.”


Bei Motherboard: Die Qualle der Unsterblichkeit


Was war das Highlight ihrer Trainer-Karriere? “Mewtu!”, rufen Dirk und Anke sofort. Den zu schnappen wäre besonders schwer gewesen. Das seltene Pokémon erscheint bei “EX-Raids”, speziellen Events zu besonderen Zeiten, die eine Einladung benötigen. “Absolutes Highlight für mich war, als mitten in der Nacht ein paar Blocks weiter plötzlich der Lapras auf dem Radar erschien”, erzählt Detlef mit einem Leuchten in den Augen. “Ich so: Raus aus’m Haus! Direkt ins Auto, in die Straße gefahren – und dann war ich so nervös, dass ich alle zwanzig Bälle verkloppt habe und mir das Vieh abgehauen ist.” Der Safari-Tag geht für das Vierer-Team langsam zu Ende. Jetzt geht’s nach Hause, um die Wiederholung von Russland gegen Spanien zu sehen. “Och, ich lauf’ die 15 Kilometer nach Witten in Ruhe zurück”, beschließt Detlef. “Vielleicht fange ich auf dem Heimweg noch etwas.”

Folgt Michael auf Twitter und Motherboard auf Facebook, Instagram, Snapchat und Twitter