Wir haben in Ostfriesland nach angespültem Kokain gesucht

Auf dem hohen Küstensande
Wandre ich im Sonnenstrahl;
Über die beglänzten Lande
Bald zum Meere, bald zum Strande
Irrt mein Auge tausendmal.
– Theodor Storm, Auf dem hohen Küstensande

Erst kommt die Ebbe, dann kommt die Flut.
– Gzuz, Ebbe und Flut

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Was ist Glück? Eine wichtige Frage, die für uns Deutsche besonders schwer zu beantworten ist. Weil wir leider nur das eine Wort für zwei völlig unterschiedliche Ideen haben: einmal für den seelischen Zustand, und einmal für den günstigen Zufall.

Das ist eigenartig, weil die eine Bedeutung so vage und die andere so greifbar ist. Das “Glück” als seelischer Zustand ist schwer zu fassen, aber “Glück haben” ist ziemlich konkret. Zum Beispiel: Man muss geradezu unglaubliches Glück haben, um an einem Strand von mehreren Kilometern ein angeschwemmtes, ziegelsteingroßes Paket Kokain zu finden.

Genau das ist aber in den letzten Wochen mindestens elf Menschen in Ostfriesland passiert. Zuerst stolperten Spaziergänger auf der Nordseeinsel Borkum über die in schwarzes Plastik eingewickelten Pakete, ein paar Tage später passierte dasselbe dann auf den Inseln Norderney und Baltrum. Auf allen drei Inseln gaben die Finder die Pakete bei der Polizei ab, oft, ohne sie überhaupt geöffnet zu haben. Die Polizisten brachten die Pakete zur Untersuchung aufs Festland, gaben aber schonmal vorsorglich die Parole aus, dass es sich beim Inhalt um “chemische Substanzen” in Form eines weißen Pulvers handle, das “zu erheblichen gesundheitlichen Problemen führen” könne. Man bitte jedenfalls “eindringlich” darum, diese Pakete bei der Polizei abzugeben – wer das nicht tue, mache sich womöglich strafbar. Über den Inseln, auf denen das häufigste Vergehen normalerweise das unbefugte Betreten der Dünen ist, war plötzlich der Schatten einer ganz neuen Dimension von Kriminalität heraufgezogen. Kurz darauf erklärte die Polizei, die Pakete enthielten je ein Kilo Kokain. Wo es herkommt, ist noch unklar, man vermutet aber, dass es mit dem Fund von 25 Sporttaschen mit knapp 1,25 Tonnen Kokain in Belgien Anfang April zusammenhängt. “Die Ermittlungen laufen”, sagt uns die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Aurich.


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Für ein Kilo reines Kokain (und wenn so ein Päckchen frisch vom Boot purzelt, kann man davon ausgehen, dass es noch lange nicht so gestreckt ist wie das, das dieser Typ verkauft) kann man gut und gerne 50.000 Euro bekommen, wenn man die richtigen Leute kennt. Spätestens jetzt wurde uns in der Redaktion klar, was für eine brandgefährliche Situation das war. Wie viele zweifelhafte Gestalten waren jetzt schon aufgebrochen, um ihr Glück an den norddeutschen Stränden zu suchen? Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn so viel Kokain in die falschen Hände fallen würde! Zu allem Unglück sagte die unbedarfte Polizeisprecherin dem NDR dann auch noch, sie könne sich gut vorstellen, dass noch mehr Pakete angeschwemmt würden. Uns war sofort klar: Wir müssen sofort nach Ostfriesland, um dieses gefährliche Strandgut ein- für allemal aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn nötig mit unseren eigenen Nasen.

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Direkt am nächsten Morgen um vier Uhr brechen wir von Berlin auf, um so früh wie möglich an einem dieser Strände anzukommen. “Suchen macht keinen Sinn bei 17 Kilometern Strandlänge”, hatte der Norderneyer Gemeindevorstand dem NDR erzählt. Das wollen wir doch mal sehen! Man muss die Sache nur richtig planen. Während wir also zu den Soundtracks von Scarface und Blow durch die norddeutsche Landschaft brettern, mache ich mich mit der Lage der Nordseeinseln, den Meeresströmungen und den Gezeiten vertraut.

Alle Fotos: Grey Hutton

Wie ein riesiges Abfangnetz reihen sich die sieben ostfriesischen Inseln vor dem Festland auf. Nach ein bisschen Recherche stehen die zwei heißesten Kandidaten für unsere Suche fest: Juist, weil es genau zwischen den drei Inseln liegt, auf denen bereits Koks gefunden wurde, und Langeoog, weil es die nächste Insel in der Reihe ist und meinen Strömungsrecherchen nach deshalb der perfekte Ort ist, um die nächste Ladung weißes Gold zu empfangen. Weil Juist aber leider ohne eigenes Boot zu schwer zu erreichen ist, entscheiden wir uns, mit der Suche auf Langeoog zu beginnen.

Nur eine Vogelscheuche? Oder eine Warnung der Kolumbianer?

Während wir an Windmühlen und Bauernhöfen vorbeirauschen, denke ich an die anderen legendären Drogenfunde an den Stränden der Welt. Unerreicht dabei die Geschichte des Meeresbiologen in Puerto Rico, der bei einem Strandrundgang (sein Auftrag war es, die Schildkröten-Population zu überwachen) über eine ganze Palette voller Kokain-Päckchen stolperte und seinen Fund sofort verbuddelte, um ihn später zu bergen. Wirklich Glück gebracht hat dieser Fund am Ende leider niemandem. Als ein Freund des Finders von Puerto Rico das Kokain Jahre später mit Hilfe mehrerer Komplizen bergen wollte, wurde er von Drogenfahndern reingelegt und ins Gefängnis gesteckt. Höchste Zeit also, die Geschichte neu zu schreiben!

Langeoog

Als wir an der Küste ankommen, fühle ich mich in meine Kindheit versetzt. Vor uns erstreckt sich endlos das grau-braune Wattenmeer, und es riecht wie früher: nach nassem, salzigem Schlamm. Der Himmel ist so grau wie das Meer, und als die Fähre ablegt und sich langsam durch den Fährkanal auf die Insel zuschiebt, frage ich mich zum ersten Mal, was wir hier eigentlich machen.

Als wir nach einer knappen Stunde Überfahrt am Strand von Langeoog stehen, bekommen wir einen Schreck: erstens hatte schon die Bimmelbahn vom Anleger zum Ort so gar nichts von Miami, zweitens ist der Strand voll mit Menschen! Wie sie da in ihren North-Face- und Jack-Wolfskin-Jacken herumlaufen und ihre Labradore über den Sand rennen lassen, sehen sie zwar nicht so aus, als wären sie extra wegen der Päckchen gekommen. Aber wenn einer dieser unbedarften Urlauber vor uns über so ein Paket stolpert, könnte er ja trotzdem durchaus in Gefahr sein. Wir mussten sofort mit der Arbeit anfangen.

Sieht auf der Karte kleiner aus: der Strand von Langeoog

Mit ein paar Metern Abstand voneinander beginnen wir, die Wasserkante von Ost nach West entlangzulaufen. Blöderweise liegt an so einem Strand sehr viel mehr herum, als man denkt: Algenhaufen, Holzstücke, Teile von Fischernetzen, tote Vögel, und vor allem immer und immer wieder Plastikstücke. Das Bundesumweltamt schätzt, dass allein an der Nordsee jährlich bis zu 20.000 Tonnen Plastikmüll angeschwemmt werden. Und die Nordseeinseln sind besonders betroffen, weil hier eine der meistbefahrenen Schifffahrtslinien der Welt vorbeiführt. Im Januar landete Langeoog in den internationalen Schlagzeilen, als Hunderttausende Überraschungseier angespült wurden, die von irgendeinem Schiff gefallen waren. Wir merken langsam, dass so ein Kilometer Strand lang sein kann. Ganz so einfach wird das vielleicht doch nicht.

Ich muss an die beiden Inselbewohner denken, die wir auf der Fähre getroffen haben. Rüdiger und Ulf hatten uns vor dem Müll gewarnt. Sie schienen sich fast mehr für den Müll am Strand als für das Kokain zu interessieren. “Was sollen wir damit?”, hatte Rüdiger gesagt und einen Schluck aus seinem Jever genommen. “Soll ich damit in die Kneipe gehen und sagen, ich hab hier ein Kilo Kokain, was krieg ich dafür? Zwei Bier und ‘nen Schnaps?”

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Allerdings, hatte Rüdiger auch erzählt, waren die Inselbewohner nicht immer so obrigkeitstreu. Vor der Polizei gab es auf den Inseln sogenannte Strandvögte, die den offiziellen Besitzanspruch des Staats bei angeschwemmten Gütern durchsetzen sollten. “Wenn hier mal was Wertvolles ankam, war das schneller weg, als der Strandvogt gucken konnte.” Dieser Kampf um das Strandgut zwischen Staat und den oft bettelarmen Küstenbewohnern ist Jahrhunderte alt. Wenn ein Schiff vor ihrer Küste kenterte, betrachteten die Küstenbewohner das als ein Geschenk Gottes. Den ertrinkenden Seeleuten wurde erst dann geholfen, wenn auch die letzte angespülte Kiste verstaut war, und es gibt zahlreiche Fälle, in denen Küsten- oder Inselbewohner absichtlich die Leuchtsignale sabotierten, um mehr Schiffe zum Kentern zu bringen. Die Bewohner von Helgoland wehrten sich bis Ende des 18. Jahrhunderts gegen den Bau eines Leuchtturms, weil sie nicht auf das Raubgut aus verunglückten Schiffen verzichten wollten.

Wir stapfen schon über eine Stunde durch den Sand, ohne auch nur ein winziges Gramm Kokain gefunden zu haben. Stattdessen finden wir zwei Pentagramme, die jemand in den Sand gezeichnet hat. Eine Warnung der Kolumbianer, die Finger von ihrer Ware zu lassen? Tatsächlich zieht auch schon seit einer Viertelstunde ein Flugzeug verdächtige Kreise über unseren Köpfen, und unser Fotograf ist überzeugt, dass der Pilot uns einmal mit dem Flügel gewunken hat. Es ist Zeit, von der Insel zu verschwinden.

Auf Langeoog hatten wir kein Glück, also fahren wir weiter nach Norderney, die größte der Inseln. Immerhin hat man hier schon zwei Pakete gefunden, und Strandgut kommt oft über mehrere Tage verteilt an. Auf der Fähre beugen wir uns nochmal über die Karte. Am Bug hält sich ein Pärchen an der Reling eng umschlungen und blickt hoffnungsvoll auf die Insel, die am Horizont auftaucht. Werden sie finden, was sie dort suchen? Werden wir finden, was wir suchen?

Norderney

Zuerst finden wir aber nicht mal unsere Airbnb-Wohnung. Unsere Gastgeberin erreichen wir nicht. Wir wissen nur, dass sie gerade einen Surfkurs macht. Als wir im Meer vier Surfer entdecken, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns an den Strand zu setzen und darauf zu warten, dass die vier sich ausplanschen. Es nieselt in dünnen Fäden, der Wind wird immer kälter.

Alle 15 Minuten fährt ein Polizeiauto im Schritttempo die Strandpromenade ab. Der Strandvogt schläft nicht.

Immerhin haben wir genug Zeit, Fotos vom Sonnenuntergang zu machen. Hier ist eins:

Als unsere Gastgeberin Kerstin endlich aus dem Wasser kommt, entpuppt sie sich als nette Frau Ende 20, die als Erstes wissen will, warum wir überhaupt auf Norderney sind. Wir drucksen herum, schließlich erkläre ich, dass wir eine Reportage über Strandgut machen. “Das Koks?”, platzt es aus ihr heraus. “Krass, oder? Wir haben gestern schon den ganzen Strand einmal hoch- und runtergesucht” – mir rutscht kurz das Herz in die Hose – “aber nichts gefunden!” Puh. Trotzdem bin ich einigermaßen überrascht von Kerstins lebhaftem Interesse. Die Kurgäste, mit denen wir bis jetzt gesprochen haben, hatten die Geschichte mit den Päckchen eher kurios gefunden, auf die Suche gemacht hatte sich noch keiner. Vorsichtig frage ich, was sie denn mit dem Zeug vorhat, wenn sie es tatsächlich finden würde. “Verkaufen natürlich!”, schaut sie mich entgeistert an. “Was ist das denn für eine blöde Frage? Ich meine, wenn man das abgibt, landet das in irgendeiner Kammer, und da hat doch keiner was davon!” Sehr praktisch orientiert, unsere Gastgeberin.

“Wir haben auch schon überlegt, ob die Möwen die Pakete mittlerweile gefressen haben”, bringt Kerstin plötzlich eine ganz neue Gefahr ins Spiel. “Ich halte dauernd Ausschau nach durchgeknallten Koks-Möwen!” Eine grauenhafte Vorstellung. Die armen Vögel!

Es ist jetzt 22 Uhr, und wir müssen in die Kneipe. Unsere Theorie: Wenn jemand doch ein Paket gefunden, aber nicht abgegeben hat, finden wir hier vielleicht Hinweise darauf. Wenn der Laden zum Beispiel aus allen Nähten platzt vor wild durcheinanderplappernden Inselbewohnern, die manisch mit den Kiefern mahlen und sich permanent die Schiffermützen vom Kopf schlagen – dann sind wir unserem Ziel wahrscheinlich ein ganzes Stück näher.

Im Norderneyer Brauhaus sieht es erstmal nicht danach aus, die meisten Gäste gehen gerade, als wir kommen. Die beiden Kellner hinter der Bar geben unserer Hoffnung den letzten Rest: “Niemand kennt hier auf der Insel einen, der ein Paket gefunden hat”, erklärt der jüngere. “Ich hab leider auch noch keins gesehen.” Auch hier sind sich alle einig, dass sie das Zeug nicht zur Polizei bringen. “Was hier angeschwemmt wird, wird behalten”, erklärt uns uns Jonas, der an der Bar sitzt und auf Norderney geboren wurde, über die Inselmentalität. Von Jonas lernen wir auch unseren ersten Satz Plattdeutsch: “Ik hek n Pund Koka funn, nu bin ik riek.” (Im Hochdeutschen würde der Satz ein aufgeregtes Ausrufezeichen bekommen. Im Plattdeutschen undenkbar.)

Die Nacht gehört auf Norderney den Kaninchen

Allerdings regt das Thema Nordsee-Kokain die Inselgemüter auch nicht übermäßig auf. Bald dreht sich das Gespräch um all die anderen Dinge, die hier noch so angeschwemmt wurden: die Langeooger Überraschungseier, die Holzstücke, die die Uni Oldenburg mal zu Hunderten für einen Strömungstest ins Wasser geworfen hat, und die berühmte Geschichte von den Turnschuhen: Damals war einem Schiff in einem Sturm ein Container mit Turnschuhen über Bord gegangen, die dann auf den Inseln angeschwemmt wurden. Die Leute auf Norderney und Langeoog waren tagelang damit beschäftigt, die Schuhe einzusammeln und untereinander zu tauschen, bis jeder die richtige Größe hatte.

Dann diskutieren die Drei über das Schicksal eines Wals, der vor über zehn Jahren in Norderney angespült wurde und verendet ist. Der ältere Kellner erinnert sich, dass der Wal damals verbuddelt wurde. “Der wurde nicht verbuddelt, der wurde gesprengt”, korrigiert der jüngere. “Ne, ne, ne. Der wurde nicht gesprengt, der wurde aufgebohrt”, weiß Jonas. “Die haben da so Rohre reingebohrt, und da ist der ganze Schmodder rausgekommen.” (Wen es interessiert: Alle drei haben irgendwie Recht. Der Wal wurde erst gesprengt, hat davon aber nur Löcher bekommen und wurde schließlich in den Dünen verbuddelt. Irgendjemand hat die Insel deshalb wegen des Verstoßes gegen das Tierkörperbeseitigungsgesetz verklagt, worauf der zuständige Beamte mit “Tjo, da kann ick nu auch nix mehr dran machen” reagiert hat.)

Obwohl das alles faszinierende Themen sind und auch das Bier im Brauhaus sehr gut ist, müssen wir weiter. Die Jungs empfehlen, in der Kneipe Goode Wind nachzufragen, aber auch hier hatte niemand Glück. Dafür bieten sich mehrere Gäste an, uns was abzukaufen, wenn wir es finden. Mittlerweile ist es zwei Uhr morgens, und wir laufen noch einmal zum Strand. Die Ebbe ist auf absolutem Tiefstand. Eigentlich die perfekte Zeit, um den Strand abzusuchen, aber erstens sehen wir mit unseren Taschenlampen nicht genug, und zweitens haben wir Angst, die Aufmerksamkeit des Strandvogts zu erregen. Wir beschließen, die Suche bei Sonnenaufgang fortzusetzen.

Die letzte Chance

Keine fünf Stunden später stapfen wir wieder am Strand entlang. Wir fühlen uns alles andere als frisch, aber falls die Flut über Nacht etwas mitgebracht hat, wollen wir die Ersten sein, die die gefährliche Substanz in Sicherheit bringen. Leider sind wir auch nicht die Ersten hier. Ausgeschlafene Joggerinnen ziehen an uns vorbei, an der Promenade hat eine ganze Tai-Chi-Gruppe Stellung im Sand bezogen. Verbissen laufen wir weiter.

Nach ein paar hundert erfolglosen Metern springt ein Hund durch den schleimigen Schaum. Er gehört zum pensionierten Hausmeister Heinrich Bruns, der seit seiner Geburt vor 63 Jahren auf Norderney lebt. Natürlich hat er auch von den Päckchen gehört. Heinrich würde sie sofort abgeben: “Meine Frau und ich, wir sind ehrliche Leute.” Von der Ehrlichkeit seiner Mitmenschen scheint Heinrich aber nicht ganz so überzeugt. Er sagt, er glaube, dass auf Norderney mehr als die zwei abgegeben Päckchen gefunden wurden. “Da hält man natürlich schön die Klappe, wenn man sich das eingesteckt hat, nech”, schließt er und streichelt seinen Hund.

Vielleicht bin ich auch noch betrunken von gestern, aber plötzlich kommen mir Zweifel an unserer Mission. Geht es im Leben wirklich darum, Kokain am Strand zu finden? So romantisch die Idee von DEM einen großen Wurf, der alles verändert, auch ist – ist das vielleicht der falsche Weg zum Glück? Wer hat am Ende mehr Würde – der Glücksritter und Hasardeur? Oder der ehrliche Arbeiter, der verstanden hat, dass der Wert des Lebens in den hundert kleinen Anstrengungen liegt, die er jeden Tag aufs Neue aneinanderreiht?

Aber dann sehe ich wieder einen verdächtigen Haufen im Sand und erleichtert renne ich drauf los. Wahnsinn, denke ich, der Wind hat dich schon bekloppt gemacht. Wenn du das Zeug nicht findest, kannst du ja immer noch eine Riesterrente abschließen, aber jetzt heißt es: Suchen!

Dinge, die nicht Kokain sind

Aber auch dieser Haufen entpuppt sich als Berg Algen. Der ständige Wind fängt an, uns zu zermürben.

Gegen Mittag leihen wir uns zwei Fahrräder, um die wilde Ostseite Norderneys zu erkunden. Auf den Wegen hoppeln Hunderte Kaninchen, am Wegesrand tummeln sich Fasane, in den Feldern stehen Kormorane zwischen den Pferden. Aber wir müssen uns beeilen, wenn wir den weniger belaufenen Ost-Strand noch absuchen wollen, deshalb haben wir auch keine Zeit, um die Schilder mit den Treibsand-Warnungen zu beachten.

Dieser Strand ist unsere letzte Chance, in ein paar Stunden müssen wir die Fähre zurück erwischen. Wir nehmen nochmal alle Kraft zusammen. Während ich mich mit den Schuhen durch Meter und Meter von schleimigem Schaum wühle, sage ich Sprüche vor mich hin, die uns Erfolg versprechen: “Wer wagt, gewinnt!”, und “Fortes fortuna adiuvat – Das Glück ist mit den Tüchtigen!” Nach jeder Enttäuschungen aus Holz, Plastik und Algen murmele ich meine Mantras eindringlicher, verzweifelter. Es kann doch nicht sein, dass zwei junge Männer auf der Höhe ihrer körperlichen und geistigen Kräfte, die mit einem ausgeklügelten Schlachtplan angetreten sind, weniger Glück haben als ein Dutzend Kurgäste!

Als der Fotograf immer lauter quengelt, dass wir jetzt wirklich umdrehen müssen, bricht die Verzweiflung aus mir heraus. Was ist das für ein grausames Meer, das kiloweise Gratis-Kokain anspült, nur um es dann ausschließlich irgendwelchen Mitvierzigern aus Münster in North-Face-Jacken vor die Füße zu schleudern? “Du bittres Wasser”, denke ich, “ich habe zwar keine Peitsche dabei, aber bestrafen werde ich dich trotzdem!” Mir bleibt nichts anderes übrig, als wie ein wütender Schuljunge im Wasser herumzuspringen und aus voller Lunge “Gib! Uns! Das! Kokain!” zu schreien.

Die Nordsee zeigt sich davon unbeeindruckt, nur ein paar Austernfischer hüpfen ein paar Meter von mir weg.

Auf dem Rückweg durch die Dünen spricht keiner von uns ein Wort. Wir schleppen uns zur Fähre. Auf der Überfahrt zurück weht der Wind so stark, dass das Schiff in schweren Seegang kommt. Die Wellen schlagen so hoch, dass die Luken im unteren Deck abwechselnd unter Wasser stehen oder dümmlich in den stumpfen Himmel starren, und ich muss an Bord, damit mir nicht schlecht wird.

Hinter unserer Fähre fliegen zwei Möwen. Trotz des Sturms schaffen die Vögel es mühelos, mit dem Boot Schritt zu halten. Und plötzlich denke ich: Vielleicht hat sich das alles doch gelohnt. Klar, das Kokain haben wir nicht. Aber was wir in den letzten zwei Tagen nicht alles gesehen haben, welche Menschen wir hier kennenlernten. Die ganze Pracht der Tierwelt auf diesen geschützten Inseln: die Kaninchen, Fasane, Bekassinen, Kiebitze, Bachstelzen, Teichhühner, Austernfischer. Die Dünen, die die Inseln als natürliche Bollwerke schützen. Das Wunder der ewigen Wiederkehr von Ebbe und Flut. Hat uns unsere besessene Suche nach dem Glück vielleicht blind für die Wahrheit gemacht? Die Wahrheit, dass der echte Schatz Ostfrieslands die ganze Zeit schon da war?

Ach, Bullshit, denke ich. Ein Kilo Kokain, das wäre schon was gewesen.

Achtung: Kokain ist schon in geringen Mengen eher ungesund und hat außerdem ein hohes Abhängigkeitspotenzial. Wer Kokain (oder andere unter das äußert weise und überhaupt nicht widersinnige Betäubungsmittelgesetz fallende Substanzen) findet und behält, macht sich strafbar, und zwar umso strafbarer, je mehr er davon hat.

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