Sexuelle Diversität ist mittlerweile nicht nur in den Köpfen liberal denkender Menschen angekommen, sondern hat auch in vielen politischen Bewegungen im Kampf um mehr soziale Gerechtigkeit Einzug gehalten. Dass sexuelle Orientierungen mit einem Krankheitsbild gleichgesetzt werden, entspricht nicht der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung. Allerdings kommen immer mehr Experten zu dem Schluss, dass auch Pädophile—also Menschen, deren primäres sexuelles Interesse auf Kinder gerichtete ist, die noch nicht die Pubertät erreicht haben—sich ihre sexuelle Orientierung nicht aussuchen können. Laut einer Kriminalpsychologin, die sich auf Reddit öffentlich zu diesem Thema geäußert hat, „verspürt ein Pädophiler dieselbe tief verwurzelte Anziehung [zu Kindern], die eine heterosexuelle Frau zu einem Mann beziehungsweise eine homosexuelle Person zum selben Geschlecht verspürt.”
„Wir versuchen schon seit Langem zu kommunizieren, dass sich diese Neigung keiner aussucht”, erklärte auch Sexualwissenschaftler Klaus Michael Beier in einem Interview mit VICE. Er betreut an der Charité Berlin das Projekt Primäre Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch durch Jugendliche.
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David Finkelhor, ein anderer Experte, ist Professor für Soziologie und Direktor für das Crimes Against Children Research Center der Universität von New Hampshire. Ihm zufolge halten Fachleute nach wie vor an der Vorstellung fest, dass es sich bei Pädophilie um eine sexuelle Orientierung handelt. Für die Öffentlichkeit ist diese Vorstellung nur schwer verdaulich. Sexuelle Orientierungen werden heutzutage in einem positiveren Licht gesehen und werden meist auch als fester oder intrinsischer Bestandteil der eigenen Identität betrachtet. „Menschen fühlen sich nicht wohl dabei, auf diese Weise über Pädophilie zu sprechen, da es aktuell die Vorstellung zu geben scheint, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen in jedem Fall respektiert und anerkannt und nicht wie eine Krankheit behandelt werden sollte”, sagt Finkelhor und meint auch, dass manche Menschen davon ausgehen, dass eine solche Darstellung von Pädophilie dazu führen könnte, dass sexueller Kindesmissbrauch entkriminalisiert wird.
Welche Tragweite hat eine solche Definition, wenn es um den sexuellen Missbrauch von Kindern geht? „Es ist äußerst wichtig, dass die Öffentlichkeit versteht, dass die meisten Sexualstraftaten gegen Kinder nicht von Pädophilen begangen werden”, erklärt Finkelhor am Telefon. „Wenn man über Pädophile spricht, haben [viele Menschen] den Eindruck, dass sie ein dauerhaftes und unveränderbares sexuelles Interesse an Kindern haben und deshalb unter allen Umständen und unter jeder Form von Betreuung gefährlich sind—aber das stimmt nicht”, sagt er. Pädophile präsentieren, wie er sagt, die Minderheit unter den Menschen, die Kinder sexuell missbrauchen.
Während sich Pädophile exklusiv oder primär zu Kindern hingezogen fühlen, die die Pubertät noch nicht erreicht haben, ist das bei den meisten pädosexuellen Straftätern nicht zwangsläufig der Fall. Warum aber sollten sie dann ausgerechnet Kinder missbrauchen? Die Gründe sind vielfältig, sagt Finkelhor. „Einer der Hauptgründe ist, dass sie keinen Zugang zu einer anderen Form von sexueller Befriedigung haben oder dass ein Kind leicht zugänglich ist, also ein Familienmitglied beispielsweise”, sagt er und fügt an, dass dies auch oft bei Menschen der Fall sein kann, die sich eigentlich primär zu vollentwickelten Menschen hingezogen fühlen. Finkelhorn sagt, dass auch das Alter des Täters eine wichtige Rolle spielt: Die Gruppe von jugendlichen Tätern, die andere Jugendliche missbrauchen, beinhaltet per se kaum Pädophile, stellen allerdings ein Drittel beziehungsweise die Hälfte der Fälle von Kindesmissbrauch dar.
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Finkelhor sagt auch, dass Pädophile in der Regel eine höhere Zahl von kindlichen Missbrauchsopfern haben als andere (nicht-pädophile) Täter. Gleichzeitig gehen aber eben nicht alle Pädophile ihren Trieben nach. Finkelhor sagt, dass es wichtig ist zu wissen, dass es Menschen mit pädophilen sexuellen Neigungen gibt, sie „[diesen] aber nicht nachgehen, selbst abschreckend finden und verstehen, dass es schädlich wäre, ihnen nachzugehen.” Verlässliche Daten gibt es dazu allerdings nur wenig.
Auf meine Frage, welche Methoden es gibt, um Pädophilen zu helfen, mit ihren Neigungen zurechtzukommen, meint Finkelhorn, dass Betroffene mit einem „enormen Stigma” zu kämpfen haben, wenn es um das sexuelle Interesse an Kindern geht. „Viele Menschen, die diese Art von Neigungen haben, begeben sich nicht in ärztliche Behandlung, aber einige tun es”, sagt er. Finkelhor sagt auch, dass das Stigma nicht der einzige Faktor ist, der Betroffene von einer Behandlung abhalten kann. Finkelbein ist der Meinung, dass die strengen Meldegesetze in den USA, „die von Ärzten verlangen, dass sie jeden, der einen Übergriff begangen hat, melden”, Betroffene abschrecken kann.
Auch in Europa wird über die Einführung einer solchen Registrierung von Pädophilen immer wieder diskutiert. Außerdem gibt es mehrere Hilfsangebotene für Pädophile, die lernen wollen, ein ganz normales Leben zu führen ohne Kindern zu schaden—beispielsweise Kein Täter werden von der Charité Berlin.
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Finkelhor zufolge könnte es „etwas zu vorschnell sein”, Pädophilie als sexuelle Orientierung zu betrachten. Bisher kann man noch nichts endgültiges zu diesem Thema sagen, da wir noch nicht genug über die Entstehung von sexuellen Orientierungen wissen—ganz besonders nicht, was Pädophilie betrifft. „Es gibt die Vermutung, dass Kindheitstraumata eine Rolle dabei spielen könnten”, sagt er, „aber das ist wahrscheinlich keine notwendige oder hinreichende Bedingung.” Laut Finkelhor gibt es auch Pädophile, die kein solches Trauma erlebt haben und umgekehrt werden nicht alle, die ein Trauma erlebt haben, zwangsläufig pädophil. „Dabei scheinen also auch noch weitere Faktoren eine Rolle zu spielen”, meint er.
„Ich denke, dass es einer näheren Klärung bedarf”, sagt Finkelhor. Wenn die Gruppe von Pädophilen, die ihren Trieben nicht nachgeht, beispielweise sehr groß ist, dann könnte das ein vielversprechender Hinweis darauf sein, dass Pädophilie behandelbar (wenn auch nicht „heilbar”) ist. „Wie man sich aber vorstellen kann”, sagt Finkelhor, „ist es relativ schwer, Menschen zu finden, die zugeben, dass sie derartige Neigungen haben.”
Foto: Taichiro Ueki | Flickr | CC BY-ND 2.0