Foto von Mateusz von Motz
Aus der The Sick Day Issue
Videos by VICE
Jeder hatte damals einen Jogginganzug, und die drei Streifen von Adidas mussten sein. Ich kann mich noch gut an diese Zeiten in Polen erinnern. Es war damals das Größte für uns, im neuen Jogginganzug aus dem Haus zu gehen und mit den Jungs die Welt zu erobern. Du durftest dich nur nicht in andere Viertel verirren, denn dann kamst du oft ohne Geld und ohne drei Streifen nach Hause, aber dafür mit polierter Fresse. Der estnische Rap-Superstar Tommy Cash ist da schon einen Schritt weiter und hat sich zur Sicherheit die drei Streifen von Adidas gleich auf den Fuß tätowiert: „Three stripes on my body make my swag real tight.”
Vor einem halben Jahr habe ich auf einem Blog etwas über diesen Tommy Cash gelesen. „Leave me alone” war der Song, der mich in die estnische Rapwelt hineinzog. Das Musikvideo erinnerte mich an das Polen, als ich 15 Jahre alt war. Ein Fiat 125p, eine freistehende Wanne und diese Gärten—das waren alles keine neuen Bilder für mich, sondern viel mehr ein Mosaik aus post-sozialistischen Erinnerungen. Und Tommy weiß ganz genau, was er da macht, wenn er die Erinnerungen einer ganzen Generation, die in osteuropäischen Betonblocks aufgewachsen ist, audiovisuell verarbeitet.
Estland lag ihm innerhalb kürzester Zeit zu Füßen, und im Moment gehört er zu den bekanntesten jungen Menschen Tallins. Eine Russlandtour hat er schon auf seiner To-do-Liste abgehakt, jetzt orientiert er sich gen Westen.
Dabei ist er nicht der Einzige, der in diesen Zeiten das Osteuropäische zelebriert, aber er ist einer der wenigen, die immer noch dort sind. Tommy hat während unserer Reise erwähnt, dass er auch woanders leben könnte. “New York und L.A.” wollen mit ihm arbeiten, aber er weiß, dass er, um seine Beats real zu halten, an der Quelle sitzen muss, statt umgeben zu sein von Hollywood-Glamour.
Apropos Hollywood-Glamour: Lies hier, warum uns die Trennung von Brangelina so interessiert
Die Modewelt schlägt schon seit geraumer Zeit Kapital aus dem Image der osteuropäischen Betondschungel. Balenciaga hat in seiner 2016/2017-Kollektion Taschen, die an diejenigen erinnern, in denen unsere Großmütter früher eingemachte Gläser herumtrugen. Gosha Rubchinskiy wiederum hat mit seinen russischen Jünglingen den Geist der Readymades von Marcel Duchamp in ein neues Prêt-à-porter-Zeitalter übertragen.
Man kann also durchaus sagen, dass Tommy sich einen ziemlich guten Zeitpunkt ausgesucht hat, um mit dem Tanzen aufzuhören. Bevor Tommy nämlich als Rap-Superstar durchstartete, gehörte er zu den besten Locking- und Boogie-Tänzern in ganz Estland. Er war außerdem von klein auf ein glühender Adidas-Fan. Die Marke erwiderte seine Liebe indem sie das Tanzgenie mit den tollsten Produkten aus dem Herzen von Herzogenaurach versorgte, so wie damals die Rap-Legenden Run DMC oder Eazy-E von N.W.A.
Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, dass ich spontan zum Chauffeur für die estnische Rap-Sensation erklärt werden würde.
Um ihn zum ersten Mal zu treffen, schrieb ich Tommys Managerin an, nur um dann eine Woche später in einer Fähre nach Tallin zu sitzen, die auf den Namen „Super-Star” getauft war. Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, dass ich spontan zum Chauffeur erklärt werden würde, der die estnische Rap-Sensation quer durch das kleine baltische Land zu einem Festival kutschieren würde. Eigentlich waren wir nur zu einem Fotoshooting verabredet, das entweder am Sonntag oder am Montag stattfinden sollte, vorausgesetzt, dass Tommy Zeit haben würde. Dann kam es aber ganz anders. Seine Managerin Anna, die auch sein Video zu “Winaloto” produziert hat und generell seine visuellen Inhalte umsetzt, hatte mich im Laufe des Tages gefragt, ob ich einen Wagen mit Gangschaltung fahren kann. Ich meinte nur: „Klar, ich bin Pole, ich kann alles fahren.” Und kurze Zeit später waren wir bereits mit ein paar Typen auf dem Weg Richtung INTSIKURMU Festival.
Wir hatten Danny, einen jungen Typen aus St. Petersburg dabei, den Tommy vor einer Weile in Moskau kennengelernt hat und seit diesem Moment zusammen mit ihm produziert. Tommy hat ganz selbstverständlich die Rolle des Navis und des Animateurs übernommen und mit seinem iPhone ständig zwischen Trash-Videos und GoogleMaps hin- und hergeschaltet. Er ist einer dieser Menschen, die zu 100 Prozent deine Aufmerksamkeit auf sich lenken, dich mit ihrer Persönlichkeit in den Bann ziehen und dir einfach nur ein gutes Gefühl geben, wenn du in ihrer Gegenwart sein darfst.
Noch mehr spannende Menschen findet man auf der Gamescom
Tommy Cash hat vor zwei Jahren angefangen, Musik zu produzieren. Der Schlüsselmoment und Startschuss für seine Karriere war ein Auftritt als Background-Tänzer. Auf der Bühne bei einer berühmten Musikerin, auf deren Identität er nicht eingehen möchte, kam ihm der Geistesblitz: “Warum tanze ich hier nur? Ich könnte selbst eine viel bessere Show hinlegen. Ich sollte dort stehen und performen.”
Kurz darauf entstanden erste Texte. Tommy kombinierte Sprachen, Geräusche und Klänge, vermischte Russisch mit Englisch und Englisch mit Estnisch. Nach den ersten Experimenten folgten schnell die ersten richtigen Produktionen, die er ins Internet stellte.
„Warum tanze ich hier nur? Ich könnte selbst eine viel bessere Show hinlegen. Ich sollte dort stehen und performen.”
Jetzt, zwei Jahre später, befinden wir uns am anderen Ende von Estland, dort wo es in Strömen regnet und ich mich frage, ob überhaupt jemand dorthin zum Festival kommen wird. Auf dem Weg vom Wagen mussten wir durch Unmengen von Schlamm waten. Wir stehen hinter der Bühne, wo der Meister seine Stimme aufwärmt. Meine Zweifel, ob überhaupt jemand erscheinen wird, werden immer größer. Kurz vor Mitternacht höre ich dann die ersten “Tommy”-Schreie von Fans. Um Punkt 12 Uhr startet Danny mit einem avantgardistischen Intro, in dem er Gaspard Auges (aka Mr. Oizos) “Cut Dig” mit Tigas “Let’s go Dancing” vermischt.
Kurz darauf läuft Tommy auf die Bühne und Spots erleuchten das Gelände. Ich erblicke auf dieser kleinen Lichtung mitten im Nirgendwo plötzlich mehr als 500 Menschen, die voller Ungeduld auf ihren MC gewartet hatten. Ich frage mich, wo sich all diese Leute vorher versteckt hatten. Der Track “Baba Yaga” packt mit seinem Beat die Masse und lässt alle ausrasten. „Baba Yaga” verbindet den Klang von kitschiger slawischer Diskomusik mit einem unfassbar guten Kick, der die Masse schnell in Trance versetzt. Tommy beherrscht sie wie ein Hexenmeister, „Baba Yaga” ist nicht umsonst in slawischen Sprachen die Bezeichnung für Hexe.
Cash hat mir erzählt, dass es bei ihm schon lange keine Warm-ups mehr gibt, weil er sie schlicht und ergreifend nicht braucht. Er fängt so an, wie andere aufhören: auf dem Zenit. Er hat nicht gelogen, die Zuschauer lieben ihn und ich verstehe jetzt, warum er in Estland ein Rap-Superstar ist, der kürzlich sogar zu einer privaten Audienz beim Präsidenten des Landes geladen wurde. Nach gut einer Stunde im Regen zeigt das Publikum immer noch keine Ermüdungserscheinungen und hält tanzend das Zenit-Level vom Anfang. Zur finalen Eskalation kommt es dann, als er seinen Hit “Winaloto” performt.
Wir schaffen es erst gegen 2:30 Uhr die Heimreise anzutreten, weil nach dem Konzert alle hinter die Bühne drängen, um Selfies mit Tommy zu knipsen. Es liegen noch 250 Kilometer bis nach Talinn vor uns. Nach ca. 400 Metern stoppt uns ein Polizeiwagen. Ich gerate in Panik, als ich realisiere, dass ich als Fahrer meinen Führerschein nicht dabeihabe. Die Polizisten erkennen Tommy und nach einem kurzen Plausch dürfen wir weiterfahren. Auf dem Rückweg machen wir noch halt bei einem McDonald’s Drive-Through, bei dem Tommy einer Legende nach mal mit einem Pferd vorgeritten sein soll, um sich einen BigMac zu bestellen.
Am nächsten Tag treffen wir uns für das Fotoshooting wieder. Das ganze Haus hat den Post-Sowjet-Look aus der Zeit, als einige Menschen plötzlich Unmengen an Geld hatten, aber die teuren Sachen alle kitschig aussahen. Goldene Telefone, rosafarbenes Plastik und Massageliegen neben einer modernen amerikanischen Küche und einem riesigen Trampolin im Garten. Genau das richtige Setting für Tommy, der sofort in das pinke Bad stürmt, dann ins Schlafzimmer, weiter in die Küche, schließlich aufs Trampolin und schon muss ich auch schon wieder zurück nach London.
Zum Abschied umarmt mich Tommy an der Fähre herzlich.
Mehr und Neues von Tommy Cash in Kürze auf noisey.com