Wenn ich an Bozen denke, die Hauptstadt Südtirols, denke ich ans Wandern. Als ich 11 war, bin ich von hier jeden Morgen mit meinen Eltern in die Berge losgezogen. Niedliche alte Häuser vor einem leuchtenden Alpenpanorama, das ist meine Erinnerung an die Stadt. Jetzt kehre ich zurück. Ich will mit eigenen Augen die Völkerwanderung sehen, die hier täglich stattfindet. Denn der Bahnhof von Bozen, ein Provinzbahnhof mit sechs Gleisen, ist in den letzten Wochen zu einem der wichtigsten Transitpunkte auf der Flüchtlingsroute nach Deutschland geworden: Rom—Bozen—Innsbruck—München.
Am Gleis 3 schultern zwei deutsche Rentner neben mir ihre Rucksäcke, als plötzlich ein ganzer Trupp Polizisten quer über die Schienen auf uns zu gerannt kommt. In schweren Uniformen stürmen sie an uns vorbei in Richtung Bahnsteig-Ende. Der Intercity aus Bologna fährt ein. Zielbahnhof: München. Ein Flüchtlingsexpress.
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Ich renne hinterher und sehe, wie die Carabinieri zehn junge Männer aus dem ersten Waggon holen. Einer von ihnen, mit einer großen Fliegersonnenbrille, wehrt sich. Als der Zug kurz darauf ohne die Gruppe weiterfährt, rastet er endgültig aus. Er versucht zu flüchten, doch die Polizisten kesseln ihn schnell ein. Er schmeißt sich auf den Boden, fängt an zu weinen. Einer der Polizisten sagt zu mir: „Er denkt wahrscheinlich, jetzt ist alles vorbei.” Seine wochenlange Flucht—durch Afrika, übers Mittelmeer—alles umsonst. Wenn er das wirklich gedacht haben sollte, irrt er.
„Sowas sehe ich hier jeden Tag”, sagt Luca zu mir. Auch er war den Polizisten hinterher gerannt. Luca macht gerade Zivildienst bei einer Südtiroler Hilfsorganisation. In einer blauen Weste mit der Aufschrift „Aid Worker” steht er am Bahnhof. Gerade hat er zwischen Polizei und Flüchtlingen vermittelt.
„Jeder, der mit dem Zug Richtung Norden flüchtet, muss irgendwann durch Bozen”, sagt Luca. „Wie viele Flüchtlinge kommen hier durch?”, frage ich. „150 am Tag. Seit Anfang April.” Das macht grob überschlagen fast 15.000 Flüchtlinge in einem Vierteljahr. Nicht mitgezählt sind diejenigen, die mit dem Zug durchfahren und gar nicht erst aussteigen.
Zehn Minuten später stehen die zehn Flüchtlinge vor dem Polizeirevier am Ende des Bahnhofs. Weil sie keine Personaldokumente dabei haben, mussten sie trotz gültiger Fahrkarten aussteigen. Fast alle kommen aus Eritrea und sind in Lampedusa mit dem Boot angekommen. Keiner von ihnen will in Italien bleiben. Ihr Ziele: Deutschland, Norwegen oder Schweden.
Neben dem Eingang der Bahnhofswache lehnt einer der Flüchtlinge mit der Stirn gegen die Wand und betet. Weil er aus Tunesien kommt, muss er als Einziger seine Fingerabdrücke abgeben. Warum sie einen Unterschied machen, frage ich einen Polizisten. „Eritrea ist ein Kriegsland, da sind wir großzügiger”.
Die Carabinieri sprechen langsam und geduldig mit den Flüchtlingen, geben ihnen Zigaretten, lächeln. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, sie würden sich für das, was sie hier machen, rechtfertigen wollen. Einer der Polizisten, mit schwarzen, kurzen Haaren und akkuratem Vollbart, geht an mir vorbei: „Ich kann das nicht mehr sehen”, sagt er. „Wird Zeit, dass ich mir einen anderen Job suche.” Sein Lächeln verschwindet.
Nach einer Stunde dürfen die Flüchtlinge gehen. Nur der Tunesier hat eine Anzeige bekommen—wegen „unerlaubter Einreise”. „Bei den Anderen können wir nichts machen”, sagt der Polizist. Kurze Pause. „Und wir wollen auch nicht.” Als ich mir den Satz auf meinem Block notiere, schüttelt er den Kopf. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass Italien die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Norden nicht aufhalten will. Asyl beantragen? Lieber woanders.
Luca bringt die Flüchtlingsgruppe zurück zum Bahnsteig. „Weiter Richtung Norden, ihrem Traum entgegen”, sagt Luca. Er muss selbst schmunzeln, weil es so kitschig klingt. Natürlich darf Luca nicht bei der Flucht helfen. Aber wenn keiner zuhört, sagt er den Flüchtlingen, dass es besser ist, die Bummelzüge zu nehmen. Die kleinen Züge, die in jedem Dorf halten, werden von der Polizei kaum kontrolliert. Auf Gleis 5 kommt gleich ein Regionalzug zum Brenner, dem Grenzort zu Österreich.
Während Luca und die Flüchtlinge in der Unterführung verschwinden, setze ich mich ins Bahnhofscafé. Plötzlich taucht ein Junge neben mir auf. Ob ich ihm ein Ticket nach Deutschland kaufen könne, fragt er. Und zeigt mir sein Geld: 300 Euro. Ich erinnere mich daran, wie ein Freund davor warnte, Flüchtlingen zu helfen. Fluchthilfe sei strafbar, sagte er.
Ich bin Philipp. Wie heißt du? „Ich bin Robel.” Wie alt bist du? „17.” Kann er sich die Fahrkarte nicht selbst kaufen? „Nein”, sagt er. Und erzählt mir von einem Typen am Bahnhof Termini in Rom. Ein Sudanese, der ihm sagte, dass er in Italien ohne Ausweispapiere keine Fahrkarten kaufen könne. Aber er, der Sudanese, könnte ihm eins verkaufen. Robel zahlte für sein Ticket von Rom nach Bozen 120 Euro. Normalpreis: 50 Euro. Der hat dich betrogen, sage ich ihm. Du brauchst keinen Ausweis, um in Europa eine Zugfahrkarte zu kaufen.
Robel kauft ein Ticket nach München. Er hält es mir hin. Ich frage, warum er nach Deutschland will. „Deutschland ist einfach gut”, sagt er. „Meine beiden Brüder sind schon dort. Aber Schweden ist besser. Das beste Land der Welt”, sagt Robel. „Dort bekommt man als Flüchtling 700 Euro. Von der Regierung.”
Ich frage Robel nicht, woher er die Info hat. Unter den Flüchtlingen kursieren viele solcher Legenden. Auf einmal wirkt er sehr jung auf mich. Verwundbar. Er kommt aus Eritrea. „Von Libyen aus bin ich mit einem kleinen Boot gefahren.” Mehr will er von seiner Reise nicht erzählen. Das Geld dafür habe er von seinem Bruder geschickt bekommen.
Der Intercity von Verona nach München fährt ein. Robel springt auf, gibt mir die Hand—und ist weg. Ich beschließe, meine Sachen zu packen und am nächsten Tag selbst in den Zug zu steigen. Ich will selbst sehen, welche Route Robel und die anderen nehmen.
Am Morgen stehe ich wieder auf dem Bozener Bahnhof. Die Sonne brennt, als sich fünf Minuten nach 8 ein grauer Koloss in die Station schiebt. Der Nachtzug aus Rom. Wie jeden Tag stehen die Helfer in ihren blauen Westen schon an Gleis 5 und erwarten die Flüchtlinge. Wie jeden Tag dauert es ein bisschen, bis die ersten aussteigen. Zögerlich betreten sie den Bahnsteig, schauen sich fragend um. Junge Afrikaner, mit großen Taschen. Junge Afrikanerinnen, mit Kindern auf dem Rücken. Nach und nach klettern mehr aus dem Zug. Ich schätze, dass es mindestens 100 sind. Die Polizisten stehen vor dem Bahnhofscafé und schauen nicht einmal herüber.
Mit den Flüchtlingen steigen auch zwei italienische Fotografen aus. Francesco und Danilo. Francesco erzählt, dass sie ein paar der Flüchtlinge im „Baobab” kennengelernt hätten. Das „Baobab” ist ein Auffanglager für Flüchtlinge in der Nähe des Termini-Bahnhofs in Rom.
Sie begleiten die Flüchtlinge schon fast zwei Wochen, sie fotografieren eine Reportage für eine Stiftung. Ich frage, ob es normal ist, dass es so viele sind.
„Jeden Abend steigen hundert Flüchtlinge in Rom in den Nachtzug”, sagt Francesco. „Jeden Morgen steigen sie hier um in den nächsten Zug nach Norden.”
Genau eine Stunde später steige ich mit Danilo, Francesco und den Flüchtlingen in den Zug zum Brenner. Eine Frau in blauer Weste, sie arbeitet für die gleiche Organisation wie Luca, gibt den Flüchtlingen Handzeichen. Steigt ein, das ist der richtige Zug! Hektisch springen sie in die Bahn. Weit und breit ist keine Polizei zu sehen.
Während der Zug langsam zum Brennerpass raufklettert, stellt mir Francesco ein paar Flüchtlinge vor.
Die beiden Fotografen sind für die Flüchtlinge zu einer wichtigen Instanz geworden. Ständig kommt jemand und fragt. Wo sind wir? Wie geht es weiter? Habe ich die richtige Fahrkarte? Als im Nachtzug ein Flüchtling keine hatte, haben Francesco und Danilo ihm das Geld dafür gegeben.
Der Zug wird langsamer. Aus dem Fenster sehe ich einen Grenzübergang, der nicht mehr in Betrieb zu sein scheint. Die Schranken sind oben, Autos fahren einfach hindurch. Das muss der Brenner sein. Die Grenze zwischen Italien und Österreich. Die Flüchtlinge springen auf, holen ihre Taschen aus der Gepäckablage über den Sitzen. Hastig drängen sie in Richtung Ausgang. Ich bin gespannt, was jetzt passiert.
Der Brenner sei die neue Außengrenze Europas, hatte ich gehört. Davon merkt man: nichts. Keine Polizei, kein Bahnpersonal. Überhaupt keine Uniformen. Nur eine Frau in kurzen Hosen, Anfang 40. Sie holt die Flüchtlinge am Zug ab. Am nächsten Gleis zeigt sie auf den Fahrplan: 11.28 Uhr fährt der Zug nach Kufstein, den müsst ihr nehmen. Manchen hilft sie auch beim Fahrkartenkauf. Ich denke: Wenn die Frau nicht hier stehen würde, wären die Flüchtlinge ziemlich verloren. Als ich sie frage, wer sie ist, reagiert sie nicht. Später sagt sie nur, dass sie freiwillig hier sei. Um zu helfen.
Der Zug mit den Flüchtlingen überquert die Grenze nach Österreich. Vor dem Fenster prahlt die Natur mit allem, was sie hat. Satte grüne Wiesen, kristallklare Bergseen vor schneebedeckten Bergen. Wie im Paradies. Eine Gruppe junger Flüchtlinge klebt mit ihren Gesichtern am Fenster. Das ist also das Europa, von dem immer alle reden.
Zwei Stunden trödeln wir durch Österreich. Einige Flüchtlinge schlafen. Manche unterhalten sich. In Kufstein, dem letzten Ort vor der deutschen Grenze, ist Endstation. Wieder alle raus. Nachdem sie noch ein paar Fotos gemacht haben, verabschieden sich Francesco und Danilo. Sie sind seit 14 Stunden unterwegs, abends wollen sie wieder in Rom sein. „Wie es aussieht, gibt es gibt keine Kontrollen”, sagt Francesco. „Warum sollten wir noch weiterfahren?”
Schon auf dem nächsten Bahnsteig bricht das Chaos aus. Die Flüchtlinge irren über den Bahnhof. Scheinbar kann niemand die Schilder lesen. Es gibt auch kein Bahnpersonal, das man fragen könnte. Plötzlich ruft jemand: „München, Germany!” Auf dem Gleis nebenan ist tatsächlich ein Zug nach München angeschrieben. Kurz darauf sind wir in Deutschland.
Während ich darüber nachdenke, wie einfach es ist, illegal durch Europa zu reisen, meldet sich der Schaffner: „Wehrte Fahrgäste, wie jeden Tag kommt es in Rosenheim aufgrund eines Polizeieinsatzes zu einer Verzögerung. Wir bitten Sie, dass zu entschuldigen.”
Als wir in Bahnhof einfahren, sehe ich Polizisten mit Hunden. Die Flüchtlinge bleiben ruhig in ihren Sitzen. Sie haben die Ansage nicht verstanden.
Als die Polizisten von beiden Seiten in den Waggon kommen, stehen die Flüchtlinge ruhig auf. Ich hatte erwartet, dass einige Gegenwehr leisten. Zumindest verbal. Jetzt wirken viele nicht einmal überrascht. Manche lächeln sogar, als sie den Zug verlassen.
„Was machen Sie hier?” fragt mich eine ältere Dame. Ich bin Journalist. „Nein, ich meine die Schwarzen.” Das sind illegale Flüchtlinge. „Oh, ich dachte, die machen eine Klassenfahrt.”
Draußen werden die Flüchtlinge in einer Unterführung eingesperrt. Unten zwei Polizistinnen mit Hunden, oben männliche Kollegen. Als ich die Szenerie mit der Kamera dokumentiere, kommen zwei Uniformierte auf mich zu: „Guten Tag, Bundespolizei. Sie filmen erkennungsdienstliche Maßnahmen. Bitte verlassen Sie den Bahnhof.”
Ich mache die Kamera aus und frage den Polizisten, was mit den Flüchtlingen passiert. Er sagt, sie stellen die Identitäten fest. Wenn noch kein Asylverfahren in einem anderen Land läuft, werden sie aufgefordert, sich beim Bundesamt für Flüchtlinge zu melden. Um dort ihr Asylverfahren zu starten. In drei bis vier Stunden sind sie wieder frei.
Passiert das hier jeden Tag, frage ich ihn. „Jeden Tag”, antwortet er.
Vor dem Bahnhof lege ich mich erschöpft auf eine Bank. In einiger Entfernung werden die Flüchtlinge einzeln in einen Polizeibus gebracht. Ich erinnere mich an die Aussage von Francesco, heute Morgen in Bozen. Und wandele sie um.
Jede Nacht steigen in Rom hundert Flüchtlinge in den Zug. Jeden Tag endet ihre Fahrt in Rosenheim.
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