Im Westen Bayerns, da, wo das kleine Örtchen Wallerstein liegt, schlug vor 15 Millionen Jahren ein Asteroid ein. Der Aufprall war so heftig, dass geschmolzenes Gestein bis ins heutige Tschechien flog und dort als grüner Glasregen niederging.
Neulich hat es in Wallerstein mal wieder gerumst. Und der Knall war auch dieses Mal weit über Deutschland hinaus zu hören.
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Sener Sahin, 44, geboren und aufgewachsen in der Gegend, erfolgreicher Unternehmer und Fußballtrainer, sollte als Bürgermeisterkandidat der CSU antreten. So weit, so normal, wäre Sahin nicht Muslim – und hätten nicht einige in der CSU genau damit ein Problem.
Sie beschwerten sich beim Orts- und Kreisverband, bei ihrem Bundestagsabgeordneten. Das C in CSU stehe halt für christlich. Manche drohten mit ihrem Rückzug von der Liste für die ebenfalls anstehende Gemeinderatswahl, sollte Sahin kandidieren. Der zog daraufhin selbst zurück.
So erzählten es Sahin und der CSU-Ortsverbandsvorsitzende Georg Kling dem Bayerischen Rundfunk. Kling sagte: “Wir sind auf dem Dorf und wir sind noch nicht so weit.”
Aber stimmt das? Ist Wallerstein wirklich ein Dorf, dessen 3.300 Einwohner keinen Muslim als Bürgermeisterkandidaten ertragen könnten?
Dienstagmittag auf der Hauptstraße, die hier genauso heißt. Eine sogenannte Pestsäule erinnert an die letzte Pestwelle Anfang des 18. Jahrhunderts. “Hier wacht der Hund”, steht da, Engelsköpfe wuchern über Heiligenfiguren hinweg und ganz oben schwebt ein goldenes Kreuz.
Direkt daneben machen hagere TV-Reporter vor der Kamera den Rücken krumm, damit es im Fernsehen so aussieht, als würden sie auf Augenhöhe mit älteren Damen sprechen. Es ist viel Presse im Ort.
Sener Sahin selbst steht für ein Interview nicht zur Verfügung. Er habe alles gesagt, sagt er am Telefon, hörbar fertig mit der Welt und den Nerven. Gesagt hat er der Süddeutschen, dass er auf niemanden böse sei, aber auch, dass er von Anfang an Bedenken angemeldet habe.
Seitdem sein Rückzug bekannt wurde, wollen selbst Medien aus dem Ausland mit ihm sprechen. Denn der Fall Sahin wirft die Frage auf, wie weit und offen Deutschland wirklich ist; dieses Land, das selbst Menschen, die hier geboren wurden, noch Integrationsdebatten aufzwingt. Und das doch offenbar selbst einen musterhaft Integrierten ablehnt, wenn es darauf ankommt.
Das CSU-Establishment um Ministerpräsident Söder war schnell um Schadensbegrenzung bemüht, alle schlugen sich auf Sahins Seite. Doch der ließ und lässt sich nicht umstimmen.
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Auf der Hauptstraße: Werktags-Wuselei, die Kassen klingeln in einer Tour. In der Bäckerei gibt es Schinkennudeln mit Käse und Ei zum Mittag, zwei Handwerker gönnen sich das erste Bier des Tages. Die Metzgerei schließt “wegen Fachkräftemangel” bereits um 13:30, informiert ein Aushang.
Nur reden will kaum jemand über Sener Sahin und die CSU.
Eine Kundin an der Wursttheke erzählt, sie sei als Kind vor gut 50 Jahren aus Tschechien hierher gekommen: “Ich wähle nicht CSU, aber ihn hätte ich gewählt.” Dann muss sie auch schnell weiter. Den beiden Handwerkern ist es “wurscht”. Die Metzgereifachfrau will nichts sagen, die Schichtleiterin in der Bäckerei auch nicht, außer dass alles ganz anders sei, als es berichtet worden wäre. Keine Nachfragen erlaubt. Auch viele der CSU-Leute sind entweder nicht zu erreichen, oder sie lehnen ein Gespräch ab.
“Da ist es explodiert”
Einer, der spricht, ist Karl-Heinz Thum. Der Rentner und Beisitzer im Ortsvorstand lädt zu sich nach Hause ein. Ein prächtiger Weihnachtsbaum steht noch im Wohnzimmer, bald geht es in die Karibik: Thums Frau ist gerade Rentnerin geworden.
Sener Sahin, sagt Thum, sei ein ehrgeiziger Typ. Man habe bei den Alten Herren zusammen Fußball gespielt und Thum habe seine Kandidatur von Anfang an unterstützt. Ohnehin hätte die CSU dringend einen Kandidaten gebraucht.
Denn bei Bezirks-, Landtags- und Bundestagswahlen fährt die Partei in Wallerstein zwar immer überdurchschnittliche Ergebnisse ein. Bei der letzten Gemeinderatswahl vor sechs Jahren kam man allerdings nicht mal auf ein Viertel aller Stimmen. Hier dominierten parteifreie Wählergruppen.
Zu so einer gehört auch Wallersteins Bürgermeister, Joseph Mayer. 2014 gewann er bereits zum dritten Mal, damals sogar ohne Gegenkandidaten von der CSU. Das wollte der Vorstand des Ortsverbandes mit Sahin ändern, sagt Thum: “Wahl heißt Wahl, die Leute müssen wählen können.”
Mitte Dezember wandte sich der Ortsvorsitzende Kling an die Lokalzeitung und verkündete stolz Sahins Kandidatur. Da war der weder der CSU beigetreten noch nominiert. Und schon gar nicht wussten alle örtlichen Parteimitglieder in Wallerstein Bescheid.
“Da”, sagt Thum, “ist es explodiert.”
Das kann ned, das geht ned, hätten Parteifreunde gemeint. Thum sagt, er wundere sich über die Diskussion. Sahin sei schließlich nicht der erste Mensch mit türkischem Namen, der auf einer Gemeinderatswahlliste in Wallerstein aufgetaucht wäre. Auch hätten Bürgermeisterkandidaten auf dem Land selten große politische Erfahrung vorzuweisen. Und anderswo in Bayern herrsche ein regelrechter Kandidatenmangel.
Der bayerische Gemeindetag geht davon aus, dass sich weit mehr als die Hälfte der Bürgermeister im Freistaat 2020 nicht noch mal zur Wahl stellen wird. Die Gründe dafür seien neben dem Stress auch Hass und Hetze, on- wie offline.
Solche Anfeindungen soll Sener Sahin schon jetzt erhalten haben. “An seiner Stelle hätte ich auch zurückgezogen”, sagt Thum. Die Namen der Beschwerdeführer möchte er dennoch nicht nennen.
“Wenn Deutsche Döner verkaufen können, warum können dann nicht auch Türken Bürgermeister werden?”
Zurück auf der Hauptstraße lässt sich noch immer niemand finden, der sich bei der CSU beschwert hat. Aber es sind Menschen jenseits der 40 und älter, die den Eindruck vermitteln, dass die CSUler, die sich über Sahin mokiert haben, nicht ohne Rückhalt sind. Mit Foto oder Namen in der Presse auftauchen wollen sie nicht.
Sie sagen, dass die CSU ein Chaos-Verein sei, der überall die Leute auswechsle. Oder dass “das mit den Muslimen” ohnehin Überhand nehme. Dass Sahin “hochnäsig und eingebildet” sei. Dass es doch “genug von uns” hier gebe.
Eine Frau sagt: “Eigentlich müsste man ja weiter sein, aber: Wenn ich höre, dass der Türke und Muslim ist, dann denke ich an die Türkei, an Erdogan, an das Chaos da.”
Nur wenige, die wir sprechen, verurteilen klar das Vorgehen der CSU. Eine davon ist Nilkan Tepe. Sie betreibt den einzigen Döner-Laden in Wallerstein.
Tepes Dönerladen besteht aus zwei kleinen Tischen, einer Theke und zwei Spielautomaten, vor denen gerade Michi in seinem Rollstuhl sitzt und einen der beiden leerräumt. Die Chefin knipst das Feuer hinterm Spieß an. Tepe kommt aus Nürnberg, ihre Familie wie Sahins aus der Türkei. Die Menschen in Wallerstein, die gegen seine Kandidatur waren, die hätten “menschlich verloren”, sagt Tepe. “Wenn Deutsche Döner verkaufen können, warum können dann nicht auch Türken Bürgermeister werden?”
Es störe sie, dass die Verwaltung ihr noch immer Briefe schicke, die an den Vor-Vor-Besitzer des Ladens adressiert sind. Bürgermeister Mayer schaue zwar manchmal vorbei, käme aber nur bis an die Tür und auch nur, um zu fragen, ob das da vor der Tür Tepes Auto im Parkverbot sei. Wie es ihr gehe, hätte er noch nie gefragt.
“Es ist kein Großteil der Bevölkerung, der gegen die Muslime ist.” – in dem Moment sagt der andere Teil Grüß Gott
Und dann findet sich doch noch jemand, der sich bei der CSU über Sahin beschwert haben will. Irmgard Tischinger ist eine stilsichere Dame jenseits der 70. Ihr verstorbener Mann sei in der CSU gewesen. Sichtbar aufgewühlt nestelt sie an ihren roten Lederhandschuhen. Es sei schließlich alles ganz anders gewesen.
Tischinger sagt, sie fände Cem Özdemir gut und habe mitgeholfen, als im Ort Asylsuchende untergebracht werden sollten. Aber dass Sener Sahin für die CSU antreten sollte, das habe sie aus der Zeitung erfahren, das sei einfach so über die Menschen hinweg entschieden worden. “Der hat sich nicht angetragen, sich nicht vorgestellt”, sagt Tischinger. Und Erfahrung habe er auch keine. Die hatte der jetzige Bürgermeister zwar auch nicht, aber der sei wenigstens von Beruf Jurist.
Deshalb habe sie nach Neujahr bei der CSU in Nördlingen angerufen, wo auch der Bundestagsabgeordnete Ulrich Lange sein Wahlkreisbüro hat. Dort habe sie ihr Unverständnis zum Ausdruck gebracht, sagt Tischinger. Doch sie könne sich noch erinnern, wie man sie am Ende des Telefonats fragte: “Warum haben Sie denn jetzt angerufen? Etwa weil er Muslim ist?”
Nein, sagt Tischinger, deshalb nicht, und fügt an: “Es stimmt nicht, was berichtet wurde. Es ist kein Großteil der Bevölkerung in Wallerstein, der gegen die Muslime ist.”
Doch der andere Teil sagt in dem Moment Grüß Gott. Eine Bekannte von Tischinger kommt von der anderen Straßenseite herüber, grüßt freundlich und legt sofort los, als sie das Thema erfährt. Ja, sagt sie, sie habe sich ebenfalls beschwert. Weil er Muslim sei? “Ja klar, zuerst deshalb.”
Die Frau, die anonym bleiben möchte, will sich am zweiten Weihnachtsfeiertag persönlich beim Bundestagsabgeordneten Lange beschwert haben. Sie sagt über Sahin, dass er hochnäsig sei, und: “Ja, beim Fußball war er immer, aber wo war er denn sonst?” – als ob Sahin schon Bürgermeister sein müsste, um Bürgermeister werden zu können. Und CSU und ein Muslim an der Spitze, das gehe nicht zusammen.
Sie stamme aus Birkhausen, einem von drei Ortsteile neben Wallerstein. “Wissen Sie”, sagt sie, “wenn wir früher nach Ehringen zum Tanzen gefahren wären, da hätten sie uns die Füße abgehackt.”
Birkhausen ist katholisch, Ehringen evangelisch, Wallerstein mittlerweile beides. Ökumenisch ging es hier im Westen Bayerns jahrhundertelang kaum zu. Was die Eltern der heutigen Rentnergeneration noch verboten haben, ist heute normal: dass Lutheraner Katholikinnen heiraten und andersherum. Gemeinsam engagiert man sich in der CSU.
Nur auf einen in Deutschland geborenen Muslim wie Sener Sahin, verheiratet mit einer Protestantin, da scheinen einige die selbst erfahrene Toleranz nicht übertragen zu können.
Die CSU tritt jetzt ohne eigenen Kandidaten an
Was auffällt: Niemand, nicht Frau Tischinger, nicht ihre Bekannte, nicht Herr Thum und sonst irgendjemand, scheint zu glauben, dass die CSU überhaupt eine Chance gehabt hätte bei der Wahl. Zu groß ist die Zufriedenheit mit Joseph Mayer, dem jetzigen Bürgermeister.
“Was soll man sagen? Mayer sitzt verdammt gut im Sattel”, sagt eine Passantin. Mehr als ein Achtungserfolg wäre gegen ihn wohl nicht drin gewesen.
Die CSU in Wallerstein hätte nichts zu verlieren gehabt. Nicht mit einem muslimischen Kandidaten, nicht mit einer Katholikin, nicht mit einem Protestanten. Und sie hätte noch bis zur Wahl Mitte März Zeit gehabt, sich mit Sener Sahin anzufreunden.
Jetzt aber tritt sie ohne eigenen Kandidaten an. Jetzt haben alle verloren.
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