Menschen

Gustavo ist blind, seit er von der chilenischen Polizei angeschossen wurde

Der 21-Jährige braucht deine Hilfe, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen.
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Gustavo Gatica | Foto: Reuters

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit Amnesty International entstanden. Hier kannst du selbst am Briefmarathon teilnehmen. Dein Handeln kann das Leben eines Menschen verändern.

Am 8. November 2019 wimmelte es in den Straßen der Innenstadt von Santiago von Demonstranten. Eine Gruppe von ihnen hatte sich auf einer kleinen Nebenstraße vor Vicuña Mackenna, einer der Hauptverkehrsstraßen durch die chilenische Hauptstadt, versammelt. Sie sangen Parolen gegen die Carabineros, die Polizei des Landes, während ein paar von ihnen angeblich Steine auf Einsatzfahrzeuge warfen, die auf der Straße geparkt waren.

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Nach Angaben des Staatsanwalts hatte sich der Polizist und taktische Einsatzführer Claudio Crespo Guzmán vor der Menschenmenge verborgen, indem er sich an eine Wand drückte. Als die Menschen sich ihm näherten, hob er seine Schrotflinte und feuerte ein Gummigeschoss direkt in den Oberkörper des 21-jährigen Gustavo Gatica. Zwei der insgesamt zwölf Munitionsteile drangen in Gustavos Augen ein, wodurch er dauerhaft erblindete.

Die Proteste hatten am 18. Oktober als Reaktion auf einen Anstieg der U-Bahn-Gebühr um 30 Peso begonnen. Sie entwickelten sich jedoch schnell zu einer breiten Anti-Regierungs-Bewegung.

"Ich habe zusammen mit Tausenden von Menschen gegen das neoliberale Modell protestiert, das uns in Chile während der zivil-militärischen Diktatur von Pinochet auferlegt worden war", sagt Gustavo Gatica. "es ist ein Modell, das alle wesentlichen Dienstleistungen für das Wohlergehen der Menschen wie Gesundheit, Bildung, sogar Wasser und andere natürliche Ressourcen privatisiert hat."

In den ersten Tagen der Unruhen in Chile führten Gewalt und Proteste dazu, dass ein Großteil des Nahverkehrsnetzes in Santiago geschlossen wurde. Es folgten weit verbreitete Unruhen und Demonstrationen. Als Reaktion darauf gingen die Carabineros scharf gegen Demonstranten vor, während die Regierung den nationalen Notstand erklärte und eine Ausgangssperre verhängte. Hunderttausende gingen auf die Straße, was zu 36 Todesfällen (Stand Februar 2020), 11.564 Verletzungen und rund 28.000 Inhaftierungen führte. Hunderte Menschen erlitten durch die Waffen der Polizei Augenverletzungen und zwei der Demonstranten, Gustavo Gatica und Fabiola Campillai, sind für immer erblindet.

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Fabiola Campillai gehört zur Arbeiterklasse und hatte ihr Zuhause verlassen, um sich auf den Weg zu ihrer Nachtschicht in einer Fabrik zu machen. Laut Fabiola führten Unruhen auf der Straße dazu, dass ein Polizist eine Gasgranate direkt in ihr Gesicht schoss, wodurch sie drei ihrer fünf Sinne verlor.

"Die Polizei in Chile hat in der Vergangenheit sogar friedliche Demonstrationen gewaltsam unterdrückt", sagt Ana Piquer, Exekutivdirektorin von Amnesty International Chile. "Auch nach dem Ende von Pinochets Regime reagierte die Polizei weiterhin aggressiv auf Proteste, wobei viele ihrer Menschenrechtsverletzungen ungestraft blieben. Menschenrechtsverletzungen gegen die indigene Population im Süden Chiles [Mapuche] durch die Polizei sind ebenfalls häufig."

"Mit den sozialen Unruhen, die am 18. Oktober 2019 begannen, erstreckten sich diese Übergriffe auf die gesamte Bevölkerung, die für Gleichheit und eine menschenwürdige Behandlung auf die Straße ging. Die Folge war die schlimmste Menschenrechtskrise, die wir seit dem Ende des Militärregimes gesehen haben. Amnesty International ist zu dem Schluss gekommen, dass allgemeine Verletzungen des Rechts auf Unversehrtheit begangen worden sind und die Verantwortung der Befehlskette bis hin zur höchsten Ebene untersucht werden muss."

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Gustavo Gatica, bevor er erblindete | Foto mit freundlicher Genehmigung von Gustavo Gatica

In dem Jahr seit Ausbruch der Proteste haben sich sowohl Chile als auch der Rest der Welt unwiderruflich verändert. Also forderten die Demonstrierenden eine neue Verfassung. Sie argumentierten, dass die unter dem ehemaligen Staatsoberhaupt, Augusto Pinochet, verfasste und eingeführte Verfassung einen Großteil der strukturellen Ungleichheit gesetzlich verankert hatte, wegen denen die Demonstrierenden auf die Straße gingen.

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"Die chilenische Verfassung sieht vor, dass die Streitkräfte und Carabineros in Chile das Gewaltmonopol im Land haben", sagt Piquer. "Die Carabineros sind eine militarisierte Institution, deren Struktur nach der Rückkehr des Landes zur Demokratie in keiner Weise reformiert wurde. Weil ihre Handlungen nie eine Strafe nach sich zogen, wurden die allgemeinen Menschenrechtsverletzungen erst ermöglicht, die wir leider von Oktober letzten Jahres bis heute erlebt haben."

Diese Menschenrechtsverletzungen erregten in der zweiten Hälfte dieses Jahres erneut weltweite Aufmerksamkeit, als ein Video eines Polizeibeamten Schlagzeilen machte. Es scheint zu zeigen, wie er einen 16-jährigen Demonstranten von einer Brücke in Santiago stößt. Der Teenager landete mit dem Gesicht nach unten im Flussbett und erlitt ein Kopftrauma und ein gebrochenes Handgelenk. Die Carabineros ignorierten ihn.

Gustavos Verletzungen haben sein Leben verändert. "Auf körperlicher Ebene hat die völlige Blindheit vom Moment des Aufpralls an sogar dazu geführt, dass ich neu laufen lernen, andere Sinne entwickeln und auf psychologischer Ebene trainieren musste, anders zu fühlen", erklärt er.

Die Aufmerksamkeit für Gustavos Verletzungen hat ihn ins Rampenlicht gerückt und ihn zu einem Aushängeschild für die Bewegung gemacht – was eigentlich nicht in seiner Natur liegt. "Ich für meinen Teil bewundere die Menschen sehr, die in all den Monaten weiter gekämpft haben. Das muss unglaublich anstrengend gewesen sein", sagt er. "Ein Jahr ist vergangen und die Menschen sind immer noch auf den Straßen, obwohl die Polizei und das Militär geschossen haben, Menschen ermordet haben. Sie haben sie überfahren, Menschen in den Fluss geworfen, mehr als 400 Augenverletzungen verursacht. Sie haben Menschen verbrannt, vergewaltigt und gefoltert. Ich nehme an, das ist das Gefühl, das durch das, was mir und vielen anderen Menschen widerfahren ist, erzeugt wird – viel Wut."

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Diese Wut führte am 25. Oktober dieses Jahres zu einem Verfassungsreferendum, bei dem die Menschen in Chile mit überwältigender Mehrheit dafür stimmten, die Verfassung der Pinochet-Ära zu widerrufen und einen neuen Weg für das Land einzuschlagen.

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Trotz des Sieges bleibt Gerechtigkeit für Gustavo und die Tausenden anderen, die bei den Protesten getötet oder verletzt wurden, bisher noch aus. Während Crespo Guzmán für die Erblindung Gustavos strafrechtlich verfolgt werden soll, fordern Menschenrechtsorganisationen, alle die die Befehle gaben, ebenfalls vor Gericht zu stellen. 

"Wir glauben, dass nach dem Fall Gustavo Gaticas weiter untersucht werden könnte, wer in der Befehlskette in Chile verantwortlich war – und dass er einen Präzedenzfall schaffen könnte. Das würde den Weg für Hunderte von Fällen ebnen, deren Menschenrechte im Zusammenhang mit den Protesten im Jahr 2019 verletzt worden waren", so Ana Piquer. "Wir erwarten von der 'Briefmarathon'‘-Kampagne, dass die Fälle von tatverdächtigen Polizeibeamten, Kommandeuren und anderen Vorgesetzten untersucht werden. Und dass sie, sofern ausreichende zulässige Beweise vorliegen, normale Zivilgerichte in fairen Verfahren strafrechtlich verfolgen.

Die Polizeigewalt in Chile und ihre Menschenrechtsverletzungen haben bereits einige öffentliche Aufmerksamkeit und ein gewisses Maß an internationaler Medienberichterstattung nach sich gezogen. Mehr Aufmerksamkeit würde wahrscheinlich Druck auf das Vorgehen der Generalstaatsanwaltschaft, der Gerichte und der Carabineros ausüben, interne Untersuchungen durchzuführen."

Für Gustavo ist die Unterstützung von entscheidender Bedeutung – nicht nur für ihn selbst, sondern für die Tausenden von Menschen in Chile auf der Suche nach Gerechtigkeit. "Der chilenische Staat war schon immer mehr darum besorgt, was von außen über Chile gesagt wird, als um die Gefühle des eigenen Volkes. Ich halte es deshalb für überaus notwendig, Druck auf die Regierung auszuüben", erklärt er. "Aus diesem Grund wollten wir den Fall vorstellen: Es ist notwendig, dass Gerechtigkeit geübt wird, nicht nur in meinem Fall, sondern auch in Bezug auf die Tausenden von Menschenrechtsverletzungen, die seit dem 18. Oktober begangen wurden."

Klicke hier, um dich an der Briefmarathon-Kampagne von Amnesty International zu beteiligen. Deine Aktion kann helfen, diejenigen vor Gericht zu bringen, die im Verdacht stehen, für Gustavos Verletzungen verantwortlich zu sein.