Schon bevor sie eingeschult wurde, bat Amelie ihre Mutter bei langen Autofahrten, ihr Rechenaufgaben zu stellen, damit sie sich nicht langweilt. Nach drei Monaten in der ersten Klasse las sie Bücher, die sie nach Lehrplan frühestens am Ende des Schuljahres hätte lesen können. Und wenn die anderen Kinder eine halbe Stunde dafür brauchten, ihre ersten Additionen und Subtraktionen auszurechnen, saß Amelie nach zehn Minuten gelangweilt in der Schulbank. Als die Lehrer und Lehrerinnen sie irgendwann nicht mehr beschäftigen konnten, ließen sie in der dritten Klasse Amelies IQ testen, der gemessene Wert: 141. Damit gehört Amelie zu schätzungsweise 2 Prozent der Weltbevölkerung, die hochbegabt sind. “Ich musste für mich für meinen Realschulabschluss quasi gar nicht vorbereiten“, sagt die heute 19-Jährige.
Über sich selbst sagt Amelie, sie sei ein Beispiel dafür, dass nicht alle Hochbegabten mit 16 ihr Abitur machen und an die Uni gehen. Zwar übersprang sie nach dem Test die dritte Klasse, als ihre Familie später von Brandenburg nach Sachsen zog, wurde sie lehrplanbedingt aber wieder zurückgestuft. “Später hatte ich Depressionen und habe ein Jahr ausgesetzt”, sagt sie. Heute wohnt sie in Chemnitz und macht ihr Fachabitur in Gestaltung, danach will sie Maskenbildnerin oder Tätowiererin werden. “Hochbegabung bedeutet nicht, dass man überall gut ist”, sagt sie, “Ich habe zum Beispiel Probleme mit Chemie und Physik.” Amelie hat nach dem ersten noch vier weitere IQ-Tests gemacht, einmal erreichte sie einen Wert von 146. Wir haben Fragen.
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VICE: Schaust du auf andere Menschen herab, weil sie nicht ganz so intelligent sind wie du?
Amelie: Definitiv nicht. Es ist normal, dass jeder Mensch unterschiedliche Interessen hat. Vielleicht ist das, wofür ich mich interessiere, einfach etwas außergewöhnlicher. Eins meiner Hobbys ist es, stundenlang Wikipedia-Artikel zu lesen. Ich kenne die Lebensgeschichten vieler Autoren und kann zu jedem Thema irgendwas beisteuern. Manche Freunde behaupten, ich sei allwissend. Ob ich mit Leuten klarkomme, hat aber nicht wirklich etwas mit ihrem Intelligenzquotienten zu tun. Ich finde Menschen dumm, wenn sie rechts sind oder falsche Tatsachen wiedergeben, nicht, weil sie weniger intelligent sind als ich. Mein Freund hat zum Beispiel “nur” einen Realschulabschluss und ist Elektroniker. Trotzdem kann ich mit ihm lange Gespräche führen.
Lässt du deine Lehrer und Lehrerinnen manchmal absichtlich spüren, dass du schlauer bist als sie?
Ich versuche, normal am Unterricht teilzunehmen, auch wenn ich mich in manchen Fächern ständig melde, weil ich alle Antworten kenne. In Englisch habe ich mich allerdings einmal mit meiner Hochbegabung rausgemogelt: Wir hatten eine neue Lehrerin, die noch nicht wusste, wie gut ich bin und uns in der ersten und letzten Stunde unterrichtet hat. Ich musste einen Test nachschreiben, der nach ihrem Plan eigentlich beide Unterrichtsstunden in Anspruch nehmen würde. Weil ich vor der letzten Stunde aber nach Hause wollte, habe ich sie gefragt, ob ich gehen dürfte, wenn ich die Klausur in der ersten Stunde fertig schreiben und eine Eins bekommen würde. Sie hat “Ja” gesagt, weil sie ohnehin nicht daran geglaubt hat, dass ich das schaffe. Ich war nach 45 Minuten fertig, bekam meine Eins und ging an dem Tag eine Stunde früher nach Hause.
Bist du am Boden zerstört, wenn es mal keine Eins gibt?
Ich hab schon öfter wegen einer Zwei geweint. Dadurch, dass ich hochbegabt bin, hatten meine Eltern und die Lehrer einen gewissen Anspruch an mich. Wenn ich diese Erwartungshaltung nicht erfüllt habe, hat mich das wahrscheinlich mehr enttäuscht als sie. Eine Zeit lang war es in meinem Kopf auch sehr verfestigt, dass ich es ohne guten Noten nicht aufs Gymnasium schaffe und ohne 1,0er-Abitur womöglich auf der Straße landen oder Hartz-IV-Empfängerin werden würde. Ich hatte Mitschülerinnen, die gesagt haben, ihr Traum sei es, DM-Verkäuferin zu werden. Das konnte ich nicht nachvollziehen.
In welchen Momenten ist es am geilsten, hochbegabt zu sein?
Als ich damals Latein gelernt habe, habe ich meinem Hund die Vokabeln erklärt und mir so alles gemerkt. Ich habe in meinem Leben nur ein Mal Vokabeln gelernt. Dafür musste ich, als ich älter wurde, aber erst mal lernen, wie man lernt – für Chemie und Physik.
Hast du bei Prüfungen immer gefreestylt?
Das war immer unterschiedlich. Ich habe mich für meinen Realschulabschluss etwas für Biologie und Mathe vorbereitet, weil ich da viel auswendig lernen musste. Für Deutsch und Englisch habe ich gar nichts gelernt – und bei Letzterem trotzdem sowohl in der schriftlichen, als auch in der mündlichen Abschlussprüfung die volle Punktzahl erreicht. Als mir kurz vor den Prüfungen mitgeteilt wurde, dass ich an der Fachoberschule angenommen sei und die Abschlussprüfungen einfach nur bestehen muss, habe ich komplett aufgehört, zu lernen. Und in Biologie trotzdem eine Drei geschafft.
Langweilen dich deine Mitmenschen?
Dadurch, dass ich durch meinen Umzug nach Sachsen und meine Depressionen in der Schule zurückgestuft wurde, saß ich mit fast 18 mit ganz vielen 15-Jährigen im Klassenzimmer. Mit den meisten konnte ich nichts anfangen, weil ich gespürt habe, dass sie im Kopf an einem ganz anderen Punkt waren als ich. Vom Gefühl her war es, als unterhalte sich eine 20-Jährige mit einem Kind. Das meine ich gar nicht abwertend, aber es sind zwei ganz verschiedene Level. Ein paar Mädels aus meiner Klasse waren zum Beispiel richtige Pferdemädchen und haben Bücher über Einhörner gelesen. Mit denen hatte ich keine Gesprächsgrundlage.
Wie hart ist es, nicht dauernd zu klugscheißen?
Schon ein wenig, dabei meine ich es nicht einmal böse. Ich würde mich freuen, wenn ich etwas total Inkorrektes sagen oder ein Wort in einer Fremdsprache falsch verwenden würde und jemand mich darauf hinweisen würde. Viele nehmen das dann aber so auf, dass ich nur klugscheißen will. Bei Fremden lasse ich es mittlerweile einfach sein, aber der innerliche Drang, sie zu verbessern, ist schon groß.
Sagst du dumme Dinge, um nicht als Außenseiterin dazustehen?
An der Grundschule hatte ich nur zwei richtige Freundinnen, weil alle mich für besserwisserisch und unnormal hielten. Als ich in die Pubertät kam und immer offensichtlicher wurde, dass ich anders bin, habe ich mir manchmal gewünscht, durchschnittlich begabt zu sein, um mehr Freunde zu haben. Als Jugendliche habe ich teilweise die Themen und die Sprache anderer Leute kopiert. Mit 13 habe ich dann auf Facebook absichtlich “Süzze” statt “Süße” geschrieben oder hinter jeden Satz einen “x3”-Smiley gepackt. Dafür schäme ich mich ein bisschen. Mittlerweile habe ich mich so akzeptiert, wie ich bin.
Wurdest du schon mal von einem oder einer Sapiosexuellen angemacht?
Ich glaube, das kommt bei hochbegabten Frauen nicht so oft vor. Am Ende des Tages werde ich noch immer eher auf mein Äußerliches reduziert als auf meine Intelligenz. Wenn mich jemand auf der Straße angräbt, fragt er ja nicht nach meinem IQ. Und auch sonst kam es meines Wissens noch nie vor, dass jemand nur auf mich stand, weil ich so intelligent bin.
Stehst du unter Druck, mit deinen Fähigkeiten krassere Dinge im Leben leisten zu müssen als die restlichen 98 Prozent der Bevölkerung?
Ich muss nicht der nächste Stephen Hawking werden oder das Heilmittel für Krebs finden. Ich kann mit meinen Fähigkeiten ein produktiver Teil der Gesellschaft sein, ohne Medizinerin oder Physikerin zu werden. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich wegen meiner Hochbegabung eine größere Verantwortung hätte. Das liegt auch daran, dass meine Eltern mich ermutigt haben, das zu tun, was ich will. Mein Mutter hat nicht die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, weil ich eher Kunst machen will als Jura. Ich helfe meinen Mitmenschen, indem ich das, was ich tue, gut mache. Dann kann ich auch zufrieden mit mir sein.
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