“Hartz IV ist der größte Scheiß”, schreibt Sarah-Lee Heinrich im August 2018 auf Twitter. Der Tweet bekommt 9.000 Likes, fast 500 Kommentare, wird dreitausendmal geteilt. Sarah-Lee ist damals 17 Jahre alt, Tochter einer Hartz-IV-Empfängerin, aufgewachsen im Ruhrgebiet. Sie stößt immer wieder an ihre Grenzen, nur weil sie ein ähnliches Leben führen will wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Weil sie dazugehören will.
Heute, nur ein Jahr später, mit 18, führt Sarah-Lee eine Art Doppelleben: Einerseits ist sie Medienprofi, Mitglied der Grünen Jugend und Aktivistin, andererseits Abiturientin mit Fernbeziehung und Angst vor der Zukunft. Dauerstress. Doch gegen den Rassismus und den Hass, den sie vor und nach der Veröffentlichung ihres Tweets und einem offenen Brief auf VICE aushalten musste, ist das gar nichts.
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“Bitte keine Fotos, ich muss noch Mascara draufmachen”, sagt Sarah-Lee zu unserer Fotografin. Wimmelt danach einen Kameramann ab, als er ihr ein Ansteckmikro anbringen will. “Wir sind gerade im Gespräch.” Ein vierköpfiges Team von Vox begleitet die 18-Jährige mit der Kamera, sie scherzt mit der Reporterin als hätte sie nie etwas anderes getan. Während unseres Gesprächs schielt sie immer wieder zu einem Mann auf der Bank neben uns: “Neues Deutschland ist auch da. Mit denen will ich auch sprechen.”
Politiker können sie nicht ignorieren
Es ist Samstagnachmittag, wir sind in Berlin, gleich zieht die Demo “Es reicht für uns alle” gegen Kinder- und Familienarmut über die Straße Unter den Linden. Sarah-Lee trägt jetzt schnell noch den Mascara auf, im Stehen, mit Blick aufs schwarze Handydisplay, das ihr Freund senkrecht hochhält. Dann läuft sie mit 120 Kindern, Jugendlichen, Müttern und Vätern mit Kinderwagen und fast genauso vielen Medienleuten im Regen durch die Berliner Innenstadt. Am Ziel des Protestzugs, dem Brandenburger Tor, wird Sarah-Lee eine Ansprache halten, neben Vertretern des Kinderschutzbundes und Dietmar Bartsch, dem Vorsitzenden der Linken im Bundestag.
Man könnte Sarah-Lee Heinrich in eine Reihe stellen mit den Umweltaktivistinnen Greta Thunberg und Luisa Neubauer der #FridaysForFuture-Proteste. Sie alle sind weiblich, jung, kämpferisch, mit dem Willen etwas zu verändern. Politiker können sie nicht ignorieren. Journalisten stürzen sich auf sie. Weil sie einen Kontrast bilden zum deutschen Durchschnittsparlamentarier: männlich, Mitte 50, mit Hang zum Erhalt der alten Ordnung. Weil die jungen Frauen gesellschaftliche Missstände ansprechen, die ihre Zukunft betreffen, aber in der Gegenwart angepackt werden müssen, und zwar jetzt, bevor es zu spät ist.
Weiße Plüschjacke, Stirnband, Streifenpulli. Sarah-Lee wirkt wie eine ganz normale 18-Jährige. Bis sie anfängt zu reden. Jeder Satz plakativ. Es klingt, als habe sie jahrelange Medienerfahrung. Schon am Freitag vor der Demo konterte sie Familienministerin Franziska Giffey während der Eröffnung der Kinderschutztage in Berlin: “Der Wille, Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen, sollte auch ohne wirtschaftliche Anreize da sein. Aber ehrlich gesagt, ist es mir am Ende egal, aus welchen Beweggründen Politiker ihren Hintern hochkriegen. Das Ergebnis zählt für mich.” Das eher ältere, weiße Publikum lacht. Klatscht. “Frau Giffey, Sie haben gesagt, dass es noch dauern wird mit der Kindergrundsicherung. Aber wir brauchen sie eben. Und zwar ziemlich schnell. Man muss sich manchmal einfach die richtigen Regierungspartner suchen.”
Die Menschen hören Sarah-Lee zu, wenn sie die Bühne vor dem Brandenburger Tor betritt, applaudieren wenn sie an der richtigen Stelle innehält, den Satz kurz nachklingen lässt. Ihre Stimme zittert, sie verspricht sich ein paar Mal. Dietmar Bartsch zwinkert ihr zu, wenn sie die Bundespolitik spitz kritisiert. Kinder und Erwachsene hängen an ihren Lippen, weil Sarah-Lee aus ihrem eigenen Leben erzählt. Weil das, was sie sagt, Realität ist. Weil sie als Tochter einer Hartz-IV-Empfängerin an der deutschen Armutsgrenze aufgewachsen ist und weiß, was es heißt in der 5. Klasse den Flur des Jobcenters abzuschreiten, weil ein Schulausflug ansteht, und sie Geld braucht.
Sarah-Lee weiß, was Hartz IV mit aktuell zwei Millionen Kindern und Jugendlichen macht, die in sogenannten “Bedarfsgemeinschaften” leben. Vor allem, wenn sie in ein Alter kommen, in dem es wichtig ist, dazuzugehören, um nicht abzudriften. Und in der Abwärtsspirale hängen zu bleiben. Deswegen wird sie eingeladen: zu Sektempfängen und Talkshows, zu Demonstrationen wie dieser und der Eröffnungsfeier der Kinderschutztage in Berlin vor drei Tagen. Bleibt sie eine Symbolfigur?
Fast jedes siebte Kind ist auf Hartz IV angewiesen
Sarah-Lee sagt, sie hat das Gefühl, gehört zu werden. Gleichzeitig weiß sie: Es passiert nichts. Oder nur ganz langsam. Trotz der medialen Aufmerksamkeit kann sie sich das Freiwillige Soziale Jahr, das sie nach dem Abi eigentlich machen möchte, nicht leisten. Weil der Umzug mit 400 Euro im Monat nicht zu stemmen ist. Weil sie kein Geld für die erste Miete ansparen kann. Den Auszug zum Studieren nennt sie Abenteuer, die Wohnungssuche mache ihr Sorgen.
4,4 Millionen Kinder und Jugendliche leben laut Kinderschutzbund in Deutschland in Armut. Fast jedes siebte Kind ist auf Hartz IV angewiesen. Sucht sich Sarah-Lee einen Schülerjob, bei dem sie über 100 Euro im Monat verdient, muss sie 80 Prozent ihres Einkommens an den Staat zurückzahlen. Jedenfalls solange sie mit ihrer Mutter zusammenlebt und dadurch mit ihr eine “Bedarfsgemeinschaft” bildet. Die FDP fordert, dass die sogenannten Freibeiträge für Schülerjobs angehoben werden, um Eigeninitiative zu belohnen. Für Sarah-Lee und für die Vertreter einiger Parteien und Bündnisse gilt jedoch: Sich etwas dazuverdienen ist OK. Aber Kinder sollten eigentlich gar nicht erst arbeiten müssen, um sich leisten zu können, was für andere selbstverständlich ist: Ein Umzug zum Studium oder für das FSJ, vielleicht mal einen Urlaub. Alle sollten die gleichen Chancen haben.
Sie fordern einen Systemwechsel durch die sogenannte Kindergrundsicherung: Eine einzige monatliche Geldleistung statt Kindergeld, Kinderfreibetrag, Unterhaltsvorschuss, Kinderzuschlag und Hartz-IV-Regelsatz. Die Tochter einer Hartz-IV-Empfängerin müsste dann nicht mehr jede Leistung extra beantragen: Sportverein, Bücher, Nachhilfe. Eltern hätten nur noch eine Behörde als Ansprechpartner statt Familienkasse, Jobcenter, Jugendamt. Je niedriger das Einkommen, desto höher die monatliche Förderung. Wer quasi nichts verdient, bekommt den höchsten Betrag, der das Existenzminimum für Kinder abbildet: monatlich etwa 628 Euro. Das schlägt das Bündnis Kindergrundsicherung vor und beruft sich dabei auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
“Ich habe keinen Bock, immer das traurige Mädchen zu sein, an dem ein Exempel statuiert wird”
Für Sarah-Lee lohnt es sich weiterzumachen. In der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen. Auch wenn darunter manchmal das Privatleben leidet. “Ich hatte am Anfang viel Angst”, sagt die 18-Jährige. Direkt nach ihrem Tweet und dem Artikel auf VICE habe sie zwar viel Zuspruch, aber auch Hass abbekommen. “Ich weiß noch wie ich angefangen hab zu heulen, als ich gelesen habe: Das arme Kind kann ja nichts dafür, die Mutter hätte ja abtreiben können.” Eine Zeitschrift soll getitelt haben: Kind aus Hartz-IV-Familie sagt: Es lohnt sich nicht zu arbeiten. “Danach ging der Shitstorm los.”
Sarah-Lee Heinrich weiß die Medien für sich zu nutzen. Aber die Medien nutzen auch sie, immer noch. Manche Medien suchen gezielt nach jungen Frauen wie ihr, nach einer, die es von unten nach oben geschafft hat. Wenn man böse sein wollte, könnte man sagen: nach einem Vorzeigepüppchen, das Menschen emotionalisiert, viel mehr, als ein Politiker es je könnte. “Ich habe keinen Bock, immer das traurige Mädchen zu sein, an dem ein Exempel statuiert wird. Ich bin politisch aktiv. Ich habe politische Forderungen, und zwar ziemlich klare.”
Sarah-Lee fordert Kinder- und Jugendräte, die gemeinsam mit Politikern ausdifferenzieren, was Menschen in ihrem Alter brauchen, um Teil der Gesellschaft sein zu können. Sie will keine Erhöhung von Freibeiträgen für Ferienjobs, sondern dass alle Kinder ohne Existenzängste aufwachsen. Einen bunten Zusammenschluss der Parteien, die eine Kindergrundsicherung einführen, statt ein graues Zwangsbündnis derer, die das nur weiter aufschieben. Mut statt Mainstream. Eigentlich verschließe sich keine Partei vor dem Thema, vor den Fakten. Dafür ist es zu emotional. “Aber es gibt zu viele Parteien, denen es nicht wichtig genug ist.” Sarah-Lee ist es leid, vertröstet zu werden. “Ich fand die Rede von Franziska Giffey am Freitagabend süß. Ich glaube schon, dass sie es ernst meint mit Kinder- und Jugendrechten. Aber sie hat auch gesagt, dass es für die Kindergrundsicherung noch Zeit braucht. Das ist meiner Meinung nach inakzeptabel. Je länger sich das verschiebt, umso mehr Jahrgänge von Kindern wachsen in Armut auf.”
Sarah-Lee ist politischer als die meisten ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler. Mit 15 gründet sie die Jugendorganisation der Grünen in Unna, wenig später wird sie Schülersprecherin ihres Gymnasiums: “Damals habe ich angefangen zu verstehen, dass nicht ich oder meine Mutter Schuld tragen an unserer Situation, sondern die Gesellschaft, die Art wie wir miteinander leben. Es sind die politischen Entscheidungen, die irgendwann mal getroffen wurden, die man verändern kann. Die ich verändern will.” Sarah-Lee spricht von Neiddebatten, sozialer Kälte, Abstiegsängsten: “Würden die Menschen sich abgesichert fühlen, machen sie keinen Unterschied mehr und verstehen: Wenn ich zehn Euro mehr im Monat habe, heißt das nicht, dass sie deswegen zehn Euro weniger haben.”
Am Freitagabend stand Sarah-Lee direkt nach der Familienministerin auf der Bühne. Selbst in die Politik zu gehen, hauptberuflich, das kann Sarah-Lee sich nicht vorstellen. “Ich kenne Leute, die sich das vornehmen. Die treffen dann irgendwann falsche, unmoralische Entscheidungen, um schneller ans Ziel zu kommen. Das will ich nicht. Ich will unabhängig Entscheidungen treffen.”
Sarah-Lee spricht an diesem Samstag vor allem vor Menschen, die sie verstehen, weil sie es selbst schwer haben. Oder die genauso denken, wie Heinz Hilgers vom Kinderschutzbund, der sich nach dem Auftritt für ihren Mut bedankt. Für die Allgemeinheit bleibt Sarah-Lee vielleicht Symbolfigur. Für junge Menschen in derselben Situation kann sie mehr sein. Sprachrohr, Vorbild, Bittstellerin, die laut das Selbstverständliche einfordert, dass es kein “Unten” oder “Oben” für Kinder gibt. Kinder können keine Lobby aufbauen. Und anders als der Klimawandel betrifft Kinderarmut nicht jeden, sieht sie nicht jeder. Man könnte sie verdrängen. Doch die, die sie betrifft, Kinder aus Hartz-IV-Haushalten, sehen durch Sarah-Lee, dass sie nicht alleine sind.
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