Neapels beste Pizza gibt es in Marseille

Zwei Dinge sind untrennbar mit Marseille und seiner Stadtgeschichte verbunden: Fußball und Olympique Marseille und Gastronomie und die Bouillabaisse.

Die berühmte Fischsuppe ist eigentlich deshalb zum Mythos avanciert, weil die Einheimischen das Zeug ziemlich selten essen. Zum einen musst du, um deinen Magen mit dem traditionellen Eintopf füllen zu können, mindestens 40 Euro auf den Tisch legen. Statt einen Marseiller nach der besten Bouillabaisse zu fragen, frag ihn lieber, wo man die beste Pizza bekommt. Du wirst garantiert nicht enttäuscht, denn jeder kennt einen Geheimtipp.

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Mittlerweile ist Pizza eine echte Marseiller Spezialität geworden und dominiert die kulinarische Stadtlandschaft wie kein anderes Essen. Es gibt legendäre Pizzerien und lebende Pizza-Legenden. Pizza ist das Essen der Massen und es gibt sie überall dort, wo die Leute laut quatschen und gut essen: In der kleinen Pizzeria Chez Saveur im Stadtteil Noailles sprechen die meisten Gäste Dialekt. In La Vieille Pelle or Chez Etienne, das immerhin seit vier Generationen im Familienbesitz ist, stehen die Einheimischen an der Bar. Der beste Ort ist aber das Chez Jannot, wo man sein Stück Pizza bei Ausblick über den Hafen Vallon des Auffes genießen kann.

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Überall in Südfrankreich gibt es Pizza, Marseille allerdings hat eine echte Liebe dazu entwickelt. Das hat damit zu tun, dass Neapel und Marseille eine gemeinsame Geschichte teilen: Pizza entstand bereits im 17. Jahrhundert in Neapel, um 1900 sind viele Einwohner der Stadt aufgrund der Armut nach Marseille geflohen. Im Gepäck hatten sie nicht viel außer ein paar Rezepte. „Bei der Volkszählung 1906 waren von 20.000 Einwohnern in Marseille 13.000 Italiener, davon 10.000 aus Neapel”, erklärt Michel Ficetola, Autor von Marseille, la napolitaine. Sie lebten in heruntergekommen Häusern, die früher den Adligen gehörten, und sie „lebten weiter ihr neapolitanisches Leben und eröffneten Pizzerien. Die Einwohner von Marseille fühlten sich von dieser Lebensweise inspiriert.”

Seitdem hat sich die Pizza ihren berechtigten Platz neben der Bouillabaisse erkämpft. Gerade auch weil Pizza so praktisch und so gesellig ist, haben sich die Marseiller ihr schnell angenommen. Das geht sogar so weit, dass bis heute noch „einige glauben, dass die Pizza aus Marseille kommt”, lacht Michel Ficetola. In Marseille gibt es Orte, wo die Pizza noch pro Stück verkauft wird, genauso wie traditionell in Neapel. „Einige Familien halten an diesem Brauch fest, um zu zeigen, dass die Neapolitaner noch immer mit uns verbunden sind.”

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,La Reine’, eine der Spezialitäten bei Pizzas Charly

La Bonne Mère ist eine der Pizzerien, die dir jeder in Marseille empfiehlt. Auch hier wird am neapolitanischen Erbe festgehalten. „Hier gibt es Pizza und nichts anderes”, sagt Mahéva, die immer fröhliche Besitzerin und Frau des Pizzabäckers. Stolz erzählt sie weiter: „Jérémie kommt aus Neapel und wir beide haben früher dort gelebt.” Ein knuspriger und luftiger Teig, darauf Tomatensauce und echter italienischer Käse: Diese Pizza ist wahrscheinlich die beste in ganz Frankreich. Jeden Tag ist das kleine Restaurant rappelvoll.

Doch nicht nur der Geist von Neapel weht durch die Pizzaöfen in Marseille. Mit neuen Einwanderern kamen auch neue Geschmäcker und Aromen für die Pizza in die Stadt. Aus der Provence kommt die berühmte Variante moitié-moitié, also halb mit Anchovis, halb mit Käse belegt, in dem Falle sogar richtig französisch mit Emmentaler. Immigranten aus Korsika erfanden Pizza mit figatelli, Wildschweinwürstchen, und Brousse, einem Ziegenfrischkäse. Dann gibt es noch die armenische Pizza mit Fleisch, die ähnlich wie der typisch armenische lahmacun ist. Kurzum: Die Pizza wurde immer wieder neu interpretiert. „Mit jeder Generation hat sie sich weiter verändert. Jede Bevölkerungsgruppe hat ihr eine persönliche Note verpasst, jede Pizza hat eine eigene Sauce. Marseille bietet einfach eine unglaubliche Vielfalt”, schwärmt Michel Ficelota.

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John Berg macht Pizza in den italienischen Nationalfarben

In Marseille sind Pizzas so oft in den Nachrichten wie nirgendwo sonst. Eine unglaubliche Story folgt der nächsten. In der Nähe von Aix-en-Provence hat ein Pizzabäcker seinen Anwalt in Pizzas im Wert von 4.000 Euro bezahlt. In dieser Stadt kann man auch mal schnell in eine riesige Straßenschlacht geraden, bei der neben Fäusten auch Pizzas fliegen. Und nicht zu vergessen die Pizzabäcker, die als Drogendealer fungieren, oder die Story über den Typen, der den Pizzaboten angegriffen hat.

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Pizzweltmeister John Berg formt seinen Teig noch mit der Hand

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Marseille kann sich aber auch mit dem Pizzaweltmeister rühmen. Um ihn zu treffen, muss man nur ein paar Minuten mit dem Auto aus der Stadt rausfahren: John Berg ist französischer Pizzameister und eben Pizzaweltmeister in der Kategorie „Bio”. Er hat ein Geschäft zwischen der Autobahn und einer Tankstelle aufgemacht. Auch Jérémie, der Bäcker im La Bonne Mère, den Mahéva in höchsten Tönen gelobt hat, hat bei John gelernt. Berg verwendet eine echteTomatensauce und einen leichten Teig mit viel Wasser. Diese Methode hat er 15 Jahre lang perfektioniert. Er kennt sein Produkt ganz genau: vom Mehl, das in den französischen Alpen auf Stein gemahlen wird, bis zum Mozzarella, der in Aix-en-Provence hergestellt wird. „Zwischen den Meisterschaften habe ich mich an einem Wochenende ins Auto gesetzt und bin 8.000 Kilometer gefahren, nur um andere Verrückte wie mich zu treffen. Wir sind Künstler, die ihren Job einfach gut machen.”

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Er meint: „Das wirklich typische Marseiller Gericht ist Pizza mit Anchovis. Es gibt einfach keine schlechte Pizza in Marseille.” Seinen Teig formt er noch mit der Hand und mit viel Liebe und lässt ihn dann gehen. Seine Pizzas stellt er dann mit bemerkenswertem Geschick zusammen. Pizza ist in Marseille immer auch mit Kindheitserinnerungen verbunden: „Früher bin ich mit meiner Mutter ein oder zwei Mal im Jahr Klamotten kaufen gegangen, in der Nähe von der Canebière. Auf dem Markt in Noailles hat sie mir immer ein vor Käse triefendes Stück Pizza gekauft. Du weißt schon, so ein Stück Pizza, das du unbedingt sofort essen willst und dir so ganzen Mund verbrennst.”

Es gibt niemanden in Marseille, der sich dort noch keines der berühmten in Papier eingewickelten Pizzastücke geholt hat. Man bekommt sie direkt am Markteingang. Hier an einer der Hauptschlagadern der Stadt quellen die Stände vor frischen Produkten nur so über. Wenn man einmal da ist, kommt man nicht umhin, bei Pizza Charly vorbeizuschauen, dem wohl berühmtesten Stand auf dem Markt. Das ganze Jahr über sind die Auslagen und überhaupt jede Ecke des winzigen Ladens mit Pizzas gefüllt, die Köche sind die ganze Zeit beschäftigt, Nachschub zu machen. Hier wird Pizza im Stück verkauft oder man kauft sich ein Drittel oder die Hälfte einer Pizza. Für nur ein paar Euro bekommt man hier ein Stück mit Hühnchen, Quattro Formaggi oder nach armenischer Art—und alle sind großzügig belegt.

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Pizza Charly ist eine wahre Institution in Marseille

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Neben dem grellen Firmenschild präsentiert Pizza Charly stolz seine lange Tradition: „Großvater, Vater und Enkel—seit 1962″ „Mein Name ist Charly und mein Großvater und auch mein Vater hießen auch beide Charly”, erklärt mir der derzeitige Besitzer des kleinen Familienbetriebs. „In Frankreich wird am meisten Pizza gegessen, also ist Marseille auch die Pizzahauptstadt. Und hier ist sie am billigsten. Unsere Käsepizza zum Mitnehmen ist ein echter Klassiker. Jeder kennt sie und sogar meine Freunde reden davon.”

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Selbst an einem Dezemberabend stehen hier Dutzende Menschen Schlange. Nebenan hat die Konkurrenz ein Geschäft eröffnet, das aber weitaus weniger erfolgreich läuft. „Vor 15 Jahren hat er den Laden aufgemacht, wir haben nie richtig verstanden warum. Manchmal streiten wir uns, dann haben sich die Leute Geschichten zu erzählen. Aber der Ansturm bei uns reißt nicht ab, wir haben da unsere kleinen Geheimnisse”, gibt Charly ein wenig an. Durchschnittlich werden hier pro Tag 400 Pizzas verkauft, damit ist Charly einer der erfolgreichsten Pizzaspots in ganz Marseille. Enzo, ein Einheimischer, kommt oft hierher, entweder zu Charly oder er holt sich nebenan eine Pizza. Jede Woche muss er mindestens ein Mal Pizza essen. „Als ich klein war, habe ich immer geträumt, einen Pizza-Truck zu besitzen”, erzählt mir der Ex-Bote, der sich seitdem einem anderen Bereich gewidmet hat.

Die neuesten Statistiken zeigen, dass es in ganz Frankreich gut 4.000 rollende Pizzastände gibt, nur 56 davon in Marseille. Dabei gibt es einen ziemlich harten „Numerus Clausus”, wie auch bei den Taxilizenzen.

In Marseille gibt es überall Food-Trucks: vor den Kinos, auf großen Plätzen, neben Bars, vor dem Vélodrome, dem Stadion. Sie gehören einfach zum Stadtbild dazu. Und wenn es wirklich stimmt, dass aus dem ersten Food-Truck auch Pizza verkauft wurde, dann müssen wir Marseille dafür danken. „Es gibt diese Geschichte, dass ein Flugbegleiter, Jean Meritan, einmal die Imbisswagen in Frankreich gesehen hat und dann die Idee hatte, das auch mit Pizza zu machen. 1962 hat er dann erstmals aus einem Food-Truck Pizza verkauft, ohne zu wissen, was für einen Trend er damit lostritt”, erklärt Luc Gaston Garcia, der Präsident der Gewerkschaft für Pizzahandwerk und Food-Trucks.Die Zeit, als damals die ersten Food-Trucks durch die Straße rollten, war für ihn ein Umbruch: „Das musste man erlebt haben, um es auch zu verstehen. Heute ist der Pizza-Truck immer noch ein Ort, wo man sich gern trifft. Ein Ort mit einer sozialen Aufgabe.”

Die neuesten Statistiken zeigen, dass es in ganz Frankreich gut 4.000 rollende Pizzastände gibt, nur 56 davon in Marseille. „Man will ja nicht zu viele davon haben”, sagt derGewerkschaftspräsident. Seiner Meinung nach ist das Wichtigste beim Thema Pizza, dass es Regeln und Protokolle gibt: „Alle Trucks sind bei uns verzeichnet, sie haben offizielle Lizenzen von der Stadt. Ansonsten würde das Chaos regieren.” Dabei gibt es einen ziemlich harten „Numerus Clausus”, wie auch bei den Taxilizenzen. Wenn man aber einmal im System drin ist, hat man ziemlich gute Chancen.

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Der berühmte Pizza-Truck Pizzas Charly ist einer von 56 rollenden Pizzaständen in Marseille

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Charles Alexandre arbeitet beim Pizza-Truck Pizzas Charly (nicht zu verwechseln mit Charly Pizza) und hat seit 27 Jahren seine Pizzalizenz. Er war sogar einmal Vizegewerkschaftspräsident und teilt Lucs Ansichten: „Wenn man eine Art Schutz genießen will, sollte man besser Mitglied sein. Sobald du ein Problem mit der Stadt hast, kann dich die Gewerkschaft unterstützen. Außerdem bekommt man Rabatte bei den Großhändlern und man kann den Truck einfacher seinen Kindern vermachen.” Auch John Berg hat in einem Pizza-Truck angefangen, hat sich aber dann entschieden, dass er lieber seinen Truck abstellen wollte, wo es ihm passte. Freestyle eben: „Ich war erst Mitglied und bin dann ausgetreten. Es gab zu viele Probleme. Man muss die richtigen Leute kennen, um auch einen guten Stand zu haben.”

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Am Abend eines Spiels sind alle in der Nähe des Stadions. Hunderte Fans mit blau-weißen Schals kommen hier vor und nach dem Spiel vorbei. Mit ein paar Metern Abstand reihen sich hier mehrere Food-Trucks aneinander. Überall nimmt man an dem Abend doppelt so viel ein. Bei 2 Frangins, dem ersten Pizzalieferdienst der Stadt, arbeiten an den Fußballwochenenden zehn Boten gleichzeitig. Während die Neapolitaner ihre Pizza vom Teller essen, ist es den Marseillern ziemlich egal, wo sie ihre Pizza essen.

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Es gibt wohl nichts Besseres, als sich eine Pizza an den Strand liefern zu lassen, direkt zum Boulevard Corniche Kennedy. Dann, irgendwo zwischen zwei Bier und dem Blick aufs Meer, versteht man auch, warum Pizza einfach perfekt zu Marseille passt.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf MUNCHIES FR.