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Neila arbeitet tagsüber als Putzfrau, nachts jagt sie Pädokriminelle im Internet

Online child abuse - image in red and dark blue split in two. Left: Middle aged man sitting at a desk with a keyboard and a camcorder behind him. Right: woman sitting at the same desk in the same position with police behind her.

Neila kommt mit entschlossenen Schritten auf uns zu. Sie ist von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, nur unter ihrem Hoodie schauen ein paar rote Haarsträhnen hervor. In ihrer rechten Hand hält sie eine Packung Marlboro Red. Unser Treffpunkt ist eine Banlieue der südfranzösischen Stadt Lyon. Hier lebt die Familienmutter in einer Hochhaussiedlung. Tagsüber arbeitet sie als Reinigungskraft, nachts jagt Neila Pädokriminelle im Internet.

Angefangen hat sie damit 2019, nachdem Neila eine Dokumentation über Pädokriminelle im niederländischen Zandvoort gesehen hatte. Ihr ging das Thema damals so nah, dass sie am nächsten Tag beschloss, aktiv zu werden. Nach stundenlangen Recherchen stieß sie auf einen Mann, der im Internet Pädokriminelle verfolgt. Er nennt sich Steven Moore, inspiriert vom Aktivisten und Filmemacher Michael Moore.

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Der von der Insel La Réunion stammende Familienvater hatte ein Facebook-Profil für ein fiktives Mädchen namens Alicia erstellt. Die Methode ist simpel: Er lässt sich von Pädokriminellen anschreiben und sexuell explizite Nachrichten schicken. Dann meldet er sie der Polizei. 

Noch am selben Tag, so erzählt Neila heute, habe sie ihn angeschrieben und beide hätten sich auf Anhieb verstanden. Sie beschlossen, sich zusammenzutun und gründeten das Team Moore, um ein Netzwerk mit Gleichgesinnten aufzubauen.


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Auf ihrem neuesten Profil heißt Neila Lucie

Heute zählt Team Moore rund 50 Mitglieder. Sie stammen aus Frankreich, Belgien, Kanada, La Réunion und Mauritius. Es sind Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft: Sekretärinnen, Ingenieure und Juristinnen. Seit der Gründung 2019 hat ihre Arbeit zu 65 Festnahmen und 26 Verurteilungen geführt, darunter auch eine zweijährige Haftstrafe. 

Das Team arbeitet vor allem in sozialen Medien: Die Mitglieder haben auf Facebook Dutzende fingierte Teenager-Profile erstellt. Für ihre Accounts benutzt Neila nur Fotos von sich, auf denen sie sich mithilfe eines Filters 20 Jahre jünger aussehen lässt. Sie gibt sich große Mühe, dass die Profile möglichst authentisch aussehen – komplett mit Urlaubsfotos, Hobbys, Sport und öffentlichen Posts. “Ich verbringe zwischen 40 und 50 Stunden pro Woche damit”, sagt sie und drückt ihre Zigarette aus. 

Ist das Profil fertig, wartet Neila darauf, dass sie angeschrieben wird. Würde sie selbst den ersten Schritt tun, könnte sie sich strafbar machen: Anstiftung zu einer Straftat. 

Neila zeigt uns ihr neuestes Profil: Sie heißt darauf Lucie, ist 13 Jahre alt und hat bereits Hunderte explizite Nachrichten, Fotos und Videos erhalten. Die Absender sind Männer zwischen 17 und 85. Die meisten, sagt Neila, seien allerdings um die 50.

Es gibt zwei Arten von Männern, die die Profile anschreiben

Beim Lesen der Nachrichten dreht sich einem der Magen um. Aus rechtlichen Gründen haben wir die Namen der Absender anonymisiert. Ein gewisser Pierre, Mitte 50, schreibt der vermeintlichen 13-Jährigen: “Ich komme gerade aus der Dusche, ich hätte dich gerne dabeigehabt. Ich werde dir beibringen, wie man Lust empfindet.” Am Ende seiner Nachricht schreibt er: “Liebe kennt kein Alter.” Diesen Satz liest Neila jeden Tag.

Andere wie Sylvain sind aggressiver: “Zeig mir deine Muschi. Wo lebst du? Hast du schon mal die Banane eines Mannes gesehen? Dein Papi hat auch eine, meine ist sehr groß.”

Es gibt zwei Arten von Menschen, die Neilas Profile anschreiben: die, die direkt übergriffig werden und zum Beispiel Videos von sich schicken, in denen sie masturbieren, und die, die sich als Schutzengel ausgeben. Das sind die Gefährlichsten. “Sie versuchen, das Kind zu manipulieren, indem sie ihm sagen, dass sie sich verliebt haben”, sagt Neila. “Das ist klassisches Grooming.”

Neila macht Screenshots von allen Nachrichten mit sexuellen Inhalten, die ihre Teenager-Profile erhalten. Dann erstellt sie einen Ordner für jeden Täter, in dem sie jeweils alle Beweise, die Identität, das Alter, den Beruf und die Adresse sichert. “Diese Dokumente übergebe ich der Polizei, die leitet sie weiter an die Staatsanwaltschaft”, sagt sie. “Ich habe dadurch echte Ermittlungsarbeit gelernt, das gefällt mir.” Neila lächelt.

Manchmal übernimmt Neila die Arbeit der Polizei

Manchmal ist die Belastung aber auch zu hoch. Im Mai 2021 erhielt Neila von einem User namens Franck ein extrem brutales Video. “Man sah ihn bei der Vergewaltigung eines Kindes”, sagt sie. “Ich war schockiert, brach in Tränen aus.” Zwei Tage später alarmierte Neila die Polizei, die Franck Ende November 2021 schließlich festnahm.

Wenn die Polizei nicht aktiv wird, nimmt Neila die Fälle manchmal selbst in die Hand. Im Frühjahr 2021 reiste sie in den Norden nach Valenciennes, unweit der belgischen Grenze. Dort traf sie sich als Teenagerin verkleidet mit einem Mann, der ihr zuvor Nachrichten geschrieben hatte. Bevor er bemerkte, dass er in eine Falle getappt war, versuchte er, Neila zu küssen. 

“Wir riefen die Polizei, aber niemand kam”, sagt Neila. “Erst nach mehreren Anrufen reagierte sie, weil wir ein Team von Zone Interdite dabeihatten.” Zone Interdite ist ein renommiertes Investigativformat im französischen Fernsehen. Neila erzählt, der Mann sei im September 2021 zu 18 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden.

Solche sogenannten Bürgerfestnahmen oder Jedermann-Festnahmen, wie sie in Deutschland offiziell heißen, sind auch ein beliebtes Mittel umstrittener Pädophilenjägergruppen. Solche zivilen Zusammenschlüsse gibt es vor allem im englischsprachigen Raum, aber auch in Deutschland. Sie arbeiten häufig mit fragwürdigen Methoden, legen Wert auf eine martialische Selbstinszenierung und schalten – im Gegensatz zu Team Moore – die Polizei erst ganz zum Schluss ein. Für Neila ist die Unterstützung aus der Zivilbevölkerung beim Kampf gegen Pädokriminelle allerdings notwendig: “Das Problem ist, dass unsere Polizei nicht über ausreichend Mittel verfügt, um gegen diese Plage vorzugehen.”

“Das ist wie Sextourismus vor dem Bildschirm” – Nathalie Bucquet, Rechtsanwältin

Neila ist persönlich von der Thematik betroffen. Als sie elf war, hat ein Freund der Familie sie missbraucht. “Heute ist es mir lieber, dass ich diejenige bin, die diese expliziten Fotos ertragen muss, als ein Kind”, sagt sie. 

Die Arbeit von Team Moore hilft auch anderen Organisationen: Eine davon ist die weltweit agierende NGO und Beratungsstelle Innocence in Danger. Auch sie hat sich den Kampf gegen Pädokriminelle und den Schutz von Minderjährigen zur Aufgabe gemacht. Die Vorsitzende Homayra Sellier sagt: “Wenn Team Moore uns auf einen Fall aufmerksam macht, leiten wir rechtliche Schritte ein.” Die Arbeit des Teams in Frankreich sei wichtig, so Sellier: “Sie erspart uns Zeit und die ist besonders kostbar, wenn das Wohl von Kindern auf dem Spiel steht.”

Auch Nathalie Bucquet von der Pariser Anwaltskammer findet die Hinweise von Team Moore hilfreich. Für die Anwältin liegt das Hauptproblem allerdings darin, sich um die Minderjährigen zu kümmern, während sie unter dem psychischen Einfluss der Täter stehen. In manchen Fällen hätten sie den Tätern Bilder von sich geschickt. “Minderjährige haben dann Angst, ihren Eltern davon zu erzählen, und ziehen sich zurück”, sagt Bucquet. Daraus könne eine Abwärtsspirale entstehen. “Mir fällt auf, dass die Pädokriminalität momentan im Internet explodiert, vor allem Streams von Vergewaltigungen. Das ist wie Sextourismus vor dem Bildschirm”, sagt Bucquet. 

Das belegen auch die Zahlen: Auch wenn Juristinnen, Ermittler, NGOs und Aktivistengruppen aktiv gegen Pädokriminelle vorgehen, hat die polizeiliche Kriminalstatistik 2021 einen weiteren Anstieg sexueller Missbrauchsfälle von Kindern verzeichnet. Dem Vorjahr gegenüber haben sie um 6,3 Prozent zugenommen.

Auch deshalb werden Neila und der Rest von Team Moore nicht so schnell aufhören. “Teenager nutzen Social Media, das ist normal”, sagt Neila. “Leider sind die Täter auch da, wo sich die Kinder aufhalten.”

Bist du sexuell belästigt worden oder hast sexualisierte Gewalt erlebt? In Deutschland bekommst du Hilfe unter der Telefonnummer 0800 22 55 530. Mehr Infos findest du auf dem Hilfeportal der Bundesregierung. Wer in der Schweiz sexualisierte Gewalt erlebt hat, findet bei der Frauenberatung Links zu Beratungsstellen, betroffene Männer erhalten Hilfe im Männerhaus. In Österreich wird ein 24-Stunden-Hilfenotruf unter 01 71 719 angeboten. In jedem Fall gilt: Wende dich auch an die Polizei in deiner Nähe und zeige den Täter oder die Täterin an.

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