Nerds erzählen, wie sie durch ihr Hobby Freunde gefunden haben

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Kevin ist Anfang Zwanzig und hängt den ganzen Tag alleine im fensterlosen Keller seiner Eltern. Dort snackt er Erdnussflips, hat eine Zwei-Liter-Cola-Flasche auf dem Tisch, ein 200-Euro-Headset auf dem Kopf und zockt mit seinen fettigen Fingern den ganzen Tag World of Warcraft. So stellen sich auch 2019 noch viele Menschen einen klassischen “Gamer” vor. Dabei sind nicht nur Videospiele, sondern auch Nerdkultur längst mitten im Mainstream angekommen.

Das Spiel Grand Theft Auto 5 setzte in den ersten drei Verkaufstagen mehr Geld um als jeder Kino-Blockbuster. Die Nerd-Sitcom Big Bang Theory ist extrem beliebt. Umso absurder, dass Menschen, die sich offen zu ihrem Nerdtum bekennen, immer noch häufig als antisoziale Kellerkinder angesehen werden.

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Dabei suchen auch Gamerinnen, Gamer und andere Nerds den sozialen Kontakt. Die einen geben sich mit einer digitalen Freundschaft zufrieden, andere tauschen den Chatroom gegen ein Treffen im Café, wieder andere finden beim Pen-&-Paper-Rollenspiel die Liebe ihres Lebens. So ganz in echt. Nerdtum isoliert nicht, es bringt Menschen zusammen, die eine Begeisterung teilen. Hier kommen ihre Geschichten.


Auch bei VICE: LARPing hat mir das Leben gerettet


Luana, 31

Als ich zehn Jahre alt war, hatte mein Vater einen Presseladen in einer kleinen Stadt in Brasilien. Ich fand schwer Freunde, deswegen blätterte ich nach der Schule in Comics und Magazinen, statt mit den anderen Kindern zu spielen. An einem dieser Nachmittage habe ich zum ersten mal etwas über Dungeons & Dragons gelesen. Das hat mich so fasziniert, dass ich jeden Artikel zu Pen-&-Paper-Rollenspielen gesammelt habe. Ich hatte keine Freunde, die mit mir spielen wollten. Also habe ich angefangen, eigene Geschichten zu schreiben und Solo-Abenteuer zu spielen.

Ich war die einzige Frau unter fast 25 Männern, was mich zuerst eingeschüchtert hat. Aber endlich hatte ich Leute gefunden, die sich für die gleichen Dinge begeistern konnten wie ich.

Als mein Vater starb, zogen meine Mutter und ich in eine neue Stadt. Dort gab es einen kleinen Kartenspiel- und Comicladen, in dem Leute Rollenspiele spielten. Ich, mittlerweile 15, bin oft nach der Schule dorthin gegangen und irgendwann überkam ich meine Scheu und habe gefragt: “Darf ich mitspielen?” Ich durfte. Das war ein wichtiger Moment. Ich war die einzige Frau unter fast 25 Männern, was mich zuerst eingeschüchtert hat. Aber endlich hatte ich Leute gefunden, die sich für die gleichen Dinge begeistern konnten wie ich. Hier konnte ich üben, eine soziale Person zu sein und meine sozialen Ängste überwinden. Aus Mitspielern wurden irgendwann Freunde. Einer von ihnen stellte mir schließlich den Spieler vor, der später mein Mann werden sollte.

Mittlerweile wohne ich in Berlin und veranstalte regelmäßig Brettspiel-Abende in meiner Wohnung. Die Menschen, die ich über diese Abende kennen gelernt habe, sind mittlerweile meine besten Freunde. Ich bin für die Spiele sehr dankbar. Wenn ich spiele, kann ich die Person sein, die ich immer sein wollte. Und sie geben mir die Stärke, auch in meinem echten Leben zu dieser Person zu werden.

Frederik, 27

Als Kind von Hippie-Eltern fühlte ich mich immer etwas fehl am Platz. Ich mag Menschen, bin aber auch gerne alleine. Als Kind war ich ganz Nerd und bin von Lego gleich zu Modellbau gewechselt. Ich war ziemlich moppelig und hatte Asthma – der Coolste der Klasse wäre ich sowieso nicht geworden. Das hat sich erst als Teenager geändert. Auf einmal sah ich gut aus und war recht beliebt. Auf dem Dorf-Gymnasium fiel ich als bunter Raver mit Rock auf. Danach bin ich als Bummelstudent durch die Welt gereist und habe meine Jugend genossen.

Jahre später musste ich feststellen, dass ich mein Leben ziemlich an die Wand gefahren hatte. Ich hatte Depressionen, mein Studium abgebrochen und betäubte meine Zukunftsängste mit Partys und Drogen. Ansonsten war ich viel zu Hause und habe auch mal zwei Tage am Stück mein Zimmer nicht verlassen. Meine Zeit verbrachte ich vor dem Computer mit Dawn of War. Das Game basiert auf der Welt von Warhammer 40.000. Ein Tabletop-Rollenspiel, bei dem man seine Spielfiguren, Püppchen, bemalt. Zur selben Zeit hatte ich einen Freund mit den gleichen Problemen wie ich: rumpelige Bude, Sozialphobie und alles abgebrochen, was ging. Meist saßen wir zusammen, haben gekifft und still gezeichnet. Er war quasi mein einziger Sozialkontakt.

Eines Tages hat er mir das Tabletop-Spiel gezeigt und ich habe mir mein erstes Püppchen gekauft. Danach war es um mich geschehen. Unter den Warhammer-Begeisterten fühlte ich mich wie in einer großen Familie, die ein bisschen an eine Sekte erinnert: Es wird ständig über die komplexen Regeln und die Geschichten geredet. Man malt ewig an den Püppchen und braucht eine Stunde, um Spielfeld und Armee aufzubauen. Aber es bringt einem so viel mehr, als Computer zu spielen, oder feiern zu gehen. Ich habe physische Spielmittel, treffe mich mit Menschen und es aktiviert mehr Sinne. Ob mich die Püppchen gerettet haben? Das weiß ich nicht. Aber wenn es mir schlecht geht, kaufe ich mir jetzt lieber neue Püppchen statt Drogen.

André, 28

Es fällt mir schwer, mich in neue Umgebungen einzuleben, Leute kennenzulernen und mich zu öffnen. Ich war schon immer sehr in mich gekehrt. Daran wollte ich etwas ändern. Also beschloss ich, meinen Wunsch nach mehr sozialem Anschluss mit einer meiner großen Leidenschaften zu verbinden: dem Videospiel Super Smash Bros. Melee, bei dem du mit legendären Figuren aus anderen Games gegeneinander antrittst. Ich habe im Internet nach Spielpartnern gesucht und bin somit zur Berliner Smash-Community gekommen.

Das war einer der besten Entscheidungen, die ich in den letzten Jahren getroffen habe. Wir sind eine Gruppe von Leuten, die sich auf Facebook organisiert, und wir treffen uns jeden Donnerstag in einem kleinen Kulturzentrum und veranstalten eSports-Turniere in Super Smash Bros. Manchmal haben wir sogar größere Events an Wochenenden, zu dem viele Spieler und Spielerinnen aus ganz Deutschland anreisen.

Ich war nie ein kompetitiver Spieler. Ich bin nicht so gut wie viele andere und dadurch schnell demotiviert. Aber die wöchentlichen Turniere haben in mir ein Feuer entfacht. Auch wenn ich im Spiel immer noch regelmäßig aufs Maul bekomme, merke ich, dass ich Fortschritte mache. Und freue mich mittlerweile darauf, mich mit anderen zu messen. Für mich ist der Donnerstagabend ein fester Bestandteil in meinem Leben geworden – ich will ihn nicht mehr missen. Das Spiel und die Community haben mich selbstbewusster und abenteuerlustiger gemacht. Früher wäre ich wohl nie alleine über ein Wochenende in eine andere Stadt gefahren, nur um Melee zu zocken. Jetzt schon. Die Nerdkultur hat mein Leben sehr bereichert.

Evan, 36

Live-Rollenspiele bringen Nerds in einem Maße zusammen, wie es in einem anderen Medium wohl kaum möglich ist. Ein Live Action Role Playing Game (LARP) ist ein Rollenspiel, in dem die Spieler eine fiktive Figur körperlich darstellen und sich verkleiden. Es kann als Mischung aus einem Pen-&-Paper-Rollenspiel und einem Improvisationstheater verstanden werden. LARPs bieten Intensive Geschichten, eine umfassende Darstellung von Figuren und eine lange Laufzeit: Ein durchschnittliches LARP dauert zwischen drei Stunden und vier Tagen.

Bei LARPs in aller Welt habe ich lebenslange Freundschaften gefunden. Mit einem Italiener, der mein Mitschüler an einer Zauberer-Akademie war; mit einem Briten, dessen Charakter mit meiner Figur im Studio 54 feiern ging; und mit einem Schweden, der mich – einen korrupten Wachmann an einem Königshof – erdrosselt hat. Natürlich nur im Rahmen des Rollenspiels.

Die Erfahrungen, die wir bei einem LARP machen, sind für uns nicht weniger real, nur weil die Situationen fiktiv sind. Diese Rollenspiele geben uns die Möglichkeit, Probleme aus dem Alltag zu vergessen. Auch wenn die Spiele fiktiv sind, können wir die Erfahrungen, die wir beim Spielen erleben, in unseren Alltag einfließen lassen. Wir stehen alle noch in Kontakt und sprechen regelmäßig miteinander. Deshalb gebe ich jedes Jahr viel Geld für die Reisen zu den Events aus. Ich mache das nicht primär, um der Realität zu entfliehen. Ich mache es vor allem, um alte Freunde wiederzusehen und Neue zu finden.

Inez, 29

Manchmal habe ich das Gefühl, eine ziemlich schlechte Freundin zu sein. Ich bin gerne unter Menschen, ich liebe meinen Freundeskreis, aber ich bin eben auch gerne alleine. Lieber spiele ich stundenlang irgendein Videospiel zur Entspannung, als mit Bekannten zu telefonieren oder mich in WhatsApp-Gruppen darüber auszutauschen, was gerade so in meinem Leben passiert. Das meine ich nicht böse. Ich interessiere mich dafür, was bei meinen Freunden passiert. Ich bin nur nicht so gut darin, Kontakt aufrechtzuerhalten, wenn man sich länger nicht gesehen hat, weil man in unterschiedlichen Städten wohnt.

Videospiele haben mir gezeigt, dass ich auch dann mit Freundinnen und Freunden etwas “unternehmen” kann, wenn wir nicht in der gleichen Stadt sind – und sie haben mich zu einer besseren Freundin gemacht.

Das änderte sich, als ich das erste Mal ein Online-Koop-Spiel mit einer Freundin spielte. Stundenlang ballerten wir uns durch First-Person-Shooter und diskutierten dabei nicht nur, wer welche Waffe einsetzt und die einzige Health Potion aufheben darf. Nein, wir sprachen auch über unsere Jobs, unsere Männergeschichten – eben alles, was in unserem Leben so passierte. So wie andere Menschen das am Telefon machen, nur dass wir nebenbei auf Pixelgegner schossen und wahnsinnig viel Spaß hatten.

Videospiele haben mir gezeigt, dass ich auch dann mit Freundinnen und Freunden etwas “unternehmen” kann, wenn wir nicht in der gleichen Stadt sind – und sie haben mich zu einer besseren Freundin gemacht.

Tim, 26

Star Wars ist seit 20 Jahren meine Leidenschaft. Angefangen hat alles im Jahr 1999 als Star Wars: Die dunkle Bedrohung in die Kinos kam. Die Kinder kamen verkleidet in die Schule. Einer trug einen Helm, der aussah wie der von Anakin Skywalker in dem Podrennen aus Episode 1. Ein Kumpel hat mir die Hasbro-Version von Darth Mauls Doppel-Lichtschwert geschenkt.

Danach habe ich mich immer tiefergehender mit der Welt von Star Wars beschäftigt. Irgendwann habe ich dann das “Troopen” für mich entdeckt – das Verkleiden als eine Stormtrooper-Einheit aus Star Wars, den Soldaten des galaktischen Imperiums. Vor zwei Jahren habe ich mir endlich ein Stormtrooper-Kostüm bauen lassen. Das war mein großer Kindheitstraum, den ich mir endlich erfüllen konnte.

In Zeiten, in denen es mir nicht gut ging, bin ich alleine zu “Troops” gegangen. Am Anfang musste ich erst mal warm werden, aber in der Star Wars-Familie bin ich immer willkommen. Es gibt hier Menschen aus allen Ecken der “Galaxis”: Studierende, Handwerker, Lehrerinnen, Erzieher.

Inzwischen bin ich Mitglied in der “German Garrison”, dem deutschen Verein des weltweit größten Star Wars-Kostümclubs mit über 10.000 Mitgliedern in aller Welt. Ich freue mich dieses Jahr, auf der Star Wars Convention in Chicago zu sein.

Die Erfahrungen, die ich bei den Treffen mache, helfen mir auch ganz persönlich. Sie geben mir Kraft im Alltag, wenn ich klein gehalten werde, wenn Leute mich komisch finden. Beim Troopen hat jeder Mensch die Chance, das zu sein, was er sein möchte, egal wo man herkommt oder wo man im Leben steht.

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