Marillenknödel und struktureller Rassismus: Flüchtlingskinder über Österreich

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie ‘Neue Nachbarn’, in der junge Geflüchtete aus ganz Europa Gastautoren auf VICE.com sind. Lies hier das Editorial dazu.


Foto: Trügerisches Idyll: Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland. Foto: ISAF Headquarters Public Affairs Office | Wikimedia Commons | Creative Commons

Videos by VICE

Eigentlich hätte dieser Artikel ohne Betroffenheitsjournalismus und typische Fluchtgeschichten auskommen sollen. Er hätte davon erzählen sollen, wie Österreich durch die Augen afghanischer Teenager aussieht, die es ganz alleine nach Europa geschafft haben. Davon, wie sie ihr erstes Weihnachtsfest erlebt haben. Wie sie Silvester gefeiert haben. Wie ihr erster Tag in einer österreichischen Schule verlaufen ist. Und davon, was sie an Österreich ändern würden, wenn sie könnten.

Ich wollte den jugendlichen Afghanen die Chance geben, ihre Fluchtgeschichte einmal hinter sich zu lassen und vom Hier und Jetzt zu erzählen. Davon, was sie sich für die Zukunft wünschen, wie sie sich ihr Leben in Österreich vorstellen und was sie nach der Schule einmal machen wollen. Es sollten Good News werden. Ganz geklappt hat es leider nicht – aber dazu später.

Seit Februar betreut der Verein Vita Nova 16 sogenannte “UMFs” (also unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) aus Afghanistan im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Die Jugendlichen wohnen in einem Haus im achten Bezirk in Wien auf 340 Quadratmetern in Zwei- und Dreibettzimmern. Dort werden sie rund um die Uhr betreut.

“Alle unsere Jugendlichen hier sind durch die Erlebnisse in der Heimat und durch die Fluchterfahrung schwer traumatisiert und brauchen bedarfsorientierte Therapieangebote”, erklärt mir Ruth-Maria Schwind, Obfrau und pädagogische Leiterin von Vita Nova, bei einer Tasse Kaffee im hellen Bürobereich des Hauses.

Dort warten wir auf Walid* und Jamal*, mit denen mich Ruth, wie sie von den Jugendlichen genannt wird, später alleine sprechen lassen wird. Walid ist 16 Jahre alt, Jamal schon 18, darf aber ausnahmsweise trotzdem noch hier wohnen bleiben. Beide sind vor einem Jahr nach Österreich gekommen. Allein, ohne Freunde oder Familie. Direkt nach Österreich wollten die beiden aber nicht. “Ich wollte in ein sicheres Land, habe Sicherheit für mich gesucht. Irgendwo, wo ich leben kann. Aber nicht speziell Österreich”, erzählt Walid.

Walid und Jamal besuchen wie die meisten anderen Jugendlichen im Haus derzeit ein Jugend-Kolleg der Stadt Wien, das eigens für nicht mehr schulpflichtige Flüchtlinge eröffnet wurde. “Das ist super dort. Wir gehen jetzt schon fast drei Monate dahin, lernen Mathematik, Deutsch und Englisch”, erzählt Jamal. Vier Stunden täglich, fünf Tage die Woche verbringen die Jugendlichen im Kolleg. “Es ist schon sehr viel zu lernen”, sagen sie.

Diese Collage hat einer der jugendlichen Afghanen gestaltet. Mit freundlicher Genehmigung durch Vita Nova

Walid war nicht von Anfang an im Kolleg in Wien. Zwei Monate hat er in Reichenau verbracht. Bevor er das Kolleg besuchte, ging er auf ein normales Gymnasium im achten Bezirk. “Im Fokus standen dabei eine sinnvolle Tagesstruktur und soziale Kontakte”, erklärt Ruth-Maria Schwind. Deutsch konnten Walid und Jamal nicht, bevor sie nach Österreich kamen. “Alles, was ich bis jetzt auf Deutsch sagen kann, habe ich im letzten Jahr gelernt”, erzählt Walid. Alles – das ist bereits sehr viel.

Neben Walid, Jamal und mir sitzt auch noch Ramazan mit am Tisch, der selbst vor sieben Jahren aus Afghanistan nach Österreich geflohen ist und bei Vita Nova unter anderem als Dolmetscher arbeitet. Tatsächlich muss er während des gesamten Interviews aber nur sehr wenig übersetzen.

Jamal und Walid erzählen mir Geschichten aus ihrem ersten Jahr in Österreich. Jamal spielt gerne Fußball, am Wochenende fährt er oft nach Melk, einen Freund besuchen. “Melk ist eine sehr schöne Stadt”, sagt er und ist leicht verwundert, als ich gestehe, noch nie dort gewesen zu sein. Noch etwas hat mir Jamal voraus: Weihnachten verbrachte er letztes Jahr mit einem Freund gemeinsam im Stephansdom. “Da waren wir bis drei Uhr morgens. Das war sehr schön”, erinnert er sich.

“Eigentlich wünsche ich mir einfach ein angenehmes, ruhiges Leben. Ein Leben in Sicherheit, irgendwo, wo es keinen Krieg gibt.”

Walid geht vier mal die Woche zum Volleyball-Training. “Ich möchte später einmal Geologe werden und die Erde erforschen. Ich will lernen, wie sie beschaffen ist und worauf man etwas bauen kann”, erzählt er außerdem. “Und falls das nichts wird, würde ich gerne Volleyballspieler werden”, erklärt er sein intensives Training. Jamal hat noch keine so konkreten Pläne: “Was ich mal beruflich machen will, weiß ich noch nicht. Vielleicht Automechaniker, oder Handytechniker. Aber eigentlich wünsche ich mir einfach ein angenehmes, ruhiges Leben. Ein Leben in Sicherheit, irgendwo, wo es keinen Krieg gibt.”

Dass manche Politikerinnen und Politiker in Österreich immer noch glauben, Afghanistan sei ein sicherer Herkunftsstaat, kann Ruth-Maria Schwind nicht nachvollziehen. “Wir haben zum Beispiel einen Jugendlichen im Haus, der war mit seinem fünfjährigen Bruder in Afghanistan auf der Straße unterwegs. Plötzlich ist ein Mann gekommen und hat dem fünfjährigen in den Kopf geschossen. Einfach so.” Strafverfolgung gab es in diesem Fall keine. Zurück blieb ein schwer traumatisierter Teenager.

Auch im Gespräch mit Jamal und Walid kommt immer wieder durch, dass die beiden Schlimmes erlebt haben. Trotzdem, oder gerade deshalb, können sie sich für vieles begeistern, was österreichische Gleichaltrige wohl kaum noch interessiert. “Zu Ostern haben wir Eier gespielt … ich meine Eier gesucht! Und wir haben ein Geschenk bekommen von unserer Chefin. Das ist eine sehr gute Tradition”, erzählt Walid lachend. Außerdem habe er gelernt Schnitzel zu braten, was, genau wie Marillenknödel, mittlerweile zu seinen Leibspeisen gehört.

Schließlich erzählt auch der Dolmetscher Ramazan von seinem ersten Erlebnis mit österreichischem Brauchtum: “Als ich vor sieben Jahren zu Weihnachten in Traiskirchen war, stand da plötzlich ein Baum mitten im Haus. Ich hab mir gedacht, die wollen den fix irgendwo im Garten einpflanzen oder so, damit er noch wächst. Dann haben die aber angefangen, den herzurichten und zu schmücken. Da hab ich mir schon gedacht, die Menschen hier sind verrückt. Was machen die mit einem Baum im Haus? Mittlerweile ist das für mich zu Weihnachten aber ganz normal.” Ramzan muss lachen, während er das erzählt.

Der zweite Teil der Collage. Mit freundlicher Genehmigung durch Vita Nova

Jamal erzählt von seinen ersten beiden Wörtern, die er in Österreich aufgeschnappt hat: “Das erste war ‘Scheiße’, das zweite ‘Wie geht’s?’.” – “Zum Glück nicht andersrum”, sage ich. Dann wird die Stimmung plötzlich ernster. Ob ich noch Fragen hätte, möchte der 16-jährige Walid wissen. Denn wenn nicht, würde er gerne etwas fragen.

“Hattest du während deiner Jugend oder Ausbildung je mit Ausländern zu tun?”, fragt er. Ich denke kurz nach. Zählen ehemalige Klassenkolleginnen und Klassenkollegen, deren Eltern oder Großeltern nicht aus Österreich stammten? Nein, Walid meint wohl etwas anderes. Saß jemals jemand mit mir in einem Seminar auf der Uni, der nicht in Österreich oder Deutschland zur Schule ging? Ich glaube nicht. “Ich habe in Wien einige Bekannte und Freunde, die nach Österreich geflohen sind. Und letztes Jahr habe ich Weihnachten gemeinsam mit meiner Familie und einem jungen syrischen Flüchtling gefeiert, der mit meinen Eltern befreundet ist”, erkläre ich.

“Und was ist deine Meinung über diese Menschen aus dem Ausland, die du kennen gelernt hast? Sind sie gute oder schlechte Menschen?”, fragt er. Ich antworte ihm, dass es für mich keinen Unterschied mache, woher ein Mensch komme, dass es wohl überall solche und solche gäbe.

“Das stimmt natürlich, was du sagst”, meint Walid. “Aber was ich nicht ganz verstehe und womit ich mich viel beschäftige, ist: Wenn irgendwer aus dem Ausland hier in Österreich einen Blödsinn macht, dann sind gleich alle Ausländer schuldig. Warum ist das so?”

“Viele der Jugendlichen verbringen den Großteil ihrer Freizeit hier im Haus. Sie sagen oft, dass die Welt da draußen ganz anders sei als hier drinnen.”

Ich bin überrascht. Auf eine solche Wendung unseres Gespräches war ich nicht vorbereitet. Wie erklärt man einem 16-jährigen Flüchtling, der vermutlich schon wesentlich mehr erlebt und durchgemacht hat als man selbst, den strukturellen Rassismus in Österreich? Gibt es dafür eine einfache Erklärung?

Walid erzählt mir von einer Situation im Park. Er und ein paar andere wollten dort Volleyball spielen. Sie hätten wie alle anderen gewartet, bis ein Platz zum Spielen frei geworden sei. “Als wir anfangen wollten zu spielen, haben einige Menschen begonnen, uns zu beschimpfen. Sie haben ‘Scheiß Ausländer!’ und ‘Schleicht’s euch!’ gerufen. Wir wollten nur Volleyball spielen”, erzählt Walid. Diesmal spricht er nicht auf Deutsch. “Scheiß Ausländer” habe ich dennoch verstanden.

Nach dem Interview erzähle ich Ruth-Maria Schwind davon. Sie wundert es nicht, dass Walid Ausländerfeindlichkeit zum Thema gemacht hat. “Viele der Jugendlichen verbringen den Großteil ihrer Freizeit hier im Haus. Sie sagen oft, dass die Welt da draußen ganz anders sei als hier drinnen”, sagt die Pädagogin.

Am Ende des Interviews fragen sie mich, ob sie noch eine Bitte äußern dürften. “Natürlich”, antworte ich.

Walid holt Luft und legt los: “Ich möchte die Menschen bitten, dass sie zwischen guten und schlechten Menschen unterscheiden und nicht zwischen Ausländern und Österreichern. Und denjenigen, die mich nicht verstehen können, oder nicht verstehen wollen, möchte ich nur sagen: Ich will genau wie ihr ein ruhiges Leben führen können, ein Leben ohne Krieg. Ich will wie ihr mein Leben genießen können. Ich bin nicht wegen eurem Geld hier. Ich habe miterlebt, was Krieg heißt, und brauche jetzt ein Leben in Ruhe. Verurteilt mich bitte nicht, ich habe auch so schon einen sehr großen Rucksack zu tragen. Wir sind alle verschieden, unsere Leben sind verschieden, unsere Rucksäcke sind verschieden schwer. Ich habe meine ganzen Sachen und mein altes Leben nicht zurückgelassen, nur für ein bisschen Geld. Was ich brauche und möchte, ist ein Leben in Ruhe.”

*Namen von der Redaktion geändert.

Unterschreibe hier die Petition des UNHCR, die Regierungen dazu aufruft, eine sichere Zukunft für alle Flüchtlinge zu garantieren.

Wer den Verein Vita Nova unterstützen möchte, kann das hier tun.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.