Das Leben auf Tour kann mit Sozialphobien die Hölle sein

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Das Leben auf Tour kann mit Sozialphobien die Hölle sein

Unsere Autorin spielt 200 Konzerte im Jahr und erzählt, wie es ist, mit psychischen Problemen auf Tour zu gehen.

Béatrice Martin ist eine Sängerin aus Montréal und steckt hinter dem Indie-Pop-Projekt Coeur de Pirate. In ihrem Essay spricht Martin über ihren Kampf mit Ängsten, psychischen Problemen und wie dies ihr Leben als tourende Musikerin beeinflusst.

Nach der Veröffentlichung einer Soloplatte musst du direkt Interviews geben. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber wenn du zuvor noch nie in deinem Leben ein Interview gegeben hast – und kein narzisstischer Psycho bist – dann ist Interviews geben, also im Prinzip die ganze Zeit nur über dich selbst zu reden, wirklich schwer. Journalisten stellen dir Fragen über dein Leben. Sie haben eine Meinung über deine Musik und darüber, wer du bist. Und wenn du gerade anfängst, ist diese oft nicht besonders hoch. Ich erinnere mich, dass ich in die Defensive ging. Ich las jede Kritik, die ich über meine Arbeit finden konnte und antwortete persönlich auf Journalisten und irgendwelche Leute. Das ist nicht klug. Und das war in der Zeit, bevor jeder bei Twitter und Instagram war.

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Was das Tourleben angeht, so ist der Job als Musikerin toll. Ich will nicht lügen, es ist genauso spaßig, wie du es dir vorstellst. Dieses Gefühl dauert allerdings nur eineinhalb Stunden deines Tages an: Die Zeit des Auftritts – der sich toll anfühlt. Die Realität sieht allerdings so aus: Wenn du Teil einer Band bist, dann bedeutet dies gerade zu Beginn deiner Karriere, dass du viel reist und wartest. Du bist mit sechs oder sieben anderen Leuten in einem Van eingepfercht, du isst das, was du bekommst und was du dir pro Tag leisten kannst. Oft hast du nur 20 Dollar am Tag. Die allgemeine Langeweile, die das ganze Warten mit sich bringt, kann dazu führen, dass du trinkst, Drogen nimmst oder dich anderen Lastern widmest. Denn manchmal hast du einfach nichts anderes zu tun. Ich spreche hier natürlich wieder nicht für jeden, aber wenn du gerade anfängst und in einer Band bist, dann versuchst du es so gut es geht zu genießen und da gehört dies leider auch dazu.

Als ich anfing, Musik zu machen, mit meiner Band vor Coeur de Pirate, war ich 18. Das sind die seltsamen, die prägenden Jahre. Wir waren zu sechst und all die anderen Leute waren ältere Musiker, die bereits viel getourt waren –  hauptsächlich unter furchtbaren Bedingungen. Wir mussten alle im selben Hotelzimmer schlafen. Unsere Gage reichte gerade für die Miete des Vans und wir aßen meistens in Fastfood-Läden – wenn ich es mir leisten konnte. Mir ging es schlecht. Ich nahm ungesund viel zu. Ich erinnere mich noch deutlich an diese eine Show in Tring-Jonction, in Quebec. Ich musste mit meiner Jacke im Raum über dem Veranstaltungsort schlafen. Meine Bandkollegen waren cool und ließen mich im Bett schlafen, während sie selbst auf dem Boden schliefen. Zu diesem Zeitpunkt war ich von der Vorstellung, professionelle Musikerin zu sein, nicht sonderlich begeistert. Ich war beeindruckt, was sie alles mitmachten, und dachte mir: "Ich weiß nicht, ob ich das machen kann."

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Irgendwie fand ich einen Weg. Als ich mein Soloprojekt begann, nahmen die Dinge recht schnell ihren Lauf. Mein erstes Jahr auf Tour war ziemlich surreal. Ich erinnere mich daran, wie ich in Frankreich von einem Festival zum anderen fuhr. Wir saßen zu viert in einem winzigen Auto und fuhren von der Normandie nach Belgien. Wir hatten es eilig, um es rechtzeitig zum Konzert zu schaffen. Ich hörte immer wieder meinen Song im Radio. Da wurde mir klar, dass etwas passierte. Ich wurde immer bekannter, aber wir tourten immer noch, als wäre nichts passiert. Ich bin froh, dass ich das machen konnte, es bringt einem wirklich Demut bei und es ist wichtig, diesen Prozess zu durchlaufen: Die Vans, in Motels schlafen, mit einer Menge Leute auf engem Raum zusammen zu sein. All das hilf nicht meinen Ängsten, aber zumindest war ich dadurch beschäftigt.

Ich hatte Glück und konnte ziemlich früh in meiner Karriere in einem Tourbus reisen. Das war hauptsächlich in Europa, nicht in Quebec oder Kanada. Das ist eine weitere Situation, mit der du klar kommen musst, denn dein Team wird zu diesem Zeitpunkt für gewöhnlich größer. Du lebst also mit 12 bis 15 Leuten in einem Tourbus. Du kratzt zusammen, was du an den Veranstaltungsorten bekommen kannst, und stopfst es in den Van. Was Körperhygiene angeht, so "wäschst" du dich manchmal mit Feuchttüchern, weil es in manchen Läden keine Dusche gibt. Manchmal kannst du im Bus kein großes Geschäft erledigen. In einer Schlafkabine zu schlafen braucht Übung und viele schlaflose Nächte, bevor du dich überhaupt daran gewöhnst, also haben alle manchmal ihre Launen. Wenn du ein geselliger Mensch bist und du kein Problem hast, dich an Fremde zu gewöhnen, dann ist das Tourleben unproblematisch. Aber wenn du so bist wie ich und schon ein Problem damit hast, bei einem Restaurant anzurufen, um einen Tisch zu reservieren, dann kann das Tourleben manchmal die Hölle sein.

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Ich glaube, es ist recht verpönt, über deine Probleme zu sprechen, wenn du einigermaßen erfolgreich bist. Zunächst einmal klingt es, als würdest du dich beschweren und in manchen Fällen stimme ich dem zu. Aber wenn ich meine Schwächen und Probleme verheimliche, mache ich die Sache für mich selbst noch schwerer. Du musst einige Dinge auf Tour beibehalten – das echte Leben, Hygiene (!), Selbstfürsorge – um es in einem Stück raus zu schaffen. Es ist für niemanden normal, solch drastische Gefühlsänderungen an einem Tag durchzumachen. Du wartest den ganzen Tag auf diese eine Stunde Livemusik. Wenn du an diesem Punkt bist, ist es hundertprozentiges Adrenalin; ein magischer Rausch. Und wenn es vorbei ist, geht es zurück in die Schlafkabine im Bus oder das leere Hotelzimmer.

"Ich bin eine Performerin, auch wenn ich Schwierigkeiten habe, dies zu akzeptieren."

Ich habe im letzten Jahr ungefähr 200 Konzerte gespielt und ich garantiere dir, dass ich teilweise nicht wusste, was mit mir passiert. Ich erinnere mich, dass ich im Februar 2016 von meinem amerikanischen Label fallen gelassen wurde und eine einmonatige Nordamerika-Tour anstand. Ich wusste nicht, ob die Konzerte voll werden würden, weil ich keine Unterstützung hatte. Ich hatte jeden Tag Angst, dass wir Geld verlieren würden; dass wir das für nichts machten. Eines Tages lief ich alleine in Seattle herum. Ich sah mich um und weinte einfach die ganze Zeit, während ich umherlief und versuchte, einen Sinn in dem zu suchen, was mir passierte. Ich schätze, die Aufs und Abs der Tour hatten mich eingeholt. Wir hatten gerade zwei Wochen damit verbracht, im mittleren Westen und den Prärien zu touren und dann waren wir endlich an der Westküste – ich hatte drastische Wetterveränderungen mitgemacht und fühlte mich niedergeschlagen. Ich konnte nachts im Tourbus nicht schlafen und meine Lungen hatten mehr zu tun als sonst, da ich auch noch Asthmatikerin bin. Es war scheiße. Ich konnte nicht einmal die Stadt oder meine Situation genießen.

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Es ist schwer, über persönliches Scheitern im Leben zu sprechen, aber ich glaube, dass wir uns als Menschen an komplizierte Situationen anpassen. Du denkst wahrscheinlich, dass in meiner Branche die Dinge die meiste Zeit gut laufen, aber es sind die schweren Phasen, die dich weiter bringen. An diesem Tag in Seattle wurde mir klar, dass ich die Art ändern muss, wie ich die Tour angehe – und das tat ich. Aber es dauerte Jahre, bis mir klar wurde, dass die Dinge nicht immer so laufen werden, wie als ich anfing. Ich wurde mir meiner Umwelt bewusster und begann meine eigene Routine, die sich auf mein Wohlbefinden konzentrierte. Ich hörte über lange Zeiträume auf zu trinken, um sicher zu gehen, dass ich ganz da war. Ich machte manchmal vier Mal am Tag Yoga, nur um etwas zu tun zu haben und jedwede bescheuerte Spannung loszuwerden. Es ist nicht einfach, rund um die Uhr von Menschen umgeben zu sein. Also ist es auf Tour wichtig, einen Ort zu finden, den du dein Eigen nennen kannst. Du fällst auch schnell in ein dunkles, einsames Loch, also musst du sichergehen, dass du dich an jemanden wendest, wann immer du dies für notwendig hältst. Es ist wichtig, zu wissen, dass du Hilfe finden kannst – und das kann recht schwer werden, wenn du eigentlich Probleme hast, um Hilfe zu bitten.

Im Moment bin ich nicht auf Tour. Ich musste an einen Punkt in meinem Leben kommen, an dem es nicht mehr magisch war, auf Tour zu sein. Der Rausch, den ich in diesen ersten paar Wochen hatte, der Wille, ein neues Publikum zu entdecken und zu erobern, ist vollständig verschwunden. Ich erinnere mich daran, wie es mich in Panik versetzte, den Klang von Flugzeugen zu hören oder meine Sachen für irgendeinen Ausflug zu packen. Der Gedanke, wieder auf Reisen zu müssen, versetzte mich in Todesangst. Vor ein paar Wochen spielte ich meine letzte Show in Toronto. Es war eine recht surreale Erfahrung, da ich so die Schnauze voll hatte vom Touren. Ich dachte, nichts könnte mich dazu bringen, dies zu vermissen. Und trotzdem fasste dieses letzte Konzert – ein tolles, wunderbaren Publikum – all das zusammen, was mich ausmacht: Ich bin eine Performerin, auch wenn ich Schwierigkeiten habe, dies zu akzeptieren.

Illustrationen von Chris Hull.

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