Ich bin neun Jahre alt und renne von der Schule nach Hause. Ich muss rennen, weil mich eine mich verfolgende Meute einholen könnten, wenn ich langsamer werde. Sie wohnen alle in einem Umkreis von vier Wohnblöcken und haben den gleichen Heimweg wie ich.
Obwohl unsere Wohnung nicht weit von der Schule entfernt liegt, zählt jede Sekunde. Ich renne über Rot, ein Auto kann gerade noch bremsen und die Fahrerin hupt wie wild. Meine Augen brennen und ich bin völlig außer Atem. Schließlich erreiche ich die Wohnung meiner Mutter, stecke den Schlüssel ins Schloss, schließe die Tür hinter mir. Erst nachdem ich die Vorhänge zugezogen habe, atme ich tief aus und Tränen schießen mir in die Augen.
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Die Grundschule war für mich ein einziger Albtraum. Schon äußerlich unterschied ich mich von den anderen: Ich war groß, moppelig und hatte kurze Haare. Zu den anderen Schülern fand ich keinen Draht und war deshalb ein einfaches Angriffsziel. Eine Sache gab mir jedoch Sicherheit und Geborgenheit: das Computerspiel Die Sims. Kaum war ich nach der Schule zu Hause angekommen, schaltete ich auch schon den PC an und legte los. Nur für die Hausaufgaben und fürs Abendessen machte ich eine Pause. So erschuf ich virtuelle Welten, in denen es kein Mobbing gab, in denen sich Eltern nicht scheiden ließen und in denen ich keine Loserin war. In Die Sims war ich kein hilfloses Kind, sondern eine Erwachsene – und wenn ich mich besonders schlecht fühlte, gab ich einfach die passenden Cheats ein, damit es mir an nichts mangelte.
Die Sims hat mein Leben erträglicher und mich irgendwie widerstandsfähiger gemacht. Egal, wie schlimm es mir in der Schule auch erging, zu Hause konnte ich ein virtuelles Leben führen, ohne gehänselt zu werden. Dieser Gedanke zauberte mir immer ein Lächeln ins Gesicht, wenn ich alleine im Schulgebäude herumsaß, wenn mir die Lehrer und Rektoren nicht glauben wollten oder wenn ich von meinen Eltern nach heftigen Albträumen im Arm gehalten wurde.
Auch später, als ich längst nicht mehr gemobbt wurde, half mir Die Sims, mit Problemen besser umzugehen. Selbst jetzt denke ich instinktiv an das Spiel, wenn sich meine Angststörung meldet. Und durch diverse Forenbeiträge anderer “Simmer” weiß ich, dass es nicht nur mir so geht.
Mobbing ist traurigerweise kein seltenes Phänomen: So ergab die aktuelle PISA-Studie, dass in Deutschland jeder sechste Schüler Opfer von Hänseleien wird. Und das Canadian Institute of Health Research zitiert in einer Studie einen Forschungsbericht, der besagt, dass Mobbing bei jungen Menschen verstärkt zu Suizidgedanken führen kann.
Was gegen die Kausalität von Gaming und Depression spricht
Immer wieder hört man von manchen Psychologen die These, dass Videospiele Depressionen verursachen können. Sally Merry sieht das anders. Sie arbeitet als Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der University of Auckland in Neuseeland und glaubt, dass es den kausalen Zusammenhang zwischen Depressionen und der vor dem Computerbildschirm verbrachten Zeit, der in anderen Studien ermittelt wurde, so nicht gibt.
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“Ich glaube nicht, dass sich wirklich durch irgendwelche stichfesten Daten belegen lässt, dass die intensive Computernutzung zu mehr Depressionen führt. Das heißt aber nicht, dass junge Menschen nicht zu viel vor dem Bildschirm sitzen können”, schreibt sie in einer E-Mail an Motherboard. “Wie so oft liegt der Schlüssel auch hier in der Dosierung und daran, wofür der PC genutzt wird.”
Wie ein neues Computerspiel dabei hilft, Angstzustände zu überwinden
Merry gehört auch zum Team hinter einem Fantasy-Rollenspiel, das jungen Menschen helfen soll, Angstzustände und Depressionen zu bewältigen. Genau wie bei Die Sims steuert man bei SPARX einen Charakter und lässt ihn mit der Welt interagieren. Das Ganze basiert auf der kognitiven Verhaltenstherapie, die Menschen dabei helfen soll, aus eigener Kraft psychisch ungesundes Verhalten abzulegen. Die Bewältigungsmechanismen, die man sich im Spiel aneignet, kann man dann auch im echten Leben einsetzen.
“So lernt man, sich zu entspannen, Probleme zu lösen, die eigene Stimmung aufzuhellen und negative Gedanken zu erkennen und zu bekämpfen”, schreibt Merry. “Außerdem enthält das Spiel Informationen zu Depressionen und wie man eine soziale Phobie bekämpfen kann”, erzählt sie. In anderen Worten: Das Spiel gibt jungen Menschen das nötige Wissen mit, um im Leben zurechtzukommen.
Merry betont, dass die Realitätsflucht in ein Computerspiel alleine nicht ausreicht. Trotzdem kann sie ein wichtiger Teil einer Therapie sein, der Menschen in einer akuten Situation weiterhilft. “Sich aufzuraffen und tatsächlich etwas zu tun, ist schon mal ein gutes Mittel, um mit schlechter Stimmung umzugehen”, erklärt Merry. “Man kann Computerspiele wie Die Sims spielen, sich mit Freunden treffen, kochen oder Sport treiben. Jeder Mensch sollte wissen, was da für ihn oder sie am besten funktioniert.”
Auch wenn ich es im echten Leben nicht geschafft habe, meinen Peinigern die Stirn zu bieten, so haben Simulationsspiele mir geholfen, die Kontrolle zu behalten, wenn sonst alles den Bach runterging. Daher kommt es auch heute noch vor, dass ich mich in angespannten Momenten in die virtuelle Sims-Welt flüchte.