Überall gegenwärtig und doch nicht greifbar. Irrational und wenig durchdacht, diese mystische Angst vor dem Mainstream. Von wem getragen, von wem gefürchtet? In Zeiten, in denen ein millionenstarkes Sensationspublikum die Sendezeiten bestimmt, Core Brands wie Vans Milliardenumsätze schreiben und Nyjah Huston seine Skateboards in einem 2,7 Millionen Dollar teuren Poolhouse unterstellt, sollten wir uns verabschieden. Verabschieden von der Verpflichtung, den Spirit unserer geliebten Randsportarten wie einen Heiligen Gral in unseren Kellern einzusperren, um ihn vor dem Rest der Welt fernzuhalten. Immerhin leben wir nicht mehr in den 80ern, sondern jagen virtuelle Fabelwesen mit einem Smartphone. Wir haben genügend Smileys für fast jede Gefühlslage und fühlen uns eigentlich nur noch durch retromodische Fehltritte mit einer Vergangenheit verbunden, die wir vielleicht gar nicht selbst erleben durften. Die Zeiten, in denen Interviews mehr getan haben, als nur Sponsoren zu danken, sind vorbei. Zeiten, in denen man auf Dopingtests verzichten musste, weil sonst drei Viertel der Surfing World Tour nicht mehr teilnahmeberechtigt gewesen wären, auch. Früher war alles besser? Sagen wir sicherlich auch in 25 Jahren. Massenmedien, Massensportart, Werbeblöcke und Gewinnspiele in der Halbzeitpause. Wird dir schon schlecht? Wir versuchen es anders.
Wir haben die Chance, an den Olympischen Sommerspielen teilzunehmen und fragen uns tatsächlich, ob das gut ist? Für wie besonders halten wir uns eigentlich? Die größte Ehre, die einem Wettkampfsport zuteilwerden kann, und der Beweis dafür, dass unsere Babys zu richtigen Männern gereift sind. Tag für Tag sehen wir sportliche Spitzenleistungen, die die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens wieder zu verschieben drohen, auch wenn wir dafür eher dem Internet danken sollten. Aber Ernährungspläne spielen sicherlich auch eine Rolle. Die großen Marken haben geholfen, Surfer & Skater zu Athleten zu formen. Zumindest äußerlich. Glatte Frisur, zugeknöpftes Polohemd mit Anti-Schweißfunktion und gedämpfte Skateschuhe gegen drohende Arthritis. Sponsorenverträge mit der sportlichen Seite einer Leidenschaft, die aus Rebellion geboren wurde. Skateboarding ist kein Verbrechen mehr und Surfing noch nie eins gewesen. Aber es kann alles sein, was du daraus machst, und das Gefühl eines Kickflips ändert sich nicht, wenn auch deine Großmutter weiß, wer Paul Rodriguez ist.
Videos by VICE
Dass das Exekutivkomitee in anonymer Abstimmung beschlossen hat, Surfing, Skateboarding, Sportklettern und ein paar andere Anfang August in das Olympische Programm zu integrieren, wissen wir bereits. Dass es zusätzliche 18 Events mit insgesamt 474 Athleten (Frauen gleich Männer) geben soll, die in einem noch nicht feststehenden Modus Operandi gegeneinander antreten sollen, auch. Dass wir die ganze Nummer einem Deutschen zu verdanken haben, der durch die sogenannte Agenda 2020 versuchen möchte, die Spiele zu entstauben, vielleicht nicht. Thomas Bach, seit 2013 Präsident des IOC, hat sich 40 Reformvorschläge ausgedacht, die die Olympischen Spiele vor dem Altersheim bewahren sollen. Durch die größte Evolution für das olympische Programm in der modernen Geschichte. Jung und hip sollen sie werden. Nachdem eine Studie aufzeigt, dass der durchschnittliche Olympiazuschauer 50 Jahre alt ist. Der durchschnittliche Surfer und Skater hingegen 15 bis 25.
Fest steht: Olympia steckt in der Krise. Wir nicht!
Aber wir sind Teil dieser Entwicklung. Und wir fürchten uns vor einer Inklusion, vor Ausverkauf und gleichfarbigen Trainingsanzügen. Und doch ertappen wir uns wieder und wieder bei dem Versuch, neue Wettbewerbsformen zu etablieren. Auf der skatenden Seite der Medaille, die „SLS Nike SB World Tour”. 29 Skate-Pros, sieben Tour-Stops verteilt auf alle Kontinente und das höchste Preisgeld in der Geschichte des Skateboarding. Ein globales Riesenevent. Live übertragen von Fox Sports und dokumentiert von unzähligen Medienanstalten rund um den Globus. Sportliche Spitzenleistung, elektrische Hebebühnen, Pausenentertainment und nervös verkabelte Moderatoren. Ablaufpläne, Handzeichen, Stehblöcke, Sendezeiten und die zu beachtende Zeitverschiebung. Die Liste dieser Inszenierung ist lang und wird noch länger, wenn man bedenkt, dass jeder einzelne Parcours extra zementiert wird. Aus den Katakomben angemieteter Eishockeyhallen sorgt eine Armada an Marketingmitarbeitern dafür, dass die Welt die richtigen Bilder sieht.
Die Momentaufnahme im professionellen Wettkampfsurfen heißt „World Surf League”. 34 Athleten surfen 11 Events an den schönsten, abgelegensten und wirtschaftlich fruchtbarsten Orten unserer Erde. Unangekündigte Dopingtests, Teams von Psycho- und Physiologen und noch mehr Preisgeld. Klar strukturierte Kompetenzbereiche, Medienakkreditierungen und eh man sich versieht, ist die Surfers Area zur Athlete Area geworden. Dort gibt es heute einen Power Protein Low Carb Berry Smoothie und die italienische Ausgabe der Vogue mit John John Florence. Ein Verbandsvorstand mit NFL-Hintergrund, gut geschminkte Moderatoren und Pressekonferenzen, die nicht über den Versuch hinausgehen, möglichst professionell zu wirken. Und dann ist es ruhig. Abends in den Hotels hört man höchstens ein paar Liegestütze.
Sag du’s mir! Sind wir bereit? Wie viel trennt uns noch von dem, was wir so fürchten? Und warum empfinden wir monetäre Synergieeffekte immer als direkte Bedrohung? Mehr Olympia heißt mehr Reichweite. Mehr Reichweite heißt mehr Konsumkapital. Mehr Werbung. Mehr Geld für Sponsoring von Talent und Finanzierungsmöglichkeiten für Surf- und Skatestätten aus öffentlicher Hand. Olympia hat die Sportart BMX 2008 vor dem Ruin gerettet und 2012 im Gegenzug dafür die höchsten Einschaltquoten geerntet. Ist das Milch und Honig? Geben und Nehmen? Die Gefahr von Fehldarstellung? Ich weiß! Wichtig ist doch, dass Surfing und Skatebarding im Olympischen Umfeld so navigiert werden, dass sie in authentischer Art und Weise genau das repräsentieren, was sie sind: Individuelle Auslegungssache. Oder fürchtest du eigentlich nur, dass diese Sportarten zugänglicher gemacht werden und dir durch weniger Nische die Coolness aus den Achseln gleitet?
Fakt ist, wir können deine überemotionale Angst vor Kommerzialisierung beruhigen. Denn wir sind mittendrin statt nur dabei. Sportlichen und wirtschaftlichen Wettkampf gibt es in beiden Sportarten seit über 40 Jahren. Künstliche Wavepools erst seit gestern. Deswegen gibt es zukünftig auch genau dann Wellen, wenn es die Fernsehübertragung möchte. Für alle, die immer noch zittern: einfach nicht einschalten! Denn viel schlimmer ist doch, dass Paul Rodriguez bei offiziellen Siegerehrungen auf der Bühne mehr Zeit mit seinem Telefon verbringt als mit dem gerade gewonnen Pokal! #sostoked
Wir haben Pro-Surfer und Pro-Skater nach ihrer Meinung zu Olympia gefragt:
Brian Atlas (US), CEO Street League Skateboarding:
„Es sollte eigentlich gar nicht mehr zur Debatte stehen, ob es gut oder schlecht ist, dass Skateboarding Teil der Olympischen Spiele in Tokio wird. Wir müssen dafür sorgen, dass die richtigen Leute an dieser Inklusion mitwirken und Skateboarding im olympischen Umfeld so navigiert wird, dass die Sportart authentisch präsentiert und umgesetzt wird. Die Kritiker wollen Skateboarding kleinhalten. Antiestablishment, die Angst vor dem Sell-Out, obwohl es gut für alle wäre, wenn die Einzigartigkeit unseres Sports noch mehr Menschen erreichen könnte und Skateboarding noch zugänglicher gemacht wird.”
Chris Cole, Pro-Skateboarder (US):
„Ich kann definitiv beide Seiten der Medaille verstehen. Aber eine olympische Goldmedaille in der Sportart Skateboarding klingt einfach wahnsinnig verlockend. Alles in allem hat sich Skateboarding seit Beginn des Internetzeitalters völlig verändert. Wir leben nicht mehr in den 80ern, als Skateboarding ein Schatz war, den es gegenüber traditionellen Sportarten, Nationalmannschaften und Wettbewerben zu hüten galt. Es wäre hirnrissig, wenn wir Skateboarding vor Olympia und dem olympischen Publikum fernhalten würden. Vor allem, weil es letztlich nichts an dem Gefühl ändern wird, den ersten Kickflip zu stehen oder mit seinen Freunden durch die Straßen zu pushen.”
Nyjah Huston, Pro-Skateboard (US)
„Ich finde diese Entwicklung genial und versuche, bis dahin psychisch und physisch an der Spitze meiner Sportart zu bleiben, um bereit zu sein, wenn es wirklich losgeht. Natürlich gibt es Hater. Natürlich sind Coaches in unserer Sportart nicht denkbar, weil Skateboarding viel zu individuell ist. Aber Skateboarding ist schon lange zu einer Sportart gereift, in der zwar immer noch der Spaß im Vordergrund steht, aber auch eine Industrie dahinter steckt, die mittlerweile ernstgenommen wird, weil wir skaten und 100.000 Dollar für einen Contest bekommen. Wenn die Sportart weiter wächst, haben mehr Kids da draußen die Chance, genau dem Traum näher zu kommen, den wir leben dürfen.
Curren Caples, Pro-Skateboarder (US)
„Ich bin nicht der größte Fan von Contests, obwohl ich mein ganzes Leben schon an Wettkämpfen teilnehme. Ich mag das Drumherum, die Stimmung, die Vorläufe, aber der eigentliche sportliche Wettkampf liegt mir nicht so. Trotzdem denke ich, dass Olympia eine geile Sache ist, die den Sport auf ein anderes Level bringt. Die Mainstream-Argumente der Kritiker sind ohnehin auch ohne Olympia bereits gewährleistet, wenn man sich anschaut, was Nike SB für Sponsorenverträge ins Game gebracht hat. Es wird sicherlich interessant zu sehen, wie Olympia damit umgeht, dass immer noch 90% der Teilnehmer Gras rauchen und eine große Party feiern.”
John John Florence, Pro-Surfer (HAW)
„Dass professionelles Surfen eine olympische Disziplin wird, ist eigentlich die größte Ehre, die einer Wettkampfsportart zuteilwerden kann und ich bin unfassbar heiß darauf teilzunehmen. Immerhin ist es das größte Sportereignis der Welt. Natürlich sind noch eine Menge Fragen offen. Ich bin sehr gespannt auf die Umsetzung. Künstliche Wavepools oder natürlicher Ozean. Wie qualifiziert man sich überhaupt? Auf jeden Fall würde ich gerne für Hawaii an den Start gehen!”
Conner Coffin, Pro-Surfer (US)
„Es wurde lang genug drüber geredet. Ich hoffe jetzt passiert es endlich. Ich denke, dass es einfach einen komplett neuen Spirit hervorbringt, in dem die Athleten eines Landes kameradschaftlich auf ein und dasselbe Ziel hinarbeiten. Es ist einfach die Richtung, in die sich professionelles Surfen entwickelt. Mittlerweile gibt es sogar Dopingkontrollen und das immer regelmäßiger. Die Leute verstehen endlich, dass es sich hier um einen richtigen Sport handelt, genauso wie beim Snowboarding. Es ist ein schmaler grad, aber Surfer entwickeln sich mehr und mehr zu richtigen Athleten.”
Kieran Perrow, World Surf League Commissioner und ehemaliger Pro-Surfer (AUS)
„Ich denke es ist verdammt aufregend für die Sportart Surfing an dieser Entwicklung teilzunehmen. Die meisten Pro-Surfer sind heiß auf eine Goldmedaille bei den Olympischen Spielen. Als sportverrückter Mensch ist dieses Event einfach der Gipfel der Sportlichkeit. Natürlich bringt der Surfsport einen absolut frischen Wind und ein junges Publikum mit in die Spiele. Sport ist einfach zum Teil Wettkampf, aber wird auch immer seine Wurzeln in Sachen Lifestyle bewahren können. Du kannst einer attraktiven Sportart die Coolness einfach nicht nehmen.”
Miguel Pupo, Pro-Surfer (BRA)
„Ich bezweifle, dass es für die Sportart überhaupt noch einen Unterschied machen würde. Der Surfsport ist momentan sowieso im in aller Munde. Jeder, fast überall, hat zumindest schon mal von der Sportart gehört. Ich sehe Olympia einfach als die Kirsche auf der Torte. Ich hoffe auf künstliche Wellenanlagen, in denen die Wettkampfbedingungen –und Voraussetzungen vereinheitlicht und somit fairer für alle Beteiligten werden. Damit wird der sportliche Kern des Surfens einfach präziser und kalkulierbarer gemacht, was wiederum die sportliche Performance vorantreibt. Es wird eine grandiose Show. Surfen wird natürlich immer auch ein Lifestyle bleiben, aber in erster Linie sind wir Athleten.”