Junge Menschen spielen am Wasser von Ilulissat, Grönland
Junge Menschen spielen am Wasser von Ilulissat, Grönland | Foto: Education Images | Contributor | Getty Images 
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Die Arktis ist bald voller Schiffe. Das halten Inuit davon

Das Eis in der Nordwestpassage schmilzt, der Handel kommt. Zeit, denen zuzuhören, die dort wohnen.

Es ist Zeit für ein Umdenken. Am Global Day of Climate Action veröffentlicht VICE ausschließlich Geschichten zur aktuellen Klimakrise. Hier erfährst du mehr über die jungen Klimaaktivistinnen aus der ganzen Welt und was du selber unternehmen kannst.

In den letzten zwei Jahrhunderten galt die Nordwestpassage, die sich über rund 1.450 Kilometer erstreckt, als unwegbar und ruhelos. Das unberechenbare Zusammenspiel von Eis, Schnee und Meer und das dichte Packeis des Meeres haben sich für viele Menschen als tödlich erwiesen, die versucht haben, die Nordwestpassage zu kartografieren, sie zu besiedeln oder dort Handel zu treiben.

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Doch nun wird die Passage immer verkehrsreicher. Wärmere Temperaturen ließen das Meereis schmelzen, so dass sie mehr Schiffe durchqueren können. Die gesamte Arktis entwickelt sich zu einem neuen Handelszentrum und damit zu einem geopolitischen Ziel, das Regierungen bereits umkämpfen. Je zugänglicher die Arktis wird, desto mehr mobilisieren sich auch Unternehmen, und das Militär und melden Interesse an, die Zugänglichkeit der Arktis zu kapitalisieren.

Darunter fällt auch der Schiffsverkehr, der sich durch den Rückgang der Eisdecke ankündigt.

In Paulatuk, einem abgeschiedenen arktischen Dorf in Kanada, erinnern sich Inuit-Älteste an riesige Eisberge. Einst trieben sie hier entlang der Nordwestpassage – der ikonischen arktischen Wasserstraße, die den Atlantik und den Pazifik verbindet.

"Heute sieht man so etwas gar nicht mehr", sagt einer der Paulatuk-Bewohner bei einem Workshop. Die Veranstaltung ist Teil einer Reihe, die die Perspektiven der Inuit zur Zukunft der Nordwestpassage dokumentiert. Die gemeinnützige Organisation Inuit Tapiriit Kanatami hat sie organisiert – ihr Ziel ist, die Rechte der kanadischen Ureinwohner zu schützen.

"Alles an unserem traditionellen Lebensstil verändert sich durch die Nordwestpassage", sagt ein Teilnehmer des Workshops. "Offene Meere, später Frost, früher Tau und längere oder sogar eisfreie Jahreszeiten … Alles wird sich verändern."

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Indigene Völker des Nordens befinden sich im Zentrum einer geopolitischen Klimawandel-Bombe, für die sie nicht verantwortlich sind. Sie sind seit Jahrtausenden auf die komplexen Strukturen des Meereises eingestellt. Nun erleben sie drastische Veränderungen in der Naturlandschaft und dem maritimen Versorgungsnetz, das sie ernährt.

Als jene Menschen, die die Küsten und Meereslandschaften am besten kennen, sollten die Rechte und Bedürfnisse der Inuit bei den Debatten über die Zukunft der Arktis oberste Priorität haben.

"Wir kennen die Gesetzmäßigkeiten der See", sagt Dalee Sambo Dorough, Vorsitzende des Inuit Circumpolar Council, eine NGO, die circa 180.000 Inuit in vier Ländern vertritt. "Jedes internationale Rechtsinstrument sollte unsere Ansichten und Perspektiven in den Vordergrund stellen", sagt sie gegenüber VICE News. "Alles, was im Arktischen Ozean und in allen Küstenmeeren passiert, ist miteinander verbunden, und das wissen wir."


Arktische Communitys haben die unbestreitbaren Auswirkungen der Klimakrise seit Jahrzehnten miterlebt. Die Arktis erwärmt sich inzwischen im Durchschnitt fast doppelt so schnell wie der Rest der Welt – und in einigen Gemeinden sogar dreifach. Das führt dazu, dass Wasserstraßen wie die Nordwestpassage jedes Jahr mehr Eis verlieren.

Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 sind die durchschnittlichen Temperaturen in der Arktis höher als sie in den letzten zehntausend Jahren gewesen sind. Dieser Trend zeichnete sich zuletzt bei der Rekordtemperatur von 38°C (100.4 F) im Juni dieses Jahres in Sibirien ab – inmitten verheerender Waldbrände.

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"Wenn der Klimawandel weiter fortschreitet (wie wir im Laufe der Jahre gesehen haben), wird es sich zuerst in der Arktis bemerkbar machen, sei es in den arktischen Gewässern oder auf dem Land. Die Inuit werden es als Erstes wahrnehmen, vor allen anderen", sagt Crystal Martin-Lapenskie, Präsidentin des National Inuit Youth Council, gegenüber VICE News.

Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) hat sich zum Ziel gesetzt, den Anstieg der globalen Temperaturen auf +1,5 °C gegenüber des vorindustriellen Niveaus zu begrenzen. Doch dieser Anstieg ist so gut wie unvermeidbar. Die nächstbeste Grenze ist ein Anstieg um +2 °C,  den wir ohne wesentliche Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2100 erreichen könnten.

"Für Inuit ist dieser Unterschied tiefgreifend", schreibt Natan Obed, Präsident der Inuit Tapiriit Kanatami 2019 in einem Kommentar. "Der Unterschied zwischen einer Welt mit +2 °C und einer mit +1,5 °C ist ein meereis-freier Sommer alle 100 Jahre anstatt mindestens einmal in 10 Jahren."

Solche schnellen Veränderungen haben tiefgreifende Folgen für das Leben und die Lebensgrundlagen der Inuit. Der schmelzende Permafrost – eine Schicht des Bodens, die das ganze Jahr über gefroren bleibt – verursacht Schäden an Häusern, von denen möglicherweise Millionen von Bewohnern der Arktis betroffen sind. Küstenerosionen und extreme Wetterereignisse haben bereits viele Inuit-Communitys dazu gezwungen, an neue Orte zu ziehen.

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Die auf den Eigenbedarf ausgerichtete Jagd und Fischerei versorgen viele Inuit-Communitys mit Nahrung und Einkommen – doch die wärmeren Temperaturen stören bereits die arktischen Nahrungsketten. In der alaskischen Stadt Kotzebue (auch bekannt unter dem Namen Qikiqtaġruk) ist die traditionelle Robbenjagd der Community stark gefährdet.

"Letztes Jahr gab es so viele Menschen, die einfach nichts fangen konnten, weil das Eis so schnell verschwunden ist", sagt Lance Kramer, ein Bewohner von Kotzebue, im Juli gegenüber VICE News. "Wir mussten kilometerweit laufen, um Eis zu finden und dort Robben zu jagen. Und selbst dann haben wir nicht bekommen, was wir brauchten."

"Das ist weder mir noch einem unserer Ältesten je zuvor passiert", so Kramer weiter.

Einige Studien sagen voraus, dass es innerhalb von Jahrzehnten im Arktischen Ozean praktisch kein Meereis im Sommer mehr geben wird.

Obwohl sich einige Communitys mehr auf Landtiere wie Rentiere stützen, sind die meisten Inuit-Traditionen stark mit Meeressäugern verwoben. Narwale, Weißwale, Grönlandwale, Ringelrobben und Walrosse sind nicht nur eine Quelle für Nahrung, Kleidung und Werkzeuge, sondern auch wesentlicher Bestandteil des rituellen Lebens der Inuit.

Doch da die Nordwestpassage und andere arktische Wasserstraßen immer zugänglicher für Schiffe werden, übt die Schifffahrt Druck auf anfällige Ökosysteme aus – und damit auch auf die damit verbundenen Communitys.

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"Schiffe stellen große Risiken für arktische Meeressäuger dar; darunter kollidierende Schiffe und Lärmbelästigung", sagt Donna Hauser, eine Meeresbiologin am International Arctic Research Center der University of Alaska gegenüber VICE News.

Laut Hauser sind arktische Meeressäuger "Sentinel-Arten", das bedeutet, dass sie vermutlich die ersten Tiere sind, die nachweisbare Folgen des Klimawandels erleiden. Das macht sie zu einer Art Vorbote dessen, was für die gesamte Artenvielfalt der Region zu erwarten ist.

Eine Zunahme der Schifffahrt birgt auch die Gefahr großer Ölkatastrophen und anderer Industrieunfälle. Leider ist dies nicht nur Hypothese, sondern Realität – das Exxon-Valdez-Unglück von 1989 spielt immer noch eine große Rolle für die betroffenen indigenen Communitys.

"Wir sehen die Nordwestpassage nicht länger als eine Route, die uns über unsere Communitys hinaus führt", sagt Nancy Karetak-Lindell, ein ehemaliges Mitglied des Parlaments des kanadischen Gebiets der Nunavut.

"Wir denken über unsere neue Erreichbarkeit nach, die sich in zunehmendem Verkehr, erhöhter Unfallwahrscheinlichkeiten und Ölkatastrophen niederschlägt."


Angesichts dieser immensen Herausforderungen entwickeln Inuit-Communitys kreative Ansätze, um die Risiken des Klimawandels abzuschwächen. Ein Beispiel dafür ist die Errichtung des nationalen Tallurutiup-Imanga-Meeresschutzgebiets, das sich über 108.000 Quadratkilometer am östlichen Eingang der Nordwestpassage erstreckt.

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Das Gebiet "spielt eine zentrale Rolle, um sicherzustellen, dass Nahrung und Ressourcen für diejenigen geschützt werden, die darauf angewiesen sind", sagt Martin-Lapenskie.

Weiter östlich will die von Inuit geführte Pikialasorsuaq Commission die biologische Vielfalt eines großen Freiwassers zwischen Grönland und Kanada bewahren.

Neben den vorhersehbaren negativen Folgen der Schifffahrt in der Nordwestpassage wollen Inuit-Communitys auch sichergehen, dass sie an den positiven Folgen der zunehmenden Handelsaktivitäten teilhaben können, dazu zählt auch der Tourismus.

In einem Workshop der NGO Inuit Tapiriit Kanatami waren die Teilnehmer oft begeistert von der Idee, Touristen in ihren Communitys aufzunehmen. Trotzdem äußerten sie auch Bedenken, dass die Besucher keinen Respekt gegenüber ihrer Kultur erwidern könnten – indem sie Grabstätten stören, Artefakte mitnehmen oder mit Drogen handeln.

"Sie wollen alle diese alten coolen Orte sehen, an denen unsere Vorfahren gelebt haben", sagt einer der Workshop-Teilnehmer aus Cambridge Bay, Nunavut. "Aber stören sie dabei etwas? Berühren sie etwas? Wir wissen es nicht."

Workshop-Teilnehmer aus vielen Communitys befürchten auch, dass "die Leute mit einer starken Meinung zur Inuit-Kultur nach Hause zurückkehren könnten. Darüber, was man tun oder lassen sollte, vor allem hinsichtlich der Robbenjagd."

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Diese Bedenken lassen erahnen, wie dringlich die Interessen der Inuit und das indigene Wissen sichergestellt werden müssen, wenn sich ihre traditionellen Ländereien entwickeln.

"Indigenes Wissen bedeutet, aus erster Hand zu erfahren, was man im Laufe der Generationen sieht, hört und macht, um zu überleben", sagt Martin-Lapenskie. "Die Inuit waren sehr offen gegenüber Veränderungen der Umwelt, von der Dicke des Eis bis hin zu den Wasserstraßen – das alles hat sich über viele Generationen gewandelt und wurde durch die Erzählkunst weitergegeben."

Martin-Lapenskie ist Teil einer neuen Generation von Aktivisten, die große Fortschritte in der internationalen Bewegung für Klimagerechtigkeit macht. Gemeinsam mit anderen Inuit-Jugendleitern betonte sie auf der letztjährigen UN-Klimakonferenz in Madrid die Notwendigkeit von Ernährungssicherheit, Infrastruktur und Transport für arktische Communitys. Ihre Botschaft gewinnt auch über soziale Medien an Bedeutung, trotz des mangelhaften Breitbandausbaus in vielen arktischen Gemeinden.

Diese Ansätze haben auch dazu beigetragen, die Signale der Klimakrise in der Arktis zu verstärken. Aber es gibt noch immer viel zu tun, um sicherzustellen, dass der Trubel in der Nordwestpassage die indigenen Völker der Region nicht weiter marginalisiert.

"Die Debatte über die Nordwestpassage wird meistens in Zusammenhang mit Handelsware geführt, die aus der Arktis zum Vergnügen und zur Nutzung für den Rest der Welt genommen wird", sagt Dorough. "Bis zu einem gewissen Grad kommt es denjenigen, die Versandzeiten und Benzin-Ersparnisse pro Tag berechnen, gar nicht in den Sinn, dass in dieser Region Menschen leben."

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Diese kurzfristigen Interessen, die gegen die tiefgehende Kulturgeschichte und Bodenschätze der Region abgewogen werden müssen, erinnern an die katastrophale Franklin-Expedition. Den Leitern Sir John Franklin und Sir Francis Crozier war die Arktis nicht unbekannt; sie hatten jahrelange Erfahrungen in der Region gesammelt. Dennoch war die Arktis nicht ihre Heimat. Eine Realität, die sich immer noch im eurozentristischen Namen "Nordwestpassage" widerspiegelt – die Wasserstraße als bloßer Durchfahrtsort.

Seit mehr als einem Jahrhundert liefern die Inuit die wichtigsten Hinweise auf das schreckliche Ende der Expedition. Sie redeten mit Überlebenden und fanden Überreste der Toten. Von diesem indigenen Wissen wollte in England aber niemand etwas hören. Im Gegenteil, es wurde brutal in einer Hetzkampagne abgelehnt.

Diese Marginalisierung des Inuit-Wissens ist noch heute spürbar. Einige der jungen Menschen, die an dem Inuit-Tapiriit-Kanatami-Workshop in Iqaluit teilgenommen haben, erwähnten, wie Franklin als "der Entdecker der Nordwestpassage" bekannt wurde, obwohl die Inuit die ganze Zeit davon wussten. Andere sprachen darüber, wie Älteste den Ort der gesunkenen Expeditions-Schiffe mündlich überlieferten: "Sie wussten immer, dass sie dort lagen. Ich glaube, sie haben nur darauf gewartet, gefragt zu werden."

Seit der Franklin-Zeit wurde die Nordwestpassage von vielen Nationen befahren. Das Meereis in der Region birgt immer noch Gefahren für seine Besucher, doch die größere Bedrohung ist zweifellos die Veränderung, die die Wasserstraßen durch den Handel erfahren. Nur wenige von uns haben die Arktis vielleicht besucht, doch unsere kollektiven Fingerabdrücke sind überall zu finden.

Das Tauen der Nordwestpassage zieht die Aufmerksamkeit vieler internationaler Stakeholder auf sich. Doch die Inuit sind nicht nur "Stakeholder", betont Dorough. Sie sind Rechteinhaber, die einen langfristigen Blick auf die Zukunft haben müssen, während andere nur auf das nächste Geschäftsquartal blicken.

"Die Inuit tragen die Verantwortung, jene Ressourcen zu schützen", erklärt sie weiter. "Das Land und die Gebiete zu bewahren, nicht nur jetzt, sondern auch für die kommenden Jahrhunderte."

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