„Man darf den Fußball nicht benützen, man muss ihm dienen.” Mit diesen Worten kritisierte Michel Platini Noch-FIFA-Präsident Joseph S. Blatter. Platini, der selbst Präsident der UEFA ist, äußerte damit seinen Unmut an der bevorstehenden Wiederwahl des Mannes, der über 40 Jahre hinweg ein System der Korruption und Vetternwirtschaft mitaufgebaut und betrieben hat. So weit, so logisch—und doch auch so scheinheilig. Michel Platini ist nicht gerade der reformierende, revolutionäre Fußballromantiker, als der er sich darstellt. Er ist Teil des Systems.
1992 hat der ehemalige Weltklassespieler Platini nach einer eben so kurzen wie erfolglosen Trainerlaufbahn als Nationaltrainer Frankreichs die Funktionärskarriere eingeschlagen. Zunächst fungierte er als sogenannter „VRP de luxe”—einer Art „Lobbyist des französischen Fußballs”, wie uns der französische Journalist Rémi Dupre auf Nachfrage erzählt.
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Platini pflegt beste Kontakte zu den wichtigsten Leuten der französischen Politik, Wirtschaft und natürlich des Sports. Dies verschaffte ihm beispielsweise die Rolle des Trägers der olympischen Flamme bei den Winterspielen 1992 in Albertville.
Am 2. Juli desselben Jahres steht fest, dass Frankreich die Weltmeisterschaft 1998 veranstalten wird. Wie bei Großveranstaltungen üblich, wird ein Organisationskomitee einberufen. Präsident François Mitterand setzt den Ex-Präsidenten des französischen Fußballverbandes FFF, Ferdinand Sastre, an die Spitze und erlegt ihm zugleich seinen Vize-Präsidenten auf: Michel Platini.
Es wird nicht das letzte Mal bleiben, dass Platini vom jeweils amtierenden französischen Präsidenten unterstützt wird. In seiner Rolle als Vize-Präsident des OK-Komitees vergisst Platini nicht, sich bei neu gewonnenen Freunden zu bedanken: Als Generaldirektor installiert er Jacques Lambert, einen ehemaligen französischen Regional-Politiker, der als Sicherheitsbeauftragter bei den Spielen in Albertville tätig war. Der aktuelle Chef des OKs für die EM 2016 ist übrigens, richtig geraten, Lambert.
1998 steht der damalige FIFA-Präsident Joao Havelange vor der Ablöse—der Brasilianer regierte den Weltfußballverband wie ein Pate. Dem mittlerweile 99-Jährigen wurde später Korruption im großen Stil nachgewiesen. Sein Generalsekretär war 17 Jahre lang Sepp Blatter.
Doch 1998 war Havelange sogar für die FIFA aufgrund seiner Schmiergeld-Affären nicht mehr tragbar. Nun schlug die große Stunde Blatters, der bereits 1994 auf den Thron schielte. Sein Konkurrent war der damalige UEFA-Präsident Lennart Johannson. Havelange beginnt bereits zwei Jahre im Vorhinein Blatter als Nachfolger aufzubauen, der sich im Wahlkampf eines weiteren prominenten Wahlhelfer erfreuen kann: Michel Platini.
Im Jänner 1998 teilt Platini Blatter mit, dass er in Betracht zieht, neuer Präsident zu werden. Abermals hat Platini einen mächtigen Unterstützer aus der französischen Politik auf seiner Seite: Präsident Jacques Chirac höchstpersönlich. Blatter handelt jedoch schnell und macht das, was für die Machtgewinnung notwendig ist: Er schlägt dem Franzosen vor, eine Allianz zu bilden. Platini willigt ein, Blatter macht es im März 1998 bei einer Pressekonferenz in Paris offiziell. Der Verfolger wird zum Kronprinzen.
„Ich weiß nicht, was in den letzten 30 Jahren bei der FIFA passiert ist. Das ist mir egal”, sagt Platini.
Laut Platini hat er sogar das Wahlprogramm von Blatter mit eben jenem gemeinsam gestaltet. Auf die Frage, ob er denn die Abgründe der Havelange-Ära beleuchten wolle antwortet Platini launig: „Wer nicht sündigt, schmeiße den ersten Stein. Ich weiß nicht, was in den letzten 30 Jahren bei der FIFA passiert ist. Das ist mir egal.”
Bereits während des Wahlkampfes propagiert Blatter, dass Platini im Falle eines Sieges den Posten des technischen Direktors einnehmen solle—ohne Ausschreibung, versteht sich. Johannson droht wiederum, dass er Platini, auch im Falle einer Niederlage mit aller Macht verhindern werde. „Es gibt 200 Leute auf der Welt, die das sehr gut könnten. Michel Platini ist ein netter Mensch, aber seine Eignung sehe ich nicht.” Es sollte nicht das letzte Duell der beiden Europäer bleiben.
Die „Wahl” gewinnt Blatter. Geldboten sollen in der Nacht vor der Wahl Blatters Sieg gesichert haben. Thomas Kistner beschreibt sie in seinem exzellenten Buch FIFA-MAFIA so: „Dass massiv Voten gekauft wurden, ist jedem Beobachter der Szene klar.”
Platini bekommt jedoch, aufgrund des von Johannsons initiierten Aufstandes gegen seine Person, keinen Posten—Blatter macht ihn daraufhin zu seinem in Paris sitzenden gut bezahlten persönlichen Berater. Vier Jahre später ist es dann soweit: Platini zieht ins FIFA-Exekutivkomitee ein und darf nun auch in offizieller Funktion die kriminellen Praktiken seines Schweizer Lehrmeisters abnicken.
2004 meldet Platini erstmals öffentlich Ansprüche auf den Posten des UEFA-Präsidenten an, Blatter möchte die lästigen Kritiker aus Europa endlich mit seiner Marionette ruhigstellen. Ein Jahr später wird dann auch die Kandidatur für 2007 erklärt. Doch Platini beginnt sich mit kruden Aussagen in der Fußballöffentlichkeit zunehmend zu diskreditieren. Was tun? Einfach Monsieur Le President fragen. Jacques Chirac stellt ihm Jean-Louis Valentin zur Seite.
Valentin ist Absolvent der Elite-Schule École Nationale d’Administration, erfahrener Politiker und Mitglied im Kabinett Chirac. Fortan ist er der Medienberater und Mastermind der Kampagnen Platinis. Johannson, der zu dem Zeitpunkt immer noch UEFA-Präsident ist, will den Handlanger seines alten Widersachers Blatter mit aller Macht verhindern, ist selbst jedoch gesundheitlich angeschlagen. Er möchte Franz Beckenbauer zu einer Kandidatur bewegen—dieser lehnt jedoch ab, also steigt er selbst noch einmal in den Ring.
Von seinem Lehrmeister Blatter weiß Platini, wo und wie man Wahlen gewinnen kann: in den kleinen Ländern. Er veranstaltet eine große Tour durch Osteuropa und wendet einen Trick an, mit dem bereits Blatter-Vorgänger Havelange seine Macht abgesichert hatte. Er verspricht, die Erweiterung des Kontingents an Startplätzen für osteuropäische Länder in UEFA-Bewerben. In der millionenschweren Champions League sollen osteuropäische Länder mehr Startplätze bekommen, das Teilnehmerfeld für die EM 2016 will er von 16 auf 24 Teams aufstocken. Genau das hat er nach der Wahl auch getan.
Einmal dürfte der Stratege Valentin jedoch unaufmerksam gewesen sein—plötzlich träumt Platini nämlich sogar von der Zusammenlegung von Champions League und UEFA-Cup und einem Klubwettbewerb mit 256 Teilnehmern. Nichtsdestotrotz zeigen sich Platinis neu gewonnene Verbündete in Osteuropa als loyal und bescheren ihm einen Sieg von 27 zu 23 Stimmen gegen seinen Widersacher Johannson. Ob der Schwede überhaupt eine reelle Chance gegen Platini mit seinen Unterstützern Blatter und Valentin hatte, ist mehr als fraglich.
Nach dem Wahlsieg beginnt Platini prompt, ihm Ergebene in Führungspositionen einzusetzen. Gianni Infantino ist genau wie Blatter Oberwaliser und wird Generalsekretär. Der Franzose William Gaillard, früher bei der UN tätig, wird Pressesprecher und wenig später politischer Berater Platinis. Für den ehemaligen französischen Liga-Chef Jacques Thebault, der Platini selbstredend maßgeblich bei seiner Kandidatur unterstützt hat, wird eine eigene Strategiekommission geschaffen, die die Anpassung der UEFA an die FIFA—also jenen Verband, gegen dessen Mitglieder wegen Korruption ermittelt wird und dem Blatter vorsteht—fördern soll.
Apropos Generalsekretär: Platini ist eng befreundet mit FIFA-Generalsekretär Jerome Valcke, der laut New York Times Schmiergelder im Zuge der Vergabe der WM 2010 von einem FIFA-Konto auf ein US-Konto überwiesen hat. Die beiden Franzosen kennen sich seit den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona, bei denen Platini Experte für Canal+ war, Valckes damaligem Arbeitgeber. Als Mittelsmann in Osteuropa fungiert der Ukrainer Grigori Surkis, ein Baumagnat aus Kiew. Nach der Unabhängigkeit 1991 wird er mittels Rohstoffgeschäften schnell zum Multimillionär. Zwei Jahre später kauft er dann Dynamo Kiew und wird Präsident des Clubs.
Surkis gilt als der wichtigste Stimmenbeschaffer Platinis für die Wahl 2007. Drei Monate nach eben jener wird die EM 2012 vergeben. Topfavorit ist Italien, Außenseiterchancen werden der Doppelbewerbung Kroatien/Ungarn eingeräumt, dem Duo Polen/Ukraine hingegen praktisch keine, auch weil die Kandidatur laut dem Report einer UEFA-Kommission inadäquat ist. Bereits im ersten Wahlgang gewinnt Polen/Ukraine. Man könnte es „Zufall” nennen—oder auch „bezeichnend”.
Genau das trifft auch auf die wohl abstruseste Entscheidung in der Geschichte des Weltfußballes zu. Die Rede ist von der Vergabe der WM 2022 nach Katar. Michel Platini stimmt als einer von 14 Exekutivmitgliedern 2010 für den Wüstenstaat, der das reichste Land der Welt ist (und wo seither Tausende Gastarbeiter für die Errichtung der WM-Infrastruktur sterben).
„Ich war in Südafrika, wo kein Fan ab 17:00 Uhr auf der Straße war, weil es kälter war als in England. Deswegen will ich nicht im Juli in Katar spielen.”
Die Entscheidung für Katar freut vor allem Nicolas Sarkozy—dieser drängte laut der französischen Wochenzeitschrift France Football Platini zu seiner Entscheidung. Katar ist in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Wirtschaftspartner Frankreichs aufgestiegen.
2008 gewann Sarkozy die Al-Thanis, die Königsfamilie, für erste Investitionen. Der katarische Sender Al-Jazeera kaufte für 90 Millionen Euro die Übertragungsrechte an der französischen Liga, seit 2012 ist der mittlerweile aufgrund Öl-Millionen führende Klub Frankreichs, Paris St. Germain, komplett im Besitz der Qatar Sports Investments (QSI). Die QSI ist weiters an einigen der größten französischen Konzerne wie Lagardere, Veolia oder Vivendi beteiligt. Im Gegenzug sind französische Unternehmen an Gasfeldern des Emirats beteiligt. Des weiteren ist Frankreich der wichtigste Waffenlieferant Katars, mittlerweile ist Katar außerdem einer der wichtigsten Energieversorger der Grande Nation.
So weit, so gut für Sarkozy. Doch auch Platini geht nicht nicht leer aus. 2012 steigt Platinis Sohn Laurent bei der QSI ein. Übrigens: Der frühere Arbeitgeber des Sohns ist Lagardere, an dem die QSI wie bereits erwähnt beteiligt ist. Lagardere wiederum besitzt die Agentur Sports Five, die den Großteil der Vermarktungsrechte an der EM 2012 hielt.
Ganz einig dürfte sich Platini mit sich selber übrigens nicht immer sein. Während er die WM 2010 mit den Worten „Ich war in Südafrika, wo kein Fan ab 17:00 Uhr auf der Straße war, keine Fan-Feste in der Stadt stattfanden, weil es kälter war als in England. Deswegen will ich nicht im Juli in Katar spielen”, kritisiert, stimmt er für Katar, die in der Bewerbung explizit angeben, die WM im Juli abhalten zu wollen. Schließlich rechtfertigt er sich mit dem Satz: „Ich habe eine Weltregion gewählt, die die WM noch nie hatte. Das war meine Philosophie.”
Für die FIFA-Präsidentenwahl 2011 bietet ihm der Katari Mohammed Bin-Hamann, der bislang die Wahlkämpfe Blatters finanziert hat, seine Unterstützung an um gegen Blatter in den Ring zu steigen. Platini lehnt ab, denn Blatter verspricht ihm, dass dies seine letzte Kandidatur sei und er Platini zu einem Wahlsieg 2015 verhelfen werde. Der Rest der Geschichte ist bekannt, Sonnengott Blatter konnte es nicht ertragen vom Thron zu steigen und kandidierte ein weiteres Mal, um wenige Tage nach der Wahl seinen Rücktritt zu erklären.
Nun sehen nach dem (noch nicht vollzogenen) Rücktritt Blatters einige Platini als prädestinierten Nachfolger, um die FIFA zu reformieren. Prädestiniert als Sukzessor ist er auch. Allerdings nur weil er das korrumpierende System Blatters von Grund auf erlernt hat und perfekt geeignet ist dieses weiterzuführen. Jedem, dem der Fußball wirklich am Herzen liegt—und der ihm wirklich dient, wie Platini so reformschwanger gesagt hat—, sollte hoffen, dass Platini so bald wie möglich einmal mehr dasselbe macht wie sein Lehrmeister Blatter: seinen Rücktritt bekannt zu geben.
Timo schreibt auch auf Twitter über Fußball: @TimoSchober