Du kannst dir bestimmt denken, worum es in dem Schmuddelfilmchen The Casting Couch geht. Eine junge Frau betritt für ein Vorsprechen das Studio eines Filmproduzenten. Kurz darauf wird sie zu ein paar sexuellen Gefälligkeiten im Gegenzug für die Rolle überredet. Neben Handwerkerbesuchen und Nachhilfestunden dürfte dieses Handlungsschema, wenn man überhaupt von einem sprechen möchte, zu den ausgenudeltsten Evergreens des Pornofilms gehören. Trotzdem sticht The Casting Couch klar aus der Masse schlüpfriger Produktionen hervor. Es handelt sich nämlich um einen Schwarz-Weiß-Stummfilm von 1924.
Das Werk ist einer von Tausenden sogenannten Stag-Filmen, zu deutsch etwa Herrenfilm oder Junggesellenfilm. Das sind früheste pornografische Werke, die von der Entstehung des Films bis zum Beginn des Goldenen Zeitalters der Pornografie Ende der 1960er Jahre produziert wurden. Wie The Casting Couch waren Stags Stummfilme in Schwarz-Weiß von etwa zehn Minuten Länge. Ein meist dürftiger Handlungsstrang hält darin ein Potpourri aus verschiedenen Sexszenen, Großaufnahmen von Geschlechtsorganen und manchmal auch Oralsex- sowie Ejakulationsaufnahmen zusammen. Eigentlich gar nicht großartig anders als in modernen Pornos.
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Das überrascht vielleicht: Schließlich herrsche die weitverbreitete (und nachvollziehbare) Vorstellung, dass sich die sexuelle Offenheit einer Gesellschaft linear entwickelt, sagt Albert Steg. Steg ist ein Filmesammler, der sich insbesondere für Stag-Filme interessiert. Viele können sich kaum vorstellen, dass bereits in den 1920ern Hardcore-Pornos gedreht wurden.
Diese Filme sind jedoch viel mehr als bloße Kuriositäten. Sie geben uns Einblicke in die Sexualität und das soziale Geflecht des frühen 20. Jahrhunderts, die kein Geschichtsbuch bieten kann. Sachen, die wir als durch und durch modern wahrnehmen, verbinden sie mit der Vergangenheit – und bringen sie uns dadurch näher.
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Fälschlicherweise werden Stag-Filme oft einfach als frühe Erotikfilme abgetan. Sie seien aber mehr als das, sagt der Medienhistoriker Joseph Slade. Stag-Filme waren illegal und wurden anonym fernab der Filmstudios gedreht. Es ist nicht ganz klar, wann das Genre entstand, aber die erste amerikanische Produktion dieser Art, A Free Ride, wird auf etwa 1915 datiert. Zur gleichen Zeit oder sogar früher wurden auch in anderen Teilen der Welt Pornos gedreht. Angeblich bereits 1907 entstand in Argentinien El Satario, und 1910 mit Am Abend der erste deutsche Hardcore-Streifen. Weil die Filme heimlich produziert wurden, lassen sich die Entstehungsjahre oft nur schätzen.
In den 1920ern kam das Genre in den USA dann richtig in Fahrt, als die ersten Kameras und Projektoren in Massenproduktion gegangen waren. Findige Unternehmer, wahrscheinlich unterstützt vom organisierten Verbrechen, filmten die Streifen im ganzen Land. Vorgeführt wurden die Werke dann in Männer-Bünden wie den Elks, Legionnaires oder Rotariern. Aber auch die sogenannten Fraternitys an den amerikanischen Universitäten organisierten “Stag Partys” und warfen Geld zusammen, um sich gemeinschaftliche Pornofilmabende leisten zu können. Das Geschäft mit den Filmchen war solide – so solide sogar, dass die Produzenten jahrzehntelang keinen Grund für irgendeine Innovation sahen. Lange Zeit waren Pornos stumm, chaotisch und farblos.
In den 50er Jahren erlaubten die für den Heimgebrauch gedachten Super-8-Kameras und -Filme, Produktion und Vorführung in noch kleinerem Rahmen. Der Gemeinschaftsaspekt des Stag-Films ging damit weitestgehend verloren. Neue Sexshops hatten Filmkabinen, in denen in Dauerschleife Super-8-Bänder mit Sexszenen liefen. Schließlich hielten auch Farbe und Ton im Porno Einzug, spätestens 1968 war der Stag-Film Geschichte. An seine Stelle waren abendfüllende Pornos mit elaborierteren Handlungen und neuen pornografischen Konventionen getreten. Statt wahllos zusammengeschnittener Sexclips, die man zwischen kurze Handlungsfetzen geprügelt hatte, gab es jetzt kohärente Sexakte.
Ende der 70er waren Stag-Filme dann vollends aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden, lediglich Historiker bewahrten sich ein reges Interesse an den Proto-Pornos. Manche argumentieren, dass diese Streifen Zeugnisse unserer authentisch-fröhlichen, wenn auch größtenteils versteckten Amateurporno-Vergangenheit seien. So zum Beispiel die Amateur-Forscher Al Di Lauro und Gerald Rabkin in ihrem 1976 erschienen Buch Dirty Movies: An Illustrated Histroy of Stag Film, 1915-1970. Ohne Frage stellen Stag-Filme ein wichtiges Kapitel in der Entwicklung moderner Pornografie dar. Sie liefern uns Einblicke in die Geschichte der Sexarbeit, den Platz der Frauen darin und darüber, wie Sex-Filme konsumiert wurden.
Nichtsdestotrotz ist es für Forscher schwierig, an diese Filme zu kommen. Es gibt keinen großen Katalog, in dem jedes jemals erschienene Schundwerk aufgelistet wäre, und es gibt kaum oder keine Angaben zu den Urhebern, was eine Befragung der Beteiligten unmöglich gemacht hat. Man weiß nicht, wie die verschiedenen Teile dieses Genre-Puzzles zusammengehören, oder ob Forscher diese überhaupt alle haben.
Bislang existiert lediglich ein bekanntes und ernstzunehmendes Stag-Archiv. Zwischen 1948 und 1956 kauften der renommierte Sexualforscher Alfred Kinsey und sein Team alle Kopien dieser Filme, die sie kriegen konnten. Wenn möglich notierten sie Details zu den Männern, die ihnen Werke verkauft hatten. Andere Filme bekamen die Forscher durch Kooperationen mit Polizeibehörden im ganzen Land, die ihnen in Razzien sichergestellte Kopien zukommen ließen. Heute umfasst das Archiv an der Indiana University Bloomington dessen Leiter Shawn C. Wilson zufolge etwa 1.600 Filme.
Das Archiv sei gut gepflegt, alle Filme in gutem Zustand, digitalisiert und es werde regelmäßig von Besuchern und Akademikern benutzt, so Wilson. Außerdem wachse die Sammlung stetig weiter. Immer wieder würden Menschen dem Institut Sammlungen zukommen lassen, die sie zum Beispiel in alten Lagerschränken ihrer Großväter finden. Aber Slade und andere Medienhistoriker, die für ihre Stag-Forschung auf das Archiv angewiesen sind, beschreiben es als schwer zugänglich. Außerdem würden viele der Filme dort bis zur Unbenutzbarkeit verfallen.
Die Universität selbst zeigt sich einerseits stolz auf die Sammlung, ganz so geheuer scheint sie ihr dann allerdings doch nicht zu sein. Erst einmal seit Bestehen des Archivs sind Filme daraus öffentlich vorgeführt worden. Das war 2003 anlässlich des 50-jährigen Bestehens von Kinseys Das sexuelle Verhalten der Frau.
Linda Williams, Filmwissenschaftlerin und Autorin des wegweisenden Buchs Hard Core, verweist darauf, dass “Kinsey nicht darauf aus war, dass die Filme seiner Sammlung repräsentativ für Pornografie” oder Sexualpraktiken jener Zeit sind. Er hat einfach wahllos alles gesammelt, was er kriegen konnte.
Laut Medienhistoriker Slade verfügen auch das Institute for the Advanced Study of Sexuality in San Francisco und das Museum of Sex in New York über ein Stag-Film-Archiv. Beide seien allerdings nicht katalogisiert und dementsprechend schwer finde man sich darin zurecht. “Keins der sechs großen Sexmuseen dieser Welt verfügt über einen signifikanten Bestand”, sagt er. “Ein Großteil der besten Archive befindet sich in privater Hand, auch wenn keins davon so umfangreich ist wie das von Kinsey.”
Diese Sammler unternehmen zwar größere Anstrengungen, um an neue Filme zu kommen, aber auch für sie bleibt die Suche oft ein Glücksspiel. Die einige hundert Stag-Filme umfassende Kollektion des verstorbenen Something-Weird-Gründers Mike Vraney begann mit einem Zufallsfund in einer Lagerhalle. Nico Bruinsma vom Vertrieb Cult Epics in Los Angeles hat den Großteil seiner Filme zufällig in Trödelläden entdeckt – wenn er nicht gerade komplette Sammlungen von anderen vermacht bekommen hat. Auch Steg kommt so an seine Filme.
Viele dieser Privatsammler mit eigenen Vertrieben wollen die Filme der Öffentlichkeit zugänglich machen, aber natürlich auch Geld damit verdienen. Deswegen präsentieren sie die Stag-Clips oft nicht in ihrer ursprünglichen Fassung. Stattdessen werden sie zu Loops geschnitten, wie in den bereits mehrere Teile umfassenden zweistündigen Videos Grandpa Bucky’s Naughty Stag Loops and Peeps von Something Weird.
Manche Vertriebe mixen sie auch mit moderneren Loops oder Clips von harmloseren Erotikfilmchen aus der gleichen Zeit. Sie legen Musik über die Szenen, verpixeln sie, denken sich neue Titel aus, geben keinerlei Details zu Herkunft oder Kontext und versehen sie Szenen mit “bescheuerten Kommentaren”, kritisiert Slade. Derartige Änderungen helfen vielleicht, die Werke massentauglich für ein modernes Publikum aufzubereiten, sie schlachten den Nostalgie- und Kuriositätenfaktor dieser Titel aus. Wer Stags sehen will, wie sie waren, oder sich dafür interessiert, sie zu erhalten, für den haben diese Kompositionen allerdings kaum einen Wert.
Nach Slades Schätzung dürfte etwa die Hälfte aller Stag-Filme, die jemals existiert haben, zerstört worden sein – sei es durch Razzien, Abnutzung oder Verwahrlosung. “Ich habe kaum noch Hoffnung, dass wir die Stag-Filme erhalten werden”, sagt Filmwissenschaftlerin Williams. “Niemand scheint dafür Geld ausgeben zu wollen.”
Je länger diese Filme versteckt, verstreut oder unsortiert bleiben, desto schwerer wird es für uns, auf einen rapide verschwindenden Teil unserer eigenen Gesellschafts- und Sexualgeschichte zuzugreifen und die Auswirkungen zu verstehen, die sie auf modernen Sex, Geschlechterbilder und Pornografie hatten.