Kalter Entzug in 27 Tagen: Wer im russischen Jekaterinburg den Weg aus der Drogensucht finden möchte, dem bietet „Stadt ohne Drogen” eine Pritsche und ein leeres Zimmer. Die Reha-Zentren der Nichtregierungsorganisation gelten als rabiat—und doch sind sie für viele Abhängige die letzte Chance.
Kristina kauert auf ihrer Pritsche. Mit ihrem fahlen Gesicht, dem flackernden Blick und den weiten Pupillen ist sie ein gespenstischer Anblick. An diesem Morgen, sagt sie, hat sie erst Heroin gespritzt, und danach „wint” gesnieft, die russische Variante von Crystal Meth. Jetzt kommen ihr zwischen den Entzugserscheinungen Gedankenblitze. Sie redet ununterbrochen, in Sätzen, die mitten im Gedanken abreißen. Mal geht es um einen Mann—Kristina nennt ihn „den Invaliden”—, bei dem sie gewohnt hat, und der ihr den Stoff besorgt hat.
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Dann denkt sie an ihr Kunststudium zurück. „Fast hätten sie eine Ausstellung mit meinen Bildern gemacht.” Und immer wieder drängt sich das Bild der Mutter nach vorn. „Sie hat mich so verachtet am Ende”, sagt Kristina. Und: „Ich habe ihr noch niemals danke gesagt.” Nach fünf Jahren im Drogennebel, sagt sie dann, ist ihr Blick vor ein paar Tagen in einen Spiegel gefallen. Sie erschrak so sehr, dass sie sich direkt einen neuen Schuss gesetzt hat. „Wie oft habe ich mich früher über die armen Junkie-Schweine lustig gemacht. Ich selbst, habe ich gedacht, mache das ja nur aus Spaß.”
Ab heute soll alles anders werden. „Isolator” heißt das Zimmer, das für die nächsten 27 Tage Kristinas Zuhause sein wird: Ein völlig leerer Raum mit einer Schlafpritsche und einer abgeschlossenen Zimmertür. Danach wird sie einen Schlafplatz in der Frauen-Wohngemeinschaft zugewiesen bekommen, die die Nichtregierungsorganisation „Stadt ohne Drogen” in dem Dorf Sarapulka nahe der Ural-Metropole Jekaterinburg unterhält. Hier gibt es Mehrbettzimmer, die spartanisch möbliert, aber voller Mädchenzimmer-Gemütlichkeit sind—mit Kuscheltieren und Nagellackfläschen in jeder Ecke, die Wände gepflastert mit Familienfotos, ausgeschnittenen Herzen und Ikonenbildchen.
Die jungen Frauen, die hier mit Hilfe von Kochen, Putzen, Wäschewaschen und Gartenarbeit den Weg zurück in den Alltag suchen, kämpfen jeden Tag mit den Folgen ihrer Sucht. Lisan zum Beispiel, deren Zehen sich verfärben, kann nicht mehr gehen. Sie hangelt sich von Wand zu Wand, zieht sich an Regalen und Türklinken hoch. Alina wird von den düsteren Erinnerungen an die Nächte heimgesucht, in denen ihr Freund sie im Drogenrausch prügelte.
Auch zwei Kinder leben in dem Haus: Anastasia hat ihren Sohn Nikita dabei, der wie sie selbst HIV-positiv ist und täglich seine Spritzen braucht. Katjas Tochter Mila leidet unter Kinderlähmung, sie muss getragen werden. Aber es gibt auch Heilungsgeschichten wie die von Mascha, die allen wie ein Wunder vorkommen: In Sarapulka verliebte sie sich in eine ihrer Mitbewohnerinnen. Heute sind beide clean und leben in einer eigenen Wohnung in Jekaterinburg. Der Aufenthalt in der Stadt ohne Drogen-WG war Maschas 16. Entzug.
Hier wird Kristina gegen einen geringen Selbstkostenbeitrag erst einmal bleiben können—so lange, bis sie sich stark genug fühlt für die Rückkehr ins Großstadtleben. Auch wenn das Monate oder Jahre dauert.
Doch vorher muss sie den Isolator überstehen—und was das bedeutet, das weiß jede der 15 jungen Frauen, die hier zurzeit Zuflucht gefunden haben: Entzugsschmerzen, Erinnerungsfetzen aus der Zwischenwelt des Rauschs, Angst, die in Wellen kommt, Scham vor der Welt der Nüchternen. Vielleicht schaut mal die ehrenamtliche Psychologin vorbei, oder der „Batjuschka”, der Dorfpfarrer. Auch kann es passieren, dass eine der anderen ein paar Worte durch die Tür flüstert, so etwas wie: „Halt durch”, „Das ist normal”, „Nur noch ein paar Tage, dann ist es vorbei.” Aber mehr Hilfe kann „Stadt ohne Drogen” nicht anbieten. Es ist eine Rosskur. Doch wenn sich nach 27 Tagen kaltem Entzug die Tür öffnete, dann ist die Freude über den ersten Sonnenaufgang, den ersten schlüpfrigen Witz und die erste selbst geschälte Kartoffel unbeschreiblich.
Eine Statistik führt „Stadt ohne Drogen” nicht, doch die hohe Rückfallquote ist kein Geheimnis. Denn die hohe Konsumentenzahl hat den Markt vielfältig, billig und tödlich gemacht: In Russland lebten in den vergangenen Jahren laut der staatlichen Drogenkontrollbehörde FSKN zwischen acht und neun Millionen Drogensüchtige. „Wir sind weder ein Therapiezentrum noch ein Krankenhaus”, sagt Dima, der in der Frauen-WG die Aufsicht hat. Er war früher selbst Junkie, und er gehört zu denen, die es geschafft haben. „Wir bieten einen Ort, wo man seinen Verstand zurückbekommen kann—nicht mehr und nicht weniger.”
Die Frauen-Wohngemeinschaft ist eine von vier Einrichtungen, die die Nichtregierungsorganisation für junge Süchtige eingerichtet hat. Die Methoden von „Stadt ohne Drogen” sind als rabiat verschrien. Doch sie sind das Effektivste, was angesichts von hohen Sterbezahlen und spärlichen Spendengeldern Abhilfe verspricht.
Auch Denis gehört zu denen, die es geschafft haben. Heute wohne er mit seiner neuen Freundin in seiner alten Jekaterinburger Wohnung, die er mit Freunden zusammen renoviert hat. Die beiden träumen von einer Familie.
Die Erinnerung an seine Jahre im Rausch ist in Denis’ Erinnerung wie im Nebel verschwommen. Heute weiß er kaum noch, wie seine Wohnung damals aussah—mit schmierigen Tapeten, blutigen Papiertüchern in allen Ecken, die Regale voller Plastikflaschen zum Ansetzen eines Gebräus, das man in Russland „Krokodil” nennt—billig in der Herstellung, und nach wenigen Monaten tödlich.
Klar hervor tritt dagegen der Moment, als plötzlich jemand mit der Faust an die Wohnungstür donnert. „Wir sind von ‚Stadt ohne Drogen’!”, brüllt eine Männerstimme. „Aufmachen, aber flott!” An diesem Tag sind sie zu zweit in der Wohnung, und haben sich gerade einen Schuss gesetzt. Was ihnen jetzt blüht, das wissen sie sofort: Die selbst ernannten Dealer-Jäger, die im Auftrag der Nichtregierungsorganisation in den Städten des Ural unterwegs sind, greifen so hart durch, als handelten sie in staatlichem Auftrag. Und so tun Denis und sein Freund das, was man in Russland tut, wenn die Lage aussichtslos ist, und die Welt vor den Augen davonschwimmt: Sie legen sich—Gesicht nach unten, Hände hinter dem Kopf verschränkt—auf den klebrigen Fußboden, und lassen alles mit sich geschehen. Sie lassen sich verhören, fotografieren, beschimpfen. Die Aktivisten von „Stadt ohne Drogen” haben einen deutschen Fernsehjournalisten dabei, der die Szene mit allen demütigenden Details festhält.
„Wie lange spritzt du schon Krokodil?”, wird Denis verhört. „Sechs Monate.” Der Mann betrachtet die ausgemergelte Gestalt, die fahle Haut, den prall verschwollenen Unterarm: Seit eine Nadel die Vene verfehlt hat, breitet sich ein eitriger Abzess aus. „Dieser kleine Mistkerl, dem gebe ich noch ein halbes Jahr”, flucht einer. Und dann, an Denis gewandt: „Was hast du jetzt vor?” „Ich will entziehen”, antwortet Denis gehorsam. Dann wird er von der Polizei als Drogenproduzent abgeführt. Wenige Stunden später ist er wieder auf freiem Fuß: Die Behörden interessieren sich für Großdealer, nicht für Verlierer.
Denis stürzt ins Bodenlose: Extasy, Krokodil, Speed—Codein, Amphetamine, Methylamphetamine. Doch die Razzia hat Denis nicht vergessen: Zwischen all den Beleidigungen und Flüchen glaubte er, ein Hilfsangebot herausgehört zu haben. Und der deutsche Journalist, auch das hat er sich gemerkt, hat ihm im Weggehen zugeflüstert, dass er seine Therapiekosten übernehmen würde. „Ohne das wäre ich heute tot”, sagt Denis. „Aber irgendwo in mir muss es einen Überlebensinstinkt gegeben haben.” In einem hellen Moment macht er sich auf in die Straße Belinskaja Uliza im Zentrum vom Jekaterinburg—zur Geschäftsstelle von „Stadt ohne Drogen”: Kahl geschorener Schädel, schwarze Ringe unter den Augen, eine von einer Schlägerei verschwollene Gesichtshälfte. Als sie ihn auf eine Waage stellen, wiegt er weniger als 50 Kilogramm.
Nach dem Entzug vermittelt die Organisation Denis in ein Projekt, in dem Drogensüchtige eine Kirche restaurieren. Das Dorf Bingi ist winzig, hier sind mit Schnitzwerk verzierte Holzhäuser wie Bauklötze in die Hügellandschaft gestreut, auf den Wegen spazieren Hühner, und Brennholzstapel verströmen einen würzigen Harzgeruch. In der Dorfkirche verputzt Denis die Wände, er montiert Fensterbänke und poliert filigrane Ornamente. In den Phasen des bohrenden Verlangens kommen ihm die Worte: „Gospodi, pomogi! Herr, hilf!” von allein. Über ein Jahr bleibt er dort, bevor er sich zutraut, seine vermüllte Jekaterinburger Wohnung wieder zu betreten.
Heute ist Denis clean. Er hat den Oberkörper eines Bodybuilders und eine feste Stelle in einem Handwerksunternehmen. „Ich habe unendlich viel Glück gehabt. Aber es ist nicht leicht. Das Verlangen ist immer noch da”, gibt er zu. Es hat Ausrutscher gegeben—aber keinen Rückfall. Was war es, das ihn vor dem Absturz bewahrt hat? „Ich kenne die Folgen”, sagt Denis. „Und ich wollte nicht zu spät zur Arbeit kommen.”